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Artikel „Thiersch, Karl“ von Justus Thiersch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 255–263, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Thiersch,_Karl&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 14:19 Uhr UTC)
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Thiersch *): Karl Th., Chirurg, wurde geboren zu München als der zweite Sohn des bekannten Philhellenen (s. A. D. B. XXXVIII, 7 f.). Er wuchs im elterlichen Hause auf, besuchte das Gymnasium und bezog 1838 die Universität München. Nach Vollendung des Bienniums 1840 widmete er sich dem Studium der Medicin und setzte dasselbe 1844 in Berlin und Wien fort. [256] 1844–46 war er Assistent an der unter Rothmund’s Leitung stehenden chirurgischen Abtheilung des Allgemeinen Krankenhauses in München. Hier entwickelte sich seine Neigung zur Chirurgie. Seine chirurgischen Kenntnisse erweiterte er 1847 gelegentlich eines halbjährigen Aufenthaltes zu Paris und namentlich später im J. 1850, wo er einen dreimonatlichen Urlaub benutzte, um unter Strohmeyer’s Leitung als freiwilliger Arzt in dem Feldzug in Schleswig-Holstein mitzuwirken. Hierselbst hatte er vielfach Gelegenheit, größere Operationen unter Anleitung eines Meisters selbständig auszuführen. 1848 erhielt er die Stelle als Prosector in München und habilitirte sich mit einer Arbeit über Pyämie. In den folgenden Jahren las er namentlich auch über anatomische Fächer und hielt stark besuchte pathologisch-anatomische Demonstrationen ab. 1854 wurde er zum Extraordinarius ernannt und 1855 erhielt er als Ordinarius an Heyfelder’s Stelle die Professur der Chirurgie und Augenheilkunde zu Erlangen, sowie die Leitung der dortigen chirurgischen Klinik. Die bescheidenen Verhältnisse Erlangens ließen ihm hinreichend Muße, seine große Arbeit über den Epithelialkrebs zu vollenden. Im J. 1867 übernahm er an Günther’s Stelle die Professur der Chirurgie in Leipzig, sowie die Direction der chirurgischen Klinik. Den Feldzug 1870 machte er als consultirender Generalarzt beim 12. (sächsischen) Armeecorps mit. Seitdem wirkte Th. bis zu seinem am 28. April 1895 erfolgten Tode als akademischer Lehrer und Krankenhausarzt. 1855 hatte er sich mit der zweiten Tochter Justus v. Liebig’s, Johanna, verheirathet. Aus der Ehe entstammten vier Töchter und zwei Söhne.

