ADB:Murr, Christoph Gottlieb von
Schwebel einen gründlichen Unterricht in den alten Sprachen genoß, während er in der Geographie, dem Hebräischen und Französischen von besonderen Lehrmeistern unterwiesen wurde. An der Universität Altdorf, die er im Jahre 1751 bezog, brachte er, festgehalten durch den bedeutenden und anregenden Staatsrechtslehrer Heumann, seine ganze Studienzeit zu. Murr’s allseitig angelegte Natur verlangte nach einer allseitigen Ausbildung: Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften, Archäologie und Geschichte vermochten ihn neben seinem Hauptstudium, dem der Jurisprudenz, zu fesseln. Besondere Förderung verdankte er Heumann, der ihm seine reiche Büchersammlung zur Verfügung stellte. Nachdem M. 1754 promovirt hatte, befaßte er sich zunächst mit historischen Studien, sammelte und arbeitete für eine diplomatische Geschichte der staufischen Kaiser und insbesondere der Friedrichs II., dessen Privileg für die Stadt Nürnberg vom J. 1219 er erörterte und 1756 als Disputationsschrift erscheinen ließ. Ende dieses Jahres trat er eine größere wissenschaftliche Reise an, die ihn zunächst nach Straßburg [77] führte. Hier suchte er seine schon zu Altdorf im J. 1753 begonnene „Bibliotheca glottica universalis“ zu vervollständigen, der er noch eine weitere „Bibliotheca mathematica universalis“ und „ophthalmographica“, späterhin auch noch eine „Bibliotheca rhetorica“ und „dimicatoria“ anschloß, und setzte seine Arbeiten zur diplomatischen Geschichte Friedrichs II. fort. Schöpflin, dem er durch Heumann empfohlen war, gestattete ihm den freiesten Zutritt zu seiner Bibliothek. Ebenso öffnete sich ihm die Büchersammlung der Jesuiten, denen er dann für sein ganzes Leben große Sympathien bewahrte, wie dies namentlich seine 1773 und 1774 erschienenen „Briefe eines Protestanten über die Aufhebung des Jesuitenordens“ sowie seine sonstigen Schriften zur Geschichte desselben beweisen. Auf diese Weise entging er dem Verdachte des Kryptokatholicismus und Jesuitismus nicht und war späterhin vielfachen Anfechtungen ausgesetzt. – Von Straßburg, wo er neben seinen Studien noch Experimentalphysik bei Prof. Grauel gehört hatte, reiste er nach Rotterdam, Amsterdam, Leyden, Utrecht, dann nach London, Oxford, Cambridge, überall, hier wie auf seinen späteren Reisen, mit den hervorragendsten Gelehrten, Künstlern und Staatsmännern Beziehungen anknüpfend. Zu seiner 1770 erschienenen „Bibliothèque de peinