Bilder von der Ostseeküste. Memel

Textdaten
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Autor: Ludwig Passarge
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Titel: Bilder von der Ostseeküste. Memel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 552-555
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Bilder von der Ostseeküste.[1]

Memel.
Von L. Passarge.

Die deutschen Provinzen Ost- und Westpreußen könnte man die „Niederlande“ des polnisch-russischen Hinterlandes nennen. Sie bilden das Mündungsgebiet zweier großen Ströme, der Weichsel und der Memel, und sind dadurch zur natürlichen kommerziellen Herrschaft über ihr weites Hinterland berufen. In der That beruht die Bedeutung Danzigs fast ganz auf der Ausfuhr des polnischen Weizens und der Wohlstand Memels auf dem Waldreichthum der russisch-polnischen Binnenländer, welche, durch die Memel und einige Kanäle bis in die Nähe von Odessa erschlossen, ihre Hölzer dem Norden zusenden. Königsberg, in der Mitte zwischen Danzig und Memel gelegen. halb eine Getreide-, halb eine Holzhandelsstadt macht sich durch seine Eisenbahnen das südöstliche Hinterland pflichtig. während es die russischen Hölzer auf einem alten Flußkanal erhält, welcher die Memel mit dem Pregel in Verbindung setzt. So darf sich denn keine dieser drei Städte beklagen; jeder ist ihr Theil zugemessen.

Memel ist also die Holzhandelsstadt des deutschen Ostens, und das Holz wird ihr in ungeheueren „Traften“ (offenbar das englische drift) zugeführt, welche die Flößer jedoch „Jallen“ nennen; sie gleichen unübersehbar langen Seeschlangen, darauf oft ein halbes Hundert von Menschen rudert, wohnt, kocht, geigt, tanzt oder sich sonst des Lebens freut. Aber anders erscheint eine solche Jalle auf dem Memelflusse, oder dem Minge-Drawöhne-Kanal und dem Kurischen Haff, wo der Wind zuhause ist und die Wellen sie zerschlagen. Die Bildung solcher Traften die

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Memel. Originalzeichnung von R. Aßmus.

[554] Verbindung der Hölzer und ihre Beförderung ist eine ganz besondere Kunst, die erlernt sein will und ihren Meister fordert. In Memel selbst werden die endlich glücklich angekommenen Hölzer an das Land gezogen, gereinigt, aufgestapelt und zerschnitten. Wohl eine halbe Meile lang ziehen sich in Schmelz, der südlichen Vorstadt Memels, die Holzgärten hin, jeder mit einer Windmühle, deren Flügel die Cirkelsägen bewegen und so das Rohmaterial verladungsfähig machen. Der Wind ist in der That (nächst dem bekannten klingenden nervus rerum) die treibende Kraft in Memel.

Als wir einst in einer binnenländischen Stadt durch die Straßen gingen und der Wind uns die Regenschirme aus der Hand riß, meinte ein Memeler, in seiner Heimath würde man das nur einen Zephyr nennen. Zuweilen staut auch das Wasser auf und tritt über die Ufer der Danje. Als drittes Element könnte man den Sand der Kurischen Nehrung drüben nennen, welcher das Fahrwasser und den Hafen verdirbt und oft in großen Wolken bis in die Straßen von Memel fliegt. Und was, um die Vierzahl der Elemente voll zu machen, das Feuer betrifft, so genügt ein Funke, um in den weiten Holzlagern eine Feuersbrunst zu entzünden, deren Widerschein weit in die See hinein leuchten möchte. Und in der That war es so in dem Schreckenswinter von 1854, gerade damals, als, während des englisch-russischen Krieges, Memel den allein offenen Verbindungshafen mit Rußland bildete, die Magazine mit Waaren überfüllt waren und das Feuer den größten Theil der Stadt in Asche legte.