Th. ist verhältnißmäßig spät in die chirurgische Praxis eingetreten. Dabei ist ihm aber die jahrelange Beschäftigung mit den Zweigen der Anatomie, Histologie, Entwicklungsgeschichte und besonders der pathologischen Anatomie in hervorragender Weise für seine späteren chirurgischen Arbeiten, sowie für die Operationstechnik zu Statten gekommen. Seine sämmtlichen größeren wissenschaftlichen Arbeiten sind auf gründlichen anatomischen Kenntnissen aufgebaut und letztere befähigten ihn wieder, die Fragen der allgemeinen Chirurgie von einem höheren Standpunkt aus zu beurtheilen. Ohne chronologisch seine Arbeiten zu sichten, greifen wir zunächst diejenigen heraus, die sich mit der Wundheilung beschäftigen. In der Abhandlung über „Die feineren anatomischen Veränderungen nach Verwundung der Weichtheile“ (Handlehrbuch von Pitha und Billroth, 1873) schildert Th. die histologischen Veränderungen bei der Wundheilung. „Auf Grund experimenteller Untersuchungen, unterstützt durch seine virtuose Herstellung von Gefäßinjectionspräparaten, hat hier Th. zum ersten Male eine wirklich systematische Darlegung der Vorgänge bei der Wundheilung gegeben. Er hat gezeigt, wie die verschiedenen Arten der Wundheilung auf einheitlichen einfachen Processen beruhen, wie die unmittelbare Verklebung von Wundflächen zu Stande kommt, wie ein Saftstrom sofort die Wundspalte durchströmt (plasmatische Circulation), in welcher Weise und wie schnell die Neubildung der Gefäße erfolgt u. s. w.“ (Landerer.) – Das genaue Studium dieser Vorgänge, insbesondere der Ernährungsbedingungen für gefäßlose Gewebe, legte den Grund zu seinem für die chirurgische Praxis bedeutsamsten Werk, „Die Methode der Hautverpflanzung“ (1886). In dieser hat er ein Verfahren geschaffen, nach welchem große Strecken des Körpers, die ihr Epithel verloren hatten, von neuem sicher und dauernd mit Epithel überzogen werden können. Reverdin verpflanzte die Haut in ihrer ganzen Dicke, und zwar auf granulirende Flächen. Der Erfolg war sehr unsicher, denn der größte Theil der aufgesetzten Hautstücke fiel wieder ab, andrerseits wurden die Stellen, an denen die Haut zur Transplantation weggenommen [257] war, schwer geschädigt und brauchten lange Zeit zur Heilung. Ferner konnte man in der Mehrzahl der Fälle die aufzusetzende Haut nicht vom Patienten selbst nehmen, sondern mußte dieselbe anderen gesunden Leuten ausschneiden. Im Gegensatz hierzu verlangt Th., daß die Hautstücke so dünn wie möglich genommen und auf eine frische Wundfläche aufgesetzt würden. Die Vortheile liegen auf der Hand. Diese papierdünnen Hautstreifen werden viel leichter durch plasmatische Circulation ernährt. Die überpflanzten Hautstücke heilen in acht bis zehn Tagen an. Sie können von einer anderen Hautstelle desselben Patienten entnommen werden. Die dadurch entstehende oberflächliche Verletzung heilt in kurzer Zeit. Die Methode der Hautverpflanzung hat in dieser verbesserten Form eine ausgedehnte Anwendung in der Chirurgie erfahren. Bei allen größeren Hautdefekten, wie nach umfangreichen Brandverletzungen, Zerstörung der Haut durch Wundrose, bei ausgedehnten Fußgeschwüren u. s. w. ist sie anwendbar. Binnen wenigen Wochen können die Patienten durch die Thiersch’sche Transplantation dauernd geheilt werden. „Sollte je eine Zeit kommen, wo man die bahnbrechenden Untersuchungen von Th. über die Wundheilung und über die histologischen Verhältnisse des Krebses auch nicht mehr in dem Grade als bedeutsam anerkennen sollte wie heute, so werden doch die Thiersch’schen Transplantationen für alle Zeit dem Namen des Erfinders einen ehrenvollen Platz in der Chirurgie sichern.“ (Bardeleben.)

Die Arbeiten entwicklungsgeschichtlichen Charakters beginnen mit Beschreibung eines Falles von „Bildungsfehlern der Harn- und Geschlechtswerkzeuge eines Mannes“ (1852). Bei seinen späteren Operationsmethoden der Mißbildung der Genitalien, den Operationen der Hypospadie und Epispadie und besonders der bis dahin für unheilbar geltenden Ectopia vesicae verleugnet sich nicht der Kenner der Entwicklungsgeschichte, der streng geschulte Anatom und Histologe, wenn er feststellt, daß nur mit echtem Epithel ausgekleidete Hohlräume und Gänge Aussicht auf dauernden Bestand haben, daß man bei der Operation solche epithelbekleidete Höhlen schaffen müsse. Die erfolgreiche Behandlung der eben erwähnten Erkrankungen förderte er namentlich auch durch Ausbildung sogenannter plastischer Operationsmethoden. Die durch Wegnahme größerer Hautstücke entstandenen Hautdefekte wurden durch seine verbesserte Transplantation gedeckt und so konnte er namentlich auf dem Gebiete der Rhinoplastik hervorragende Erfolge erzielen. – Sein Werk über den „Epithelialkrebs, namentlich der Haut“ (1865) ist die Frucht sorgfältiger jahrelanger pathologisch-anatomischer Studien. Im Vorwort sagt er: „Ich habe entgegen der herrschenden Ansicht nachzuweisen gesucht, daß keine Nöthigung vorliegt, jene zelligen Gewebe, denen der Epithelkrebs seinen Namen verdankt, vom Bindegewebe abzuleiten, und daß vielmehr überwiegende Gründe für den epithelialen Ursprung dieser charakteristischen Zellform sprechen.“ Der hier versuchte Nachweis stützt sich zum guten Theil auf die Anschauung, daß Haut- und Schleimhautepithel nebst Abkömmlingen einerseits und gefäßhaltiges Bindegewebsstroma andererseits zwei von der frühesten embryonalen Entwicklung her getrennte histogenetische Factoren seien, Factoren, welche selbständig und gleichberechtigt einander gegenübergestellt, sich gegenseitig ergänzen, ohne ineinander überzugehen. Th. hat die damals herrschende Virchow’sche Lehre, daß die Krebszellen im Bindegewebe entstehen können, vollständig widerlegt. Die scharfe Trennung, die von den frühesten Stufen der Entwicklung des Embryo zwischen dem Epithel auf der einen und dem Bindegewebe auf der anderen Seite physiologisch besteht, übertrug er also auf das Gebiet der Pathologie und wies dem Epithelkrebs die ihm zukommende Rolle in anatomischer [258] und klinischer Beziehung zu. „Welche bedeutende Wirkung dieses Werk damals ausübte, kann man am besten daraus entnehmen, daß Billroth, der bis dahin auf dem Virchow’schen Standpunkt gestanden hatte, sofort die Ergebnisse in warmen Worten anerkannte. Auch die Praxis ist bei diesem scheinbar rein theoretischen Werk nicht zu kurz gekommen. Th. hatte gezeigt, daß man bei der Operation des tiefen infiltrirten (Lippen-)Krebses sich mindestens 1 1/2 cm von der sichtbaren Grenze des Erkrankten entfernt halten muß, um alles Pathologische zu entfernen.“ (Landerer.)

Auch bei der Krebsarbeit leistete Th. seine Injectionsmethode gute Dienste, über die noch ein Wort zu sagen ist. In der Erlanger Zeit bildete Th. im Verlauf mehrerer Jahre eine Methode der Injection kleinster Blutgefäße aus, in der er Meister geblieben ist. Er nahm kleine Säugethiere, Reptilien und Vögel, wie Ratten, neugeborene Katzen, Schlangen, Hechte, Elstern u. a. und füllte die Arterien sowohl wie auch die venösen Gefäße, bei manchen Thieren auch beide Gefäßsysteme, mit verschieden gefärbten Leimlösungen. Ja, bei den Lebern einzelner Thiere hat er sogar eine dreifache Injection mit drei verschieden gefärbten Farblösungen erzielt. Die sorgfältig gehärteten Präparate schnitt er dann mit eigener Hand – Mikrotome und sonstige Hülfsmittel gab es in den fünfziger Jahren noch nicht – und legte sie in Kanadabalsam ein. Ein Beweis für die staunenswerthe Sorgfalt und Technik ist es, daß noch heute, nach 50 Jahren, die Präparate den gleichen wundervollen Anblick gewähren wie zur Zeit ihrer Herstellung. Thiersch’s fleißige und freigebige Hand versorgte in der damaligen Zeit wohl alle anatomischen Anstalten Deutschlands und viele des Auslands mit Sammlungen solcher Präparate. Noch heute gelten sie als eine Zierde der Präparatensammlungen. Besonders bewundert wird die auf diese Weise dargestellte feinste Verzweigung der Gefäße des Auges neugeborener Katzen. Man kann sich wohl vorstellen, daß für Th. die vollendete Injectionstechnik sowohl bei der Arbeit über die Wundheilung wie über den Epithelialkrebs von wesentlichem Vortheil war. Die Zeichnungen zu dem letzteren Werk sind von der geschickten Hand Schröns, späterem Professor der pathologischen Anatomie in Neapel, hergestellt.

Dem Bestreben, das Wesen des Epithelialkrebses zu erforschen, folgten Versuche, die Heilung dieser Krankheit herbeizuführen. Th. hörte während keiner Zeit seiner chirurgischen Thätigkeit auf, sich mit diesem Problem zu beschäftigen. Hauptsächlich versuchte er auf dem Wege sogenannter parenchymatöser Einspritzungen der verschiedensten Heilmittel, besonders mit Höllensteinlösungen, einen Schwund der Neubildungen herbeizuführen. Die Erfolge waren jedoch bei Krebs keine günstigen. Dagegen waren solche Injectionen bei ulcus phagedaenicum von dem schönsten Erfolge begleitet. – Der Erforschung des Wesens bestimmter Infectionskrankheiten war eine weitere umfassende Thätigkeit Thiersch’s gewidmet. Gelegentlich der fürchterlichen Choleraepidemie zu München im J. 1854 begann er eine auf mühevolle Experimente begründete, von der französischen Akademie preisgekrönte Arbeit über „Infectionsversuche an Thieren mit dem Inhalt des Choleradarmes“ (erschienen 1856). Er brachte auf eine sinnreiche Weise weiße Mäuse mit den Dejectionen Cholerakranker in Berührung. Th. schloß aus seinen Beobachtungen, daß der Infectionsstoff nicht flüchtiger Natur sei und daß er an dem getrockneten Rückstand des Cholerastuhls hafte. Er war somit der erste Contagionist, der lange vor Entdeckung des Cholerabacillus auf Grund experimenteller Forschung den Cholerastuhl mit Sicherheit als den Träger eines fixen Ansteckungsstoffes nachwies.

Schon früher, gelegentlich seiner Thätigkeit als Prosector, war Thiersch’s Aufmerksamkeit auf das Studium der Pyämie gelenkt worden. Wir haben [259] heute keine Vorstellung mehr davon, welche Bedeutung diese fürchterliche Krankheit damals für die Spitalspraxis hatte. 80% aller Wunden wurden in der Nußbaum’schen Klinik in München vom Hospitalbrand befallen. Das Erysipel war so an der Tagesordnung, daß man es beinahe als einen normalen Vorgang betrachtet hätte. Es war in der Münchner Klinik zum Grundsatz geworden, keine Kopfwunde mehr zu nähen. Von 17 Amputirten starben in einem Jahr 11 allein an Pyämie. Complicirte Fracturen waren an der Münchner Klinik kaum noch zu sehen, denn entweder wurde sofort amputirt oder bereits nach wenigen Tagen war Eiterinfection, Spitalbrand, Septikämie, die Ursachen des eintretenden Todes. Aehnlich stand es bei anderen großen Kliniken. Th. mußte deswegen die Entdeckung des Schotten Lister mit Enthusiasmus begrüßen, der nachwies, daß bei einer zweckmäßigen Verwendung der Carbolsäure beim Wundverband jene fürchterliche Complikation, die Pyämie, zum großen Theil vermieden werden könne. Th. schickte im J. 1868 seinen Assistenten Dr. Joseph nach Edinburg, um die Lister’sche Methode an Ort und Stelle kennen zu lernen. In seiner Abhandlung über „Klinische Ergebnisse der Lister’schen Wundbehandlung“ und „Ueber den Ersatz der Carbolsäure durch die Salicylsäure“ entwickelt Th. historisch die antiseptische Wundbehandlung im Vergleich zur Wundbehandlung früherer Jahrhunderte. In der Einleitung stellt er sich auf die Seite derer, welche glauben, daß durch die Einwirkung der atmosphärischen Fermente die Vorbedingungen für Sepsis, Hospitalbrand, Pyämie gegeben sind. Er erkennt schon damals, daß durch die chemische Zersetzung unter dem Einfluß der Fermente Giftstoffe frei werden, und daß die Fermente nicht als solche giftig seien. Das war zu einer Zeit, da man noch nichts von Staphylococcen und Streptococcen wußte. Der einzige bis dahin bekannte Infectionserreger war der Milzbrandbacillus. Wie hat sich durch die antiseptische und später die aseptische Wundbehandlung alles geändert! Zur Heilung einer Mamma-Amputation gehörte früher ein viertel bis ein halbes Jahr, jetzt acht bis zehn Tage. Zur Heilung von Wunden nach größeren Amputationen gehörten ebenfalls mehrere Monate, jetzt ist eine solche Wunde in zehn bis vierzehn Tagen gut geheilt. Ein Todesfall durch Infection einer frischen Wunde kommt heutzutage an einer gut geleiteten Klinik überhaupt kaum mehr vor. Th. war einer der Ersten, der die neue Methode der Wundbehandlung in Deutschland einführte und hatte die Genugtuung, alsbald den völligen Umschwung in den Resultaten der Behandlung zu erleben.

