« Kapitel 8 Das vierte Buch Esra Kapitel 10 »
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[383] 1 Er antwortete mir und sprach: Das ermiß du bei dir selber; und wenn du siehst, daß ein Teil der angekündigten Zeichen vorüber ist, 2 dann wirst du erkennen, daß nun die Zeit gekommen ist, da der Höchste die Welt, die[1] er geschaffen hat, heimsuchen will. 3 Wenn in der Welt erscheinen werden[2]

Empörung[3] in den Ländern[4],
Verwirrung in den Völkern,
Anschläge[5] unter den Nationen;
Unruhen[6] unter den Fürsten,
Gährung[7] unter den Herrschern,

4 dann wirst du erkennen, daß dies die Dinge sind, über die der Höchste seit den Tagen geredet hat, die im Anfange zuvor gewesen sind[8]. 5 ’Denn wie alles, was in der Welt geschehen ist, einen [verborgenen] Anfang hat im Wort, aber ein offenkundiges Ende, 6 so sind auch des Höchsten Zeiten: ihr Anfang in Wort und Vorzeichen, ihr Ende aber in Thaten und Wundern‘[9]. [384] 7 Alle aber, die dann gerettet sind, und die dann haben entrinnen können, um ihrer Werke willen oder des Glaubens wegen, den sie bewahrt haben, 8 die sind es, die aus allen Gefahren, die ich dir verkündet, überbleiben: die werden mein Heil[10] schauen in meinem Land und auf meinem Gebiet, das[11] ich mir seit Ewigkeit her geheiligt[12]. 9 Dann lernen Ehrfurcht[13], die jetzt meine Wege mißachtet[14]; dann weilen sie selber in den Martern, die[15] sie verachtet und verspottet haben. 10 Denn alle, die mich im Leben nicht erkannt, als sie noch Wohlthaten von mir empfingen, 11 die mein Gesetz verschmäht, als sie noch die Freiheit hatten, 12 die die Thür der Buße, die ihnen damals noch offenstand[16], nicht bedacht, sondern verschmäht, die sollen nach dem Tode zur Erkenntnis kommen.

13 Du also frage nicht weiter, wie die Gottlosen gemartert, sondern forsche darüber, wie die Gerechten erlöst werden sollen, wem der Äon gehöre, um wessentwillen er sei und zu welcher Zeit[17].

Nochmals das traurige, aber wohlverdiente Los der Sünder.

14 Ich antwortete und sprach: 15 Einst[18] habe ich gesagt und sage jetzt und werde immer wieder sagen:

Mehr sind der Verlorenen als der Erlösten,
16 wie die Flut mehr ist[19] als ein Tropfen!

17 Er antwortete mir und sprach:

Wie der Boden, so die Saat,
wie die Blumen, so die Farbe;
wie die Arbeit, so das Werk;
wie der Landmann, so die Ernte. —

18 Denn es gab eine Zeit im Äon — da bereitete ich dem gegenwärtigen Geschlecht, ’das damals noch nicht da war‘[20], die Welt zur Wohnung; und damals widersprach mir niemand, denn niemand war vorhanden. 19 Nun aber sind sie, die ich gesetzt hatte in diese Welt, die ich bereitet hatte, an einen ewigen Tisch, auf eine geheimnisvolle ’Weide‘[21], die sind in all’ ihrem Thun entartet.

20 Da schaute ich meine Welt an: siehe, sie war verderbt[22];
und meine Erde: siehe, sie war in Gefahr

der Anschläge ’derer‘[23] wegen, die darein gekommen waren. 21 Das sah ich und verschonte davon mit Müh’ und Not[24] und rettete eine Beere aus der ganzen Traube und einen Sproß

[385] aus dem großen ’Walde‘[25]. 22 So gehe nun dahin die Menge, die für nichts geboren ist; gerettet aber bleibe meine Beere, mein Sproß, die ich mit vieler Mühsal bereitet!

