Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Das Parlament in London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 63–64
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das Parlament in London.

Das Parlamentshaus in London.

Nach mehrmaliger, immer durch den Stand der russisch-türkischen Streitfrage veranlaßter Vertagung des englischen Parlaments, hat die Königin Victoria dasselbe endlich für nächsten 31. Januar einberufen. Der Zusammentritt eines englischen Parlaments ist stets ein Ereigniß, ein doppelt wichtiges ist er heute, wo in beiden Lägern, die Europa spalten, bereits glühende Kugeln gegossen [64] werden, wo eine Stimme hüben oder drüben im Parlament über Krieg oder Frieden in der Welt entscheiden kann!

So führt uns die Zeitgeschichte von der Donau an die Themse, immer sind es aber dieselben Hoffnungen, Wünsche, Sympathien und Interessen, denen wir begegnen, und im englischen Parlament, von dessen Sitzungspalast wir heute eine Abbildung bringen, wird das Alles so laut besprochen werden, daß es von dem Tajo bis zur Neva vernehmlich und verständlich sein wird. –

Das Parlamentsgebäude erhebt sich in dem westlichen Theile Londons, welcher den Namen Westminster führt und an Pracht, Eleganz und geschmackvoller Anlage alle übrigen Theile der Riesenstadt weit übertrifft. Neben der altehrwürdigen Abtei und Halle von Westminster gehört das Parlamentsgebäude zu den hervorragendsten Zierden diesen Stadttheils; an die Themse gelehnt, neben der großen und prachtvollen Westminsterbrücke steht es, als würdige Behausung der Volksrepräsentation in würdiger Umgebung, großartig da. Ausgeführt nach dem Brande von 1834, welcher die Sitzungsräume des Unterhauses in Westminsterhall vernichtete, wurde bei dem Neubau durchgängig der eigentlich englisch-gothische Styl festgehalten, so daß auch die zahllosen Verzierungen, Wappenschilder, Spitzsäulen, Statuetten, Knäufe, Fensterbögen und Portale, kurz Alles im genauesten und sorgfältigsten Einklang steht. –

Es giebt in den Augen der Engländer keinen größern Ehrentitel als das M. P., das vor einem Namen steht, und womit die Eigenschaft als Mitglied des Unterhauses, Member of Parliament, angedeutet wird. Auch umschließt das Parlament die gesammten Illustrationen des Landes, die glanzvollsten Namen aus allen Ständen der Gesellschaft. Sie Alle drängen sich zur Politik, zur Führung der innern und äußern Staatsgeschäfte, und kein Volk der Erde hat zu keiner Zeit eine so ununterbrochene Folge großer Staatsmänner und Redner aufzuweisen gehabt wie das englische. Und jeder Lorbeer muß im Parlament erkämpft werden.

Die Anfänge der englischen Verfassung, mit ihnen das Parlament, fallen in die früheste Zeit zurück; das Unterhaus (das Haus der Gemeinen) entstand jedoch erst im 13. Jahrh., als die Städte mächtig zu werden begannen, und die Bürger sich neben den Rittern und Lords geltend machten. Bei den häufig ausbrechenden Zwisten zwischen den Königen und deren mächtigen adeligen Vasallen, verfehlte das Unterhaus nicht, je nachdem es zur Bewilligung von Geld und Mannschaften in Anspruch genommen wurde, seine Rechte beträchtlich zu erweitern. Blutige Verfassungskämpfe blieben dabei nicht aus, selbst Königsblut wurde vergossen, ehe die Zeit der ruhigen Reformen kam, durch welche sich jetzt England, vor allen Staaten Europa’s auszeichnet. Die letzte dieser Reformen fällt in’s Jahr 1831, und wird hauptsächlich dem Lord John Russel, der auch jetzt wieder Minister ist, verdankt. Sie wurde nicht ohne schweren und langjährigen Kampf gegen die aristokratischen Elemente des Parlaments errungen, und ein ähnlicher Kampf steht wiederum für unsere Tage bevor, wo abermals durch Erweiterung des Wahlrechts eine Parlamentsreform betrieben wird.

Das englische Parlament zerfällt in das Ober- und Unterhaus, und wird alljährlich vom Staatsoberhaupte einberufen. Das Oberhaus besteht aus etwas mehr als 400 Mitgliedern, geistlichen und weltlichen Peers; die geistlichen Peers sitzen kraft ihres Amtes darin; von den weltlichen sind die Engländer erbliche Peers, die Schotten und Irländer dagegen durch ihre Standesgenossen gewählte. Das Unterhaus besteht aus ca. 660 Abgeordneten. Bei der Achtung für alterworbene Rechte ist in der Zusammensetzung des Unterhauses das Mißverhältniß eingetreten, daß manche kleine im Laufe der Zeit herabgesunkene Ortschaften stärker vertreten sind, als die mächtigst aufgeblühten Städte des Landes. Auch gegen diesen Uebelstand sind die Reformbestrebungen gerichtet. Gegenwärtig ist das Unterhaus aus den Ritterschaftsdeputirten der Grafschaften, den Abgeordneten der Städte und denen der Flecken zusammengesetzt, zu deren durch direkte Wahl erfolgte Erwählung im Ganzen ungefähr eine Million Wähler mitwirken. Das Wahlrecht in den Grafschaften besitzen alle Freibesitzer, welche 10 Pfund Sterling reine Rente haben, ebenso alle Pächter auf 20 Jahre bei 50 Pfund Sterling reiner Rente. In den Städten ist Wähler, wer Haus-, Fenster- oder die gesetzliche Armensteuer zahlt, oder aus einem Hause die Rente von 10 Pfund Sterling bezieht.