Seitdem ist sie nun längst wieder groß und schön erstanden. Behaglich breitet sich unser „Klein-London“ an dem Ostufer des Wassers aus, von dem man nicht weiß, soll man es das kurische Haff oder die Memel nennen; schöne Brücken führen über die Danje, welche mitten durch die Stadt fließt und von dem schattigen Tauerlauken kommt. Große Kirchen sind aufgebaut mit hohen Thürmen, die lutherische, reformirte, littauische, katholische und englische Kirche; denn Memel ist, wie Seestädte meist, von vielen Fremden und Andersgläubigen besucht: jeder kann hier nach seiner Façon selig werden, zumal man doch in erster Reihe die Seligkeit nach kaufmännischer Façon erstrebt. Was aber das rein irdische Dasein betrifft, so herrscht hier der englische Ton vor: der Thee hat den Sieg über den Kaffee davongetragen, Portwein und Porter über den französischen Rothwein und das Bier. Zuweilen vereinigen sich alle Interessen in dem sogenannten „Wasserpunsche“, dessen aus dem Holzstapelplatze Ruß importirtes Recept so lautet: Setze einen Kessel mit Portwein aufs Feuer und gieße Kognak langsam nach. Weßhalb aber dieses Getränk Wasserpunsch heißt? Es soll gut sein, ihn auf dem Wasser zu trinken. Der Fremde wird schwer mithalten können, so lange er nicht durch das „Klima“ Memels genügend vorbereitet ist.

Die Memeler sind geborene Geschäftsleute. Darum klagte mir auch ein Buchhändler, der fast ausschließlich mit Papier handelte und trotzdem Bankerott machte, daß hier die schöne Litteratur nur allzu oft durch praktische Handelslitteratur, Wechsel u. dergl. ersetzt werde. Trotzdem sitzen die Kaufleute nicht immer in ihren Komptoirs oder halten sich in der Nähe der Flachswage auf, deren Windfahne aus einem Bündel Flachs besteht. Die Stadt ist reich an den schönsten Spaziergängen, und die Memeler sind ein Wandervölkchen. Ihr schönstes Ziel ist der etwa drei Kilometer entfernte Leuchtthurm, der das „Tief“, die Verbindungsstraße zwischen Haff und See, beleuchtet und dem bedrängten Schiffer den ruhigen Hafen und die Nähe freundlicher Menschen verkündet; ich meine jene tüchtigen, allezeit thätigen Lootsen, welche unausgesetzt von der „Kickbake“ in der Stadt, oder von dem Leuchtthurme schauen und niemals zögern, ihr Leben einzusetzen, wo es gilt, ein gefährdetes Schiff zu erreichen und es durch das Tief in den Hafen zu steuern. Seitdem ich wiederholt mit Lootsen die norwegische Küste umfahren und diese immer ernsten, stillen und freundlichen Menschen beobachtet und liebgewonnen habe – und unsere deutschen Lootsen sind wahrlich nicht weniger zu preisen – will es mir scheinen, daß es keinen Lebensberuf gebe, der eine schwerere, aber auch keinen, der eine so große und dankbare Aufgabe stelle, wie der dieser Männer, deren Todesmuth immer der Rettung fremder, unbekannter Menschen gilt, und die, fast alle verheirathet, Weib und Kind gleichsam gering achten, wenn es die Pflichterfüllung gilt. Und diese Menschen sind alle von hoher Bildung: sie sprechen mehrere Sprachen, verstehen sich auf Mathematik – ein Wissen, das sie sich meist auf der Memeler Navigationsschule angeeignet haben – und blicken dabei so einfach und mild wie mit Kinderaugen.

Es kommt freilich vor, daß selbst die Lootsen nicht auf die See können: da hat der Schiffer sich selbst zu helfen: er muß beim Einlaufen namentlich darauf halten, daß die drei „Baken“, eigenthümliche spitze, aus Eisenstangen oder Holz bestehende thurmartige Gestelle, sich für sein Auge decken. Denn nur so lange, als dieses der Fall, befindet er sich in der sichern Fahrstraße. Eine kleine Verschiebung der Baken bedeutet für ihn Aufrennen und Scheitern. In solchen Augenblicken stehen oft Hunderte von Menschen am Ufer, in der Nähe des Leuchtthurms, oder auf der „Nordermoole“, soweit Sturm und Wogen hier ein Verweilen gestatten, und starren in den schäumenden Aufruhr, durch den der Schiffer seinen Weg zu nehmen hat. Wie viele Schiffe liegen hier nicht im Grunde!