Dies die Hauptarbeiten Thiersch’s auf chirurgischem Gebiete. Man erkennt ohne weiteres, daß es Fragen der allgemeinen Chirurgie sind, denen sein Hauptinteresse gegolten hat. Aber auch auf dem Gebiete der speciellen Chirurgie ist er äußerst fruchtbar gewesen, wenn dies auch in seinen Veröffentlichungen nicht so hervortrat. Die zunehmende Hospitalpraxis in der Leipziger Zeit ließ ihm keine Muße mehr, in größerem Maßstab litterarisch thätig zu sein. Viele Methoden und Modifikationen von Methoden, die von ihm ausgebildet wurden, sind nicht veröffentlicht worden, so namentlich manche sinnreichen Methoden der Verbandstechnik. Auf dem Gebiete der speciellen Chirurgie veröffentlichte er – vielfach gelegentlich von Demonstrationen auf den Chirurgencongressen – Arbeiten über die Behandlung cavernöser Angiome durch galvanokaustische, punktförmige Ustion, Modifikation der Elbogenresection, die Ogston’sche Operation des genu valgum, Beitrag zur Lehre der Pseudarthrosen, Massenligatur und Perlnaht, Combination von Rosenkranz und Perlnaht, Arthritis des Fußgelenkes, Jodoform als Antisepticum und Antituberkulosum, Bericht O’ Dwyer’s Intubation of Larynx bei Diphteritis. Aus früherer Zeit stammen die Veröffentlichungen über die Phosphornekrose der Kieferknochen und [260] Fälle von Transfusion. Von besonderer praktischer Bedeutung war seine neue Methode der Nervenextraction.

„Interessant“, sagt Landerer, „war Thiersch’s Art, wissenschaftlich zu arbeiten. Manche Themen hat er jahrelang mit eisernem Fleiß und peinlichster Kleinarbeit bearbeitet und bearbeiten lassen, so die Krebsfrage, die Wundheilung; ebenso hat er auf dem Gebiet der chirurgischen Tuberkulose lange Jahre histologisch und therapeutisch gearbeitet. Doch genügten ihm hier die Ergebnisse nicht zur Veröffentlichung. Andere Male – Transplantation, Nervenextraction – waren es fast momentane Inspirationen, die ihn mühelos das finden ließen, wonach andere jahrelang vergeblich gestrebt hatten. Seiner Thätigkeit als Operateur konnte man seinen Entwicklungsgang, den Uebergang von theoretischen Fächern zur Praxis, sein ganzes Leben lang anmerken. Er war in seinem chirurgischen Handeln frei von Handwerksgriffen und Kniffen; er verfuhr als ein stets frei schaffender Künstler. Sein Operiren war unmittelbar angewandte Anatomie und pathologische Anatomie. Bei seiner phänomenalen Kenntniß der Anatomie konnte er sich dies erlauben, den Operationsplan unmittelbar auf die Diagnose aufzubauen. Ueberblicken wir die lange Reihe großer und zum Theil epochemachender Arbeiten, so tritt uns stets wieder dieselbe Wahrnehmung entgegen, wie Th. es verstand, die Ergebnisse methodischer, theoretischer und systematischer Untersuchungen von höheren Gesichtspunkten aus zu sichten, zusammenzufassen und für die chirurgische Praxis zu verwerthen. Wenn wir den, der völlig neue, große Gesichtspunkte gewinnt, dem Wesen nach neue Methoden ersinnt und einführt, als genial bezeichnen, so dürfen wir Th. mit Recht als den originalsten und genialsten deutschen Chirurgen der letzten Jahrzehnte bezeichnen.“

