Textdaten
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Autor: Wilhelm Grimm
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Titel: Albanesische Märchen
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aus: Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde, Band 1, S. 377–381
Herausgeber: Johann Wilhelm Wolf
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Dieterische Buchhandlung
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Erscheinungsort: Göttingen
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Der Text bezieht sich auf: Johann Georg von Hahn: Toskische Volksmährchen. In: Albanesische Studien. 2. Heft. Jena 1854, S. 163–169. Google
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[377]
ALBANESISCHE MÄRCHEN.

Allmälig werden uns auch die überlieferungen südöstlicher völker bekannt. die wallachischen märchen, welche die brüder Arthur und Albert Schott gesammelt und bekannt gemacht haben, sind ihres gehaltes und der unverfälschten auffassung wegen schätzbar und zeigen eine unabhängige gemeinschaft mit den deutschen. an ausführlichkeit und lebendiger darstellung werden sie von den serbischen übertroffen, wovon Wuk eine übersetzung versprochen hat. aber auch die in dieser zeitschrift von Staufe and Waldburg mitgetheilten märchen aus der Bukowina sind alles lobes werth und können sich den serbischen an die seite stellen; auch hier sollte eine vollständige sammlung nicht lange auf sich warten lassen. wo kunstvolle, aus höherer bildung hervorgegangene dichtung sich der frei gewachsenen gegenüber stellt, da schrumpft diese zusammen, etwa wie die indianischen stämme in Amerika vor den eingewanderten europäischen sich zurück ziehen und endlich verschwinden. man hat bemerkt daß in serbischen dichtern, die lesen und schreiben gelernt haben, die poetische kraft sich abschwächt, und ihre gedichte aufhören bei dem volk eindruck zu machen. die stände sind in jenen ländern geschieden aber nicht getrennt und bleiben in näherem zusammenhang, darum tritt das lückenhafte des inhalts und das kahle und dürftige der erzählung nicht so oft wie bei uns hervor, wo das gemeine volk allein noch bewahrt, was von den alten überlieferungen übrig geblieben ist. man hat sich gewöhnt zu glauben, daß die ärmliche, [378] der einwirkung lebendiger phantasie entzogene darstellung, wie wir sie so oft bei uns finden, den wahren charakter des märchens ausmache, während, wenn es auf treue und wahrheit ankommt, sich nur niemand anmaßen darf den inhalt nach gutdünken zuzuschneiden, wegzulassen, oder aus eigenen mitteln zusätze und veränderungen zu machen. der ausdruck der überlieferung aber kommt aus der seele des erzählenden, und wie schön und zugleich wie natürlich er sein kann, zeigen Runges plattdeutsche märchen, in welchen bei warmer und ausführlicher darstellung kein unwahres wort gesagt ist. wer den rechten sinn hat, der enthält sich ohnehin der geblümten redensarten, und der faden ironie, die, wenn sie auch nichts hinzuthut, immer die echte farbe abwischt.

Jetzt werden uns von noch südlichern völkern die überlieferungen zugeführt. herr Dr. J. G. v. Hahn, östreichischer consul für das östliche Griechenland, hat die günstige gelegenheit benutzend nach ihren innern zuständen wenig bekannte länder mit eindringendem blick beobachtet und die frucht seiner bemühungen in einem umfangreichen werk, das eben unter dem titel: Albanesische studien erschienen ist, niedergelegt. für die grammatik der toskischen mundart und für die beiträge zu einem albanesischen wörterbuch wird ihm die sprachwissenschaft dank sagen; er belehrt uns aber auch über die sitten, gebräuche und den glauben jener völker, theilt sprichwörter und redensarten mit, zuletzt fünf toskische märchen, von denen ich hier nähere nachricht geben will. wiewohl sichtbar auf einheimischem boden gewachsen, stehen sie doch in unverkennbarer gemeinschaft mit den deutschen. naiv ist die formel, womit ein jedes anhebt, und bezeichnet glücklich wahrheit und dichtung des märchens, ‚es war und es war nicht‘, ebenso der schluß, ‚dort war ich, fand aber nichts.‘ die magyarischen (bei Stier) fangen ähnlich an, ‚wo wars? wo wars nicht?‘ oder ‚was war, was nicht war sag ich nicht.‘

Das erste erzählt von einer jungen frau die in die fremde verheirathet ist und sehnsucht nach ihrer heimath empfindet. eine alte kommt und ist bereit sie heimzuführen. [379] es ist eine hexe, ουκγενεζα (hundsauge), die vier augen hat, nemlich außer den gewöhnlichen noch zwei am hinterhaupt, die man aber nicht sieht, weil sie mit dem kopftuch bedeckt sind. sie machen sich auf und gelangen zu dem haus der hexe, die beim eintritt gleich ihrer tochter zuruft den backofen zu heizen, sie selbst geht noch mehr holz zu holen. ‚was habt ihr vor?‘ fragt die frau. ‚wir wollen dich braten und verzehren‘ antwortet das mädchen. ‚mir recht‘ sagt die frau, ‚aber gib acht daß das feuer nicht ausgeht.‘ ‚ich will es schon anblasen‘ erwidert das mädchen. als es vor der öffnung des ofens steht, stößt es die frau mit beiden händen in den ofen und entflieht, bevor die alte zurückkehrt. es ist das märchen von Hansel und Grethel (Hausm. nr. 15). alterthümlicher scheint darin daß die hexe eine tochter hat, die ihr zur hand geht. das schwedische (Cavallius nr. 2) hält sich näher an das deutsche. ein magyarisches (Stier nr. 5) weicht von beiden ab und ist minder einfach.