Schluß.

23 Wenn du aber noch sieben Tage weiter wartest — faste aber an ihnen nicht[26], 24 sondern geh auf ein Gefilde voller Kräuter, wo noch kein Haus erbaut ist, und genieße dort allein Pflanzen[27] des Feldes; koste kein Fleisch, trinke keinen Wein, sondern [iß] allein Pflanzen, 25 und bete ohne Unterlaß zum Höchsten —, so will ich zu dir kommen und mit dir reden.

Viertes Gesicht.
Zions Trauer und Herrlichkeit.

26 So ging ich, wie er mir befohlen hatte, auf das Gefilde[28] Ardaf[29] und setzte mich dorthin unter die Kräuter; von den Pflanzen des Feldes aß ich und wurde satt von dieser Nahrung. 27 Als ich aber nach sieben Tagen einmal im Grase[30] lag, ward mein Herz bewegt wie zuvor. 28 Da that sich mein Mund auf, und ich begann, vor dem Höchsten zu reden.

Wo bleibt Israels Herrlichkeit?

Ich sprach: 29 Herr, du hast unter uns deine Offenbarung gestiftet[31], an unsere Väter in der Wüste, als sie aus Ägypten kamen und durch die ungangbare und unfruchtbare Wüste zogen; damals hast du gesprochen:

30 Du Israel, höre auf mich:
Same Jakobs, merkt auf meine Worte:

31 Heute säe ich mein Gesetz in euer Herz, das wird in euch Frucht bringen und ihr sollt dadurch[32] ewige Herrlichkeit[33] erwerben. — 32 So empfingen unsere Väter das Gesetz, aber[34] sie bewahrten es nicht; die Satzungen, ’aber‘[35] hielten sie nicht. So ging zwar des Gesetzes Frucht nicht verloren — gewiß, denn es stammt ja von dir —; 33 sie aber, die es empfangen, gingen verloren, weil sie nicht bewahrt hatten, was in sie gesät war. — 34 Nun aber ist doch die Regel: wenn die Erde Samen aufnimmt oder das Meer ein Schiff oder ein Gefäß[36] Speise oder Trank, und dann das Gesäte oder Hineingelassene oder Hineingethane zu Grunde geht, 35 so[37] bleibt doch auch dann die Stätte, dahinein es gethan ist, erhalten. Bei uns ’aber‘[38] ist es ganz anders geschehen: 36 wir, die das Gesetz empfangen, müssen wegen unserer Sünden verloren gehen samt unserem Herzen, in das es gethan ist; 37 das Gesetz aber geht nicht verloren, sondern bleibt in seiner Herrlichkeit[39].

[386]
Das Gesicht: Zions Klage.

38 Als ich dies im Herzen sprach, schaute ich mit den Augen hinter mich[40] und erblickte zur Rechten[41] ein Weib; die klagte und jammerte mit lauter Stimme und war tief bekümmert. Ihre Kleider waren zerrissen, und Staub[42] lag auf ihrem Haupt. 39 Da ließ ich die Gedanken fahren, denen ich bisher nachgehangen hatte, wandte mich nach ihr um und sprach zu ihr: 40 Was weinst du? warum bist du so tief betrübt[43]? 41 Sie sprach zu mir: Ach Herr, laß mich mein Leid beweinen und weiter[44] klagen, denn ich bin in bitterer Not[45] und tiefem Leid. 42 Ich sprach zu ihr: Was ist dir geschehen? sage es mir! Sie sprach zu mir: 43 Deine Magd war unfruchtbar und hatte nicht geboren, obwohl sie dreißig Jahre verheiratet war. 44 In diesen dreißig Jahren habe ich stündlich und täglich zum Höchsten gebetet, bei Nacht und Tag[46]. 45 Endlich, nach dreißig Jahren,

erhörte Gott deine Magd[47]
und sah meine Schmach an[48];
er achtete auf meine Not
und schenkte mir einen Sohn.

Da freute ich mich sehr über ihn samt meinem Mann und allen Bürgern der Stadt, und wir gaben dem Allmächtigen die Ehre[49]. 46 Dann zog ich ihn mit vieler Mühe[50] auf. 47 Als er nun herangewachsen, schickte[51] ich mich an, ihm ein Weib zu nehmen, und richtete ihm die Hochzeit[52] aus.


  1. qui bezieht sich auf αἰών.
  2. Im Folgenden eine selbständige Zeichen-Tradition.
  3. κίνησις Volkmar.
  4. locus = τόπος Volkmar; Aeth conmotio inter eius loca.
  5. מַהֲשָׁבוֹת das Wort vom Plane Magogs Hes. 38,10, oder coagitationes Erschütterungen.
  6. ἀκαταστασία Volkmar; dem Sinne nach giebt Aeth et inter se pugnabunt principes das Richtige.
  7. ταραχή Volkmar.
  8. Gemeint sind die Apokalypsen, die man von Adam, Seth, Henoch, Noah u. a. Urahnherren hatte.
  9. Die obige Übersetzung der schwierigen Stelle richtet sich an dem charakteristischen Punkte nach Aeth: sicut omne quod in mundo fit: initium in verbo (d. h. in Gottes Schöpferwort) et consummatio in manifestatione: sic et mundus altissimi: initium in sermone (d. h. in den V. 4 erwähnten Gottesworten, den Verheißungen an die Propheten) et in signis et in potentia, et consummatio in actione et in miraculo. Der Schluß hat etwa gelautet: αἱ ἀρχαὶ ἐν φωναῖς καὶ ἐν σημείοις, καὶ ἡ συντέλεια ἐν ἐνεργείᾳ καὶ δυνάμει. Diese Auffassung wird durch den Zusammenhang empfohlen. Vgl. Justin Ap. I, 12, 10: ὅθεν καὶ βέβαιοι γινόμεθα πρὸς τὰ δεδιδαγμένα ὑπ’ αὐτοῦ πάντα, ἐπειδὴ ἔργῳ φαίνεται γινόμενα, ὅσα φθάσας γενέθαι προεῖπεν· ὅπερ θεοῦ ἔργον ἐστί, πρὶν ἢ γενέσθαι εἰπεῖν καὶ οὕτως δειχθῆναι γινόμενον ὡς προείρηται.
  10. τὸ σωτήριόν μου.
  11. καὶ ἐν τοῖς ὁρίοις μου, ἃ ἡγίασα (Hilg.)
  12. Während der Verf. in den vorhergehenden Stücken von Himmel und Hölle gesprochen hat, haftet sein Blick hier an den irdischen Hoffnungen. Dies erklärt sich daraus, daß die (politischen) Zeichen V. 3 seinen Blick inzwischen auf sich gezogen haben. Solche und ähnliche Stellen zeigen, daß die Frommen jener Zeit beide eigentlich prinzipiell verschiedene Eschatalogien nicht deutlich auseinanderhielten; auch im N. T. liegen sie vielfach ineinander.
  13. θαυμάσουσι Respekt bekommen (Hilg.).
  14. παραχρῆσθαι (Hilg.).
  15. Lat eas bezieht sich auf βασάνους (Hilg.).
  16. Hebr. 12, 17.
  17. Dies ist dann der Inhalt der folgenden drei Visionen.
  18. 7,47.
  19. πλεονάζει (Hilg.).
  20. Daß die Welt, ehe Gott sie bereitete, noch nicht da war, ist doch selbstverständlich. Daher wird die Übersetzung des Lat wohl auf einem Mißverständnis seiner griech. Vorlage beruhen. Lat hat πρὶν ἢ γενέσθαι (Hilg.) fälschlich mit αἰῶνα zusammengenommen.