In seiner Eigenschaft als Oberarzt an der chirurgischen Abtheilung des Krankenhauses in Erlangen und später in Leipzig und als Director der chirurgischen Klinik hat Th. außerordentlich segensreich gewirkt. Bei Erledigung der Leipziger Professur im J. 1866 wurde von der Facultät auf die Berufung eines Mannes gedrungen, welcher der organisatorischen Aufgabe eines Hospitalbaues gewachsen sei. Th. hat die auf ihn gesetzten Hoffnungen in vollstem Maße erfüllt. Als er 1867 die Professur übernahm, fand er in dem alten Jakobs-Hospital wohl das ungesündeste und gefährlichste Hospital, welches überhaupt existirte. Der Hospitalbrand, das Erysipel hatten sich so stark in den alten Räumen eingenistet, daß auch die kleinste Operation mit Lebensgefahr für den Patienten verbunden war. So entwarf Th. im Verein mit Wunderlich die Pläne für ein neues Krankenhaus. Er führte nach amerikanischem Vorbild als der Erste in Europa das Barackensystem ein. Das Krankenhaus wurde eine Musteranstalt. Er sorgte für schöne weite, helle Räume. Eine peinliche Sauberkeit war die unmittelbare Folge. Die Stationen durften höchstens zu zwei Drittel der möglichen Belegzahl gefüllt werden. Aus dem Bestreben, den Kranken möglichst viel frische und gesunde Luft zu verschaffen, ging die Einrichtung einer sogenannten Luftbude zwischen den beiden Kinderbaracken hervor. Eine weitere Hauptsorge galt der guten Ernährung der Patienten. So setzte er es durch, daß jeder Kranke pro Tag 40 gr Butter erhielt, und als auf sein Betreiben eine neue Kostordnung eingeführt wurde, ist es hauptsächlich wieder durch seine Bemühungen erreicht worden, daß zur Ernährung Schwerkranker und Operirter überhaupt alles geliefert wurde, was nur irgendwie zur besseren Ernährung des Kranken beizutragen geeignet war. Bei den täglichen Rundgängen durch die Krankenräume galt seine Aufmerksamkeit nicht allein den Patienten. Mit einem Blick erkannte er, ob überall Ordnung und Sauberkeit herrsche. Auch die Nebenräume der einzelnen [261] Stationen wurden von Zeit zu Zeit von ihm besucht, und wenn er auch über einen ungünstigen Befund fast nie ein tadelndes Wort sprach, so wußten doch der Stationsarzt und die Schwester ganz genau, was ein bestimmter Blick von ihm zu bedeuten habe. Für seine Kranken hatte Th. ein erstaunlich gutes Gedächtniß. Er kannte fast alle seine Patienten, die überhaupt auf der Abtheilung lagen. Er wußte ganz genau, in welchem Zustand dieser oder jener sich befand, ja, für viele Fälle gab er bis ins einzelne an, in welcher Weise sie gelagert und verbunden werden sollten. Schwierige Fälle behandelte er nicht selten längere Zeit selbst, so daß er jeden Tag zum Verbandwechsel nach der Station kam oder sich die Kranken nach dem Operationssaal kommen ließ. Hierbei hatte man nun reichlich Gelegenheit, seine Meisterschaft in der Untersuchung derselben und ihrer Behandlung genau kennen zu lernen. Die zarte und weiche Hand vermied bei der Untersuchung kranker Theile alle schnellen und hastigen Bewegungen; mit der vollen, flachen Hand wurde das zu untersuchende Glied nach dieser oder jener Seite gedreht oder leichte Beugungen und Streckungen in den erkrankten Gelenken versucht, aber ja recht mit Bedacht. Bei leichten Schmerzensäußerungen wurde die Untersuchung auf andere Weise fortzusetzen versucht. Wirklich schmerzhafte Untersuchungen nahm er nur dann vor, wenn sie zur Stellung der Diagnose und vor allem der Therapie halber unbedingt nöthig waren. Die genaue Betrachtung der erkrankten Körpertheile, die langsame und bedächtige Art der Untersuchung, bei der schon jeder Laie erkennen mußte, daß nicht zu viel und nicht zu wenig geschah, die ruhige Entschlossenheit und Bestimmtheit, die er in wenigen Worten über Diagnose und Therapie zum Ausdrucl brachte, erweckten das unbegrenzte Entgegenkommen und Vertrauen seiner Kranken. Thiersch’s Lieblingsstation war die Kinderbaracke. Hier konnte er sich ohne Rückhalt den Einzelnen hingeben. Er behielt seine kleinen Patienten alle im Gedächtniß, pflegte sie auch wieder anzureden und in Betreff ihres Befindens zu befragen, wenn sie ihm nach ihrer Entlassung gelegentlich in der Stadt begegneten. Dafür war aber auch der „Herr Geheimrath“ von seinen Pflegebefohlenen innig verehrt und es war ein Fest für sie, wenn sie ihm einmal bei einem Geburtstage oder sonstigem Anlaß durch eine kleine Aufmerksamkeit ihre Zuneigung ausdrücken durften.