Wie die ganze englische Verfassung, so ist auch das Parlament etwas durch die Zeit Gewordenes, daher nicht frei von sonderbaren Formen und Förmlichkeiten. Bei einem Besuche im Oberhause gewahrt man dies alsbald. Da sitzt der Lord Groß-Kanzler im schwarzen Talar und großer Perrücke auf dem Wollsack, wahrscheinlich um die Wichtigkeit dieses Naturprodukts für die Nation anzudeuten; vor ihm liegt der große goldene Scepter, ihm gegenüber sitzt der Sprecher ebenfalls mit mächtiger Perrücke. Die geistlichen Peers erscheinen in ihren Chorhemden, die weltlichen in gewöhnlicher Kleidung, dabei der nachlässige, ungenirte englische Zuschnitt, die Bequemlichkeit, das Phlegma, welche so weit gehen, nicht einmal das Haupt während der Sitzung zu entblößen. Der größte Theil der Peers ist von respektabelm Alter, sie können für sich durch Bevollmächtigte abstimmen lassen, sie können auch bei Anwesenheit von nur drei Mitgliedern gültige Beschlüsse fassen.

Das Unterhaus zeigt ein weit lebhafteres Bild, wozu die größere Mannigfaltigkeit der politischen Fraktionen wesentlich beiträgt! Der Wollsack für die Minister, die Perrücken sind auch hier vorhanden, daneben aber mehr Laune, mehr Lebhaftigkeit, mehr Feuer, stürmische Verhandlungen und Abstimmungen. Das Unterhaus hat das Recht, seinen Sprecher (Präsidenten) selbst zu wählen, ihm auch muß jede Geldbewilligung, ehe sie an das Oberhaus gelangt, vorgelegt werden; die Minister dürfen nur das Wort ergreifen, wenn sie zugleich Mitglieder des Unterhauses sind, so daß also ein Minister-Peer daselbst nie sprechen kann. Zum Abstimmen ist die Anwesenheit von mindestens 20 Mitgliedern erforderlich.

Die Sitzungen beider Häuser beginnen in der Regel erst gegen 5 Uhr Nachmittags, wie denn überhaupt das Leben in London eigentlich erst in den Nachmittagsstunden beginnt. Der späte Beginn dieser Sitzungen, die sich oft bis zur Mitternachtsstunde, je nach der Wichtigkeit des Gegenstandes bis zum grauenden Morgen verlängern, trägt zu deren eigenthümlichen Gepräge nicht wenig bei. Dem Herkommen, nicht aber der Verfassung nach, sind sie öffentlich, durch den Druck veröffentlicht werden die Verhandlungen erst seit 1771. Bis dahin war die Veröffentlichung bei schweren, selbst barbarischen Strafen untersagt, und wer da denkt, das englische Volk habe seine Freiheiten ohne langes und schweres Kämpfen und Ringen erobert, ist in starkem Irrthum befangen.

Jetzt ist die Oeffentlichkeit ein so gesichertes Gut, daß man sagen kann, das ganze englische Volk wohne stündlich den Verhandlungen seines Parlaments bei. Wenn die großen politischen Fraktionen, die Tories (konservative), die Whigs (gemäßigte Reformers), und die Radikalen, auch Chartisten genannt, (entschiedene Reformers), die so gut organisirt sind, daß jede immer unter einem in ihrem Namen handelnden und die Angriffe eröffnenden Führer steht. wenn diese großen Fraktionen im Parlamente aneinander gerathen oder den Kampf mit den Räthen der Krone beginnen, so sorgen die Stenographen, Reporters, Redacteure und Drucker, kurz alle Räder, die bei einer Zeitung ineinander greifen, dafür, daß ehe die Reden im Parlament kaum noch beendigt sind, sie außerhalb fast schon gelesen werden. Der verhängnißvolle Dampf spielt auch hier seine Hauptrolle. Dann überrascht uns vielleicht binnen Kurzem eine telegraphische Depesche: „Das Ministerium Aberdeen-Russel ist im Unterhause in der Minorität geblieben!“

Ein solcher Fall bedingt in England den unabweislichen Rücktritt eines Ministeriums, und müßte zur Stunde als die Erklärung der englischen Nation betrachtet werden: Die russisch-türkische Frage wird durch Kanonenschüsse gelöst!