„Wir sahen heute vom Leuchtthurm aus ein unglückliches Schiff scheitern; ein Boot rettete 13 Mann und dann schlug es um, und wir sahen sie alle vor unseren Augen umkommen“ – so schreibt die Gräfin Voß am 11. September 1807, in jenem unglücklichen Jahre, da der preußische Königshof sich in Memel befand und man am Abend die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ von Schiller las.

Als es sich im Frühjahr 1855 darum handelte, das abgebrannte Memel wieder aufzubauen, wurden 300 belgische Ziegelarbeiter engagirt; ein Dampfboot sollte sie nach Memel bringen. Aber es lief auf der Nordermoole auf und versank mit Mann und Maus.

Aber solche Katastrophen bilden doch die seltene Ausnahme. Wie prächtig segeln die meisten Schiffe in den ruhigen Hafen ein und lassen Segel nach Segel fallen! Zuweilen stürzen sie, vom Sturmwind gejagt, pfeilschnell dahin. Andere fliehen wie vor einem Wolfe, der sie verfolgt. Ich hatte bei meinem letzten Besuche des Leuchtthurms ein anderes Bild. Ein esthnischer Schmuggler, angeblich von der Insel Oesel, kam durch das Tief gezogen, leicht, elegant, wie eine Möve; ganz bedeckt mit Segeln, als gelte es, auch den kleinsten Windhauch aufzusaugen. Etwas Reizenderes von Schiff habe ich nie gesehen. Ich mußte an einen Schwan denken, der seine Flügel im Winde entfaltet. Und diese Leute kommen viele Meilen weit über die stürmische See gefahren, um sich in Memel mit Spirituosen zu versehen und sie in Rußland einzuschmuggeln. Meist glückt es ihnen, sei es im Dunkel der Nacht, sei es durch Bestechung der dem „Wotki“ und dem Silberklange sehr zugänglichen russischen Zollwächter. Im Falle des Mißlingens kommen sie nach Sibirien. Trifft ein russischer Zollkutter sie auf hoher See, so gilt es, sich schleunigst der Contrebande zu entledigen. Die kostbaren Fässer mit Rum und Portwein werden über Bord geworfen: „man ist vom Sturmwinde verschlagen, treibt seit Tagen steuerlos auf hoher See“. Die Zollbeamten lächeln, fischen die treibenden Fässer auf und – betrinken sich bis zur Sinnlosigkeit. Die unglücklichen Verschlagenen benutzen den ersten besten Moment und machen sich davon. Diese Leute sprechen nur esthnisch, eine Abart des Finnischen; aber in Memel giebt es doch ein paar Leute, welche selbst diese Sprache verstehen.

Ja, wenn die russische Zollgrenze nicht wäre, welche den nördlichen Zipfel Ostpreußens wie eine chinesische Mauer von dem natürlichen Hinterlande abschließt und der Stadt Memel den Athem benimmt! Was ist nicht nach dieser Richtung hin alles gesprochen, gewünscht und geschrieben! Aber Rußland bezieht seine Haupteinnahme aus den Grenzzöllen, und so lange dieses der Fall, wird es sich gegen einen freien Grenzverkehr sträuben und wird auch der preußische Schmuggler nicht aussterben, der trotz aller Hindernisse und fast immer mit Lebensgefahr die zu schmuggelnden Waaren über die Grenze schafft. Jahrelang hat einst die „Rothbrust“ (littauisch raudons kruttinis), so genannt nach seiner rothen Weste, die russischen Zollbeamten und Kosakenpikets an der Nase herumgeführt. Der Schrecken, welchen ein anderer Schmuggler, Adomeit, um sich verbreitete, war so groß, daß sein Name genügte, um eine ganze Truppe in die Flucht zu schlagen. Einst traf er einen Kosakenposten, der auf ihn anlegte. „Weißt Du nicht, daß ich der Adomeit bin?“ rief er ungeduldig. Aber der Soldat schoß ihn todt.

[555] Jetzt ist das „Geschäft“ ganz in den Händen irgend eines Juden, welcher nahe der Grenze einen Krug besitzt, Verträge mit den Kaufleuten abschließt, die Schmuggler besoldet und für Alles aufkommt. Seine Verbindungen auf russischer Seite reichen oft bis zu unnahbaren Höhen.