Bei der Abhaltung seiner Klinik ging er von großen Gesichtspunkten aus. Er wollte seinen Hörern ein allgemeines Verständniß für die Chirurgie verschaffen. Sie sollten die Diagnose, die Indicationen, den Verlauf, sowie die Prognose auch für die schwierigeren und seltneren chirurgischen Fälle in der Klinik an der Hand eines überaus reichen und interessanten Materials beurtheilen lernen, während er sozusagen das alltägliche Brod der kleinen Chirurgie, die Behandlung von Panaritien, Abscessen, kleinen Wunden u. s. w. mit Vorliebe den in seinem Auftrag abgehaltenen vorbereitenden Kursen überließ. In diesen sollten sich die Studenten zunächst die Grundbegriffe der Chirurgie aneignen. Dann konnten sie mit Verständniß und Nutzen in seiner Klinik den Demonstrationen und Vorträgen folgen. Für sie, nicht für die Anfänger hielt Th. seine Klinik. Daher waren es fast immer auch die jüngsten Semester, welche den Muth hatten, in dieser Klinik mit den denkbar geringsten Vorkenntnissen als Praktikanten aufzutreten, die seine vernichtende, aber stets humorvolle Kritik traf. – „In seinen klinischen Vorträgen und im Verkehr mit seinen Assistenten zeigte sich als eine der hervorragendsten Eigenschaften Thiersch’s seine große Wahrheitsliebe. Er gehörte nicht zu den Chirurgen, die stets das finden, ‚was sie erwartet hatten‘. Ohne sich selbst im geringsten zu schonen, gestand er jeden Irrthum ein, legte dar, wie er zu der unrichtigen Auffassung gekommen war und zeigte, wie man hätte anders verfahren sollen.“ [262] (Landerer.) „Th. zählte zu den Lehrern, deren wohlwollendes Wesen auf ihre Schüler veredelnd gewirkt und jegliche Aeußerung rohen Sinnes von vornherein zurückgedrängt hat. Er hatte die schönste Eigenschaft großer Aerzte, er war feinfühlig und durch und durch menschlich in seiner Gesinnung. Unter den vielen Tugenden von Th. war diese vielleicht die hervorragendste, und doch hat er auch sie auf das sorgfältigste zu verbergen gesucht. Er hat jeden seiner Kranken persönlich auf dem Herzen getragen, ist, wenn schwere Fälle dalagen, zu den ungewohntesten Stunden nach dem Spital hingeeilt und wenn einmal eine große Operation wider sein Erwarten einen ungünstigen Ausgang nahm, so brauchte er oft Tage und Wochen, bis er sich damit innerlich abgefunden hatte.“ (His.)

Thiersch’s geistige Interessen waren mit seinen Fachkenntnissen keineswegs erschöpft. Er liebte es, sich in bestimmte Probleme zu vertiefen, auch dann, wenn sie seinem Berufsgebiete fern standen. Seine Erlanger Rectoratsrede über Lehren und Lernen und besonders seine Hamletglossen zeigen, wie gern er sich auch in die Probleme des menschlichen Seelenlebens versenkt hat. Auch auf historischem Gebiet hat sich Th. versucht, wie seine Leipziger Rectoratsrede über „Altes und Neues über die drei großen Hospitäler Leipzigs“ beweist.

„Th. liebte es, seine guten Eigenschaften mit dem Mantel trocknen Humors zu verhüllen. Wer den so gewissenhaften Mann nicht bei der Arbeit sah, der mochte wohl über seinen inneren Ernst im Unklaren sein. Dafür hatte er aber auch für die Eitelkeit und Zudringlichkeit Anderer ein empfindliches Organ. Wo ihm diese Eigenschaften entgegentraten, da konnte er deren Träger durch vornehme Zurückhaltung oder durch treffende Bemerkungen gehörig von sich weisen.“ (His.) „Vielen galt Th. als ein strenger, kalter, witziger Mann. Die solches behauptet haben, waren im Irrthum. Sein oft beißender und scharf treffender Witz entsprang wie aller wahre Humor, einem tief fühlenden Gemüth. Niemals war es seine Absicht, zu verletzen.“ (Bardeleben.) „Th. war einer der wirkungsvollsten Redner. Was er leisten konnte, das pflegte er auf den Chirurgencongressen zu zeigen. Nicht zum mindesten wurde die Wirkung seines Redens gehoben dadurch, daß er wie selten einer zu schweigen verstand. So ist es nicht zu verwundern, daß Th. eine der populärsten Figuren des Chirurgencongresses war. Wenn Th. würdevoll nach der Rednertribüne schritt, so entstand sofort die tiefste Stille. Wußte doch jeder, daß, was Th. vorzubringen hatte, nach Form und Inhalt gleich vorzüglich war, daß er nie wegen einer Kleinigkeit zum Worte griff.“ (Landerer.)