  21. Verwechselung von νόμος und νομός Weide Volkmar. — Die (für Menschen) unausspürbare Weide, der ewige Tisch, der nie Mangel hat, ist das wundervolle Paradies, dessen Bäume ewig Früchte tragen.
  22. Gen. 6,12.
  23. Syr habitatorum eius. Die Vorlage mag gelautet haben: ὑπὸ τῶν λογισμῶν τῶν ἐν αὐτῇ γενομένων und ist von Lat (Aeth Ar¹) mißverstanden worden.
  24. πάνυ μόγις mit großer Schwierigkeit (Lupton).
  25. Syr et plantam de silva multa (so auch Ar¹.² Aeth); bei Lat Verwechselung von ὕλη und φυλή (Volkmar).
  26. Weil jetzt die Trauer nicht mehr ziemt; wichtig für den Aufbau des Buchs; vgl. die Einl. S. 348.
  27. Aeth de fructu campi; vgl. Lat V. 26.
  28. quod bezieht sich auf πεδίον (campum).
  29. Ein Feld in der Nähe Babylons, oder vielleicht ein eschatologischer Geheimname: Name der Stätte, da das himmlische Jerusalem offenbar werden soll. Lat M Ardaf, C Ardas, A Ardad, S* Adar, S** Ardat, Syr Aeth Arphad, Ar¹ Araat, Ar² Ardat, Arm Ardab. Der Name ist bisher noch nicht mit Sicherheit identifiziert. אַרְדַּב ist ein orientalisches Getreidemaß, als Name eines Feldes wohl denkbar.
  30. χόρτος (Hilg.).
  31. Konstruktion (hebr. Inf. abs.) wie revelans revelatus sum 14,3.
  32. in eo bezieht sich auf νόμος.
  33. Die „ewige Herrlichkeit“, die Israel verheißen ist, ist nach dem Verständnis des Verfassers die von Licht und Glanz und Herrlichkeit strahlende Welt des Himmels = δόξα.
  34. Über nam 32. 33. 37 vgl. zu 4,34.
  35. Syr et praecepta et non perfecerunt ea, hebräischer Stil; vgl. 9,20. 11,44.
  36. vas aliu = σκεῦος ἄλλο, weil auch das Schiff ein σκεῦος (= כְּלׅי) ist.
  37. Wörtlich: so geht dies freilich zu Grunde; der Behälter aber, dahinein es gethan ist, bleibt bestehen; exterminentur und manent (richtiger wäre also maneant) ist abhängig von consuetudo est, ut.
  38. Vgl. zu 6,8.
  39. Das Gesetz bleibt, weil es von Gott, aus dem Himmel kommt, weil es
  40. Er hat sie nicht kommen sehen: so geheimnisvoll erscheinen die Himmlischen immer.
  41. Luk. 1,11. Mark. 16,5.
  42. Etwa κόνις = אֵפֶר.
  43. Er malt so sein mitleidiges Herz.
  44. προστιθέναι = הוֹסׅיף (Hilg.).
  45. מָרַת נֶפֶשׁ I Sam. 1,10.
  46. Hebräische Anordnung der Tageszeiten. Das unaufhörliche Gebet der Unfruchtbaren ist ein novellistisches Motiv.
  47. Griech. Konstruktion.
  48. Unfruchtbarkeit ist eine Schmach, Luk. 1,25.
  49. Dieser wohlüberlegte Zug soll begründen, daß das spätere Unglück nicht etwa ein Gericht Gottes über die Menschen war, die in ihrem Glücke seiner vergessen hatten.
  50. עָמָל.
  51. καὶ ἦθον „ich ging hin“. — Hier der Nachsatz; vgl. 3,18.29.
  52. epulum, etwa δοχή oder πότος = מׅשְׁתֶּה Hochzeit (nach Wellh.). Vgl. Matth. 22,2. Luk. 14,16.
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