Das zweite ist, unter ganz andern verhältnissen, unser märchen von der gänsemagd (Hausm. nr. 89). ein mädchen zieht aus seine sieben brüder zu suchen; die mutter hat ihm die magd mitgegeben. auf dem wege empfindet es heftigen durst, und als sie zu einer quelle gelangen, springt es vom pferd und gibt es der magd zu halten. während es sich herabneigt und trinkt, besteigt die magd das pferd und jagt davon. es läuft hinterher, als es aber bei den brüdern anlangt, wird die magd als schwester aufgenommen, sitzt auf dem goldnen stuhl und spielt mit dem goldnen apfel: die echte schwester muß hühner und gänse hüten, weint dabei und sendet ihrer mutter grüße mit der sonne des mittags. die bedeutung des pferdes ist hier ganz verschwunden, überhaupt ist das deutsche gehaltvoller und sinnreicher. doch ist hier der zug eigenthümlich und schön daß das mädchen seiner mutter grüße durch die mittagssonne zusendet, die ohne zweifel nachricht von ihrem harten schicksal bringen und hilfe herbei rufen sollen. königstöchter spielen mit goldenen kugeln (Hausm. nr. 1. Colshorn s. 55), wie die engel im himmel mit der weltkugel [380] (Hausm. nr. 3). verwandt ist ein russisches märchen (Dieterich 10. Vogl 57), doch die umstände sind verschieden, noch weiter ab liegt ein magyarisches (bei Molbech udvalgte eventyr 38).

Die brüder ziehen in die fremde und kommen auf ihrem weg an ein tiefes loch. die beiden ältesten überreden den jüngsten sich hinab zu laßen. er fällt auf das haus einer alten: auf ihre frage, was er hier suche, antwortet er ‚mich schickt der könig der oberwelt, um ein haar von der schönen in der unterwelt zu holen.‘ ‚o söhnlein,‘ spricht die alte, ‚wie willst du dahin kommen? die schöne wird von einem hunde bewacht, der drei köpfe hat und niemals einschläft.‘ sie gibt ihm ein wasser und von der erde der todten und sagt ‚wenn du dich mit diesem wasser wäschest, so wirst du so dunkel daß dich der hund nicht sieht, die schöne aber liegt in einer ecke und schläft: stecke ihr ein wenig von der erde in das ohr, so wird sie dich nicht gewahr, reiß ihr das goldne haar aus dem kopf und komm schnell zurück.‘ er vollbringt es glücklich, die alte bindet ihm fleisch in den gürtel, ruft alle krähen zusammen, und die vögel, indem sie an dem fleisch zupfen, heben ihn in die höhe. die brüder verwundern sich als er wieder erscheint, er aber bringt das goldene haar dem könig, der es der königin gibt. ihn macht er reich und mächtig, und die beiden ältern brüder werden endlich seine diener. die deutschen märchen von den drei federn (Hausm. 63) und dem müllerbursch (Hausm. 106) haben dieselbe grundlage: die ältern brüder bemühen sich vergeblich eine köstliche, mit wunderkräften begabte sache zu erlangen: aber dem dummling, dem unschuldigen, den jene beiden ins verderben führen wollten, wird sie zu theil. bedeutender ist es hier, daß das goldene haar gesucht wird, in dem ohne zweifei übernatürliche kräfte liegen: in einem deutschen märchen werden dem teufel, als er schläft, die drei goldenen haare ausgerissen (Hausm. nr. 29). eine schwedische erzählung (Cavallius nr. 15) ist der deutschen ähnlicher.

Das vierte märchen übergehe ich: es hat, wie schon [381] der herausgeber bemerkt, nahe ähnlichkeit mit der sage von Perseus, und es fehlt auch die unsichtbar machende nebelkappe nicht.

Das fünfte zeigt wieder merkwürdige ähnlichkeit mit einem deutschen. zwei alte eheleute wünschen sich ein kind und auf eine seltsame weise wird ihnen ein knabe zu theil, der aber nicht größer ist als eine nuß. sie pflegen ihn, kleiden ihn wol, aber im funfzehnten jahre ist er noch eben so klein. eines tages schicken sie ihn mit den ochsen hinaus den acker zu pflügen. er springt auf die spitze des pflugs und lenkt von da die thiere. drei räuber kommen vorbei, und da sie den kleinen nicht sehen, so wollen sie die ochsen wegführen und fangen an sie von dem joch los zu machen. der kleine schlägt ihnen mit der treibstange auf die hände: sie erschrecken, erblicken ihn und nehmen ihn mit sich. sie haben die absicht dem priester die ochsen wegzunehmen. der kleine schlüpft durch die thürritze, öffnet von innen und zieht die ochsen heraus, dann wird er ein räuber der seines gleichen nicht hat, heißt räuber Nuß und wird von jedermann gefürchtet bis er endlich ertrinkt. das deutsche märchen vom Daumesdick (Hausm. nr. 37) ist reichhaltiger und der schluß, wonach er zu seinen eltern zurückkehrt, angemessener. die erzählung aus der Bukowina (oben s. 48), wo der kleine ein teufel, der faustgroß aus einer maus hervorspringt, nähert sich mehr dem deutschen.

Hr. v. Hahn hat auch, wie er mir mittheilt, an hundert neugriechische märchen gesammelt, die manches neue und wichtige enthalten werden. möge er mit der bekanntmachung nicht zu lange zögern.

WILHELM GRIMM.