Den Eindruck seiner Persönlichkeit schildert sein langjähriger Facultätscollege His wie folgt: „Aus einer berühmten Gelehrtenfamilie stammend, hat Th. von Hause aus den Sinn mitgebracht für gründliches Wissen und für feines geistiges Verständniß. Er besaß den strengen Wahrheitstrieb und die unabhängige Gesinnung eines echten Gelehrten.“ „Bei aller Neigung zu geistigem Grübeln war aber Th. ein scharfer Beobachter und voll von gesundem Menschenverstand. Mit solchen Eigenschaften ausgestattet, entwickelte er sich leicht zu einem erfahrenen und klugen Menschenkenner.“ „Er gehörte zu jenen harmonisch begabten und durchgebildeten Naturen, welche jeder an sie herantretenden Aufgabe gleich gut gerecht zu werden vermögen. Als Gelehrter, Forscher und Arzt, im Friedens- und im Kriegsdienste, sowie auch hinwiederum in Verwaltungsangelegenheiten füllte er überall seinen Platz aus und leistete Vorzügliches. Niemals drängte er sich vor, sondern er ließ Menschen und Dinge an sich herankommen. Nichts lag ihm ferner als das Prunken, sei es mit Gelehrsamkeit oder mit einem anderen seiner inneren Vorzüge.“ „Thiersch’s Persönlichkeit hat sich in ihrer überlegenen Bedeutung einem jeden von der [263] ersten Begegnung ab kenntlich gemacht. Seine feste Haltung, sein klares und sicheres Urtheil haben ihm in allen Kreisen großes Ansehen verschafft. Unter den chirurgischen Fachgenossen und in unseren akademischen Behörden baute man auf seine Stimme als auf eine in allen schwierigen Fragen entscheidende.“

Auch in militärischen Kreisen war Th. eine hoch angesehene Persönlichkeit. Im Feldzug 1870 erwarb er sich Verdienste nach der Schlacht von Sedan durch Einrichtung eines musterhaften Lazareths in Douzy, woselbst deutsche sowohl wie französische Soldaten verpflegt wurden. Später dem Hauptquartier des Prinzen Georg, nachmaligen Königs von Sachsen zugetheilt, war er ein geschätzter Rathgeber und beliebter Gesellschafter bei den täglichen Zusammenkünften. Mit dem Militär blieb er durch die seiner Klinik zugetheilten militärärztlichen Assistenten bis zu seinem Ende in steter Fühlung. Nicht minder hochgeschätzt war Th. in den Kreisen der Stadt, mit denen er durch seine amtliche Stellung und als Arzt in mannichfache Berührung trat. Ein Trinkspruch von ihm bei einem öffentlichen Mahle galt als ein Ereigniß. Seine geflügelten Worte und Bonmots gingen und gehen noch heute – viele allerdings, ohne die seinigen zu sein – in alle Welt. Wenn er Abends in der „Harmonie“ seine Billardpartie mit gewohnter Meisterschaft spielte, so umgab ihn stets ein Kreis, der auf irgend eine charakteristische Aeußerung, ein Kind seines Humors lauerte, um es sofort mit Windesseile durch die ganze Stadt zu colportiren. Im häuslichen Kreis als pater familias konnte Th. seine herrlichen Eigenschaften ganz entfalten. Sein gemüthvolles Wesen, seine Menschenfreundlichkeit, die Gabe der Erzählung verbreitete einen wohlthuenden Glanz auf das Familienleben. Wer den Vorzug hatte, an den offenen Mittwochabenden in den 70er und 80er Jahren das heitere und harmlos-gastfreie Haus Thiersch’s kennen zu lernen, wird sich diesem Zauber nicht haben entziehen können. Eine zahlreiche Familie von Kindern und Enkeln trauerte um den zu früh Verstorbenen. In seinem reichen Leben sind Th. die mannichfachsten Ehrungen zu Theil geworden. Er war Ehrenmitglied zahlreicher gelehrter Körperschaften, Ehrenbürger der Stadt Leipzig und Inhaber mehrerer hoher Orden. Sein Andenken wird in der Wissenschaft und in der Familie fortleben.

A. Landerer, Nekrolog; Münchener Medicinische Wochenschrift, 1895. – Adolf v. Bardeleben, Nachruf; Deutsche Medicinische Wochenschrift, 1895, Nr. 19. – Wilhelm His, Karl Ludwig und Karl Thiersch, akademische Gedächtnißrede; München 1895, Beilage zur Allgemeinen Zeitung, 164 und 165.

[255] *) Zu Bd. LIV, S. 687.