Ein gewöhnliches Mittel, um die Grenzwächter zu täuschen, ist, daß man eines der längs der Grenze aufgestellten Alarmsignale anzündet. Während die Russen demselben folgen, ziehen die Schmuggler an einer andern Stelle über die entblößte Grenze. Wird die Schmugglerbande betroffen – oft angezeigt von diesseitigen Konkurrenten – so entsteht eine förmliche Schlacht, in welcher die Russen nicht selten unterliegen.

Auch mit einer besonders raffinirten Schlauheit wird operirt. Handelt es sich z. B. darum, einen Ballen feiner Lederhandschuhe über die Grenze zu schaffen, so verpackt man die für die linke und rechte Hand bestimmten in besondere Ballen und bringt sie an verschiedenen Stellen über die Grenze. Wird ein Ballen beschlagen, so kauft ein Eingeweihter die so gut wie werthlose Waare auf und vereinigt später beiderlei Handschuhe zu richtigen Paaren.

Wahrhaftig, was will der „vielgewandte“ Odysseus gegen die Schlauheit dieser Schmuggler sagen, deren Klugheit und Pfiffigkeit alles Aehnliche in den Schatten stellt!

In neuerer Zeit hat sich der Spieß gleichsam umgedreht. Deutschland hat seine Grenze gegen die Einfuhr von Rindvieh und anderen Thieren gesperrt, um das Einschleppen der Rinderpest zu verhüten. Statt Manufakturwaaren nach Rußland hinein schmuggelt man jetzt Vieh aus Rußland hinaus.

Man kann in Memel in kein Geschäft treten, keinen Schritt in seine Umgebung thun, ohne von der russischen Zollgrenze zu hören oder doch an sie zu denken; darum gehört sie auch in ein Bild von Memel hinein. Im Westen hingegen liegt Alles frei und offen da, wogt ernst die See, ziehen die hochbordigen Schiffe aus und ein und füllen ihren Hohlraum mit unzähligen Stäben, Balken, „Wagschoß“ und andern zugerichteten Hölzern, deren Bestimmungsort meist England, oft direkt Australien oder Südamerika ist.

Wie eine große weiße Schlange dehnt sich drüben das schmale Dünenband der Nehrung hin, dessen Strand auch auf unserem Bilde rechts angedeutet ist; eine höchst eigenthümliche Welt des Sandes, in welcher die Dünen bis sechzig Meter Höhe aufragen, immer nach Osten weiter wandern und sich zuletzt in das Haff stürzen („ersäufen“ nennen es die Fischer); wo das Leben todt und der Tod lebendig ist, am Ufer des Haffs aber der goldene Bernstein liegt und von großen Dampfbaggern herauf geholt wird. Nachts leuchtet auch diesen Arbeiten elektrisches Glühlicht.

Wir können auch vom Leuchtturm weiter nach Norden durch die Plantage wandern, wo beim sogenannten Försterhäuschen die Memeler reizende Villen erbaut haben und der flache, sandige Seestrand zum Baden einladet, im Norden aber die „Holländer Mütze“, eine dunkle Waldhöhe, eine weithin sichtbare Schiffermarke bildet.

Eine noch reichere geistige Bewegung findet der Wanderer in dem schattigen Tauerlauken an der Danje, wo einst die preußische Königsfamilie, in den äußersten Winkel der Monarchie zurückgedrängt, Uebermenschliches erduldete und wo die lichte Gestalt der Königin Louise vor unsere Blicke tritt. Wir kehren in Gedanken „mit den Majestäten“ auf der träumerischen, von Weißerlen beschatteten Danje nach Memel zurück und erinnern uns der weitern interessanten Mittheilungen der Gräfin Voß aus jener Zeit, welche bei den jeux d’esprit den esprit vermißte, sich über die jüngern Hofdamen ärgerte und den Lärm der lauten Kinder nicht zu dämpfen vermochte, da die Königin, trotz ihres Leidens, die Kinder immer in ihrer Nähe haben wollte. Diese jungen Prinzen benahmen sich aber auch ganz wie andere Kinder, tanzten, musicirten, fuhren Schlitten und brieten Kartoffeln in der Asche.

Und vielleicht weiß Mancher es nicht, daß eines dieser Kinder der deutsche Kaiser ist.



  1. Vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1884. S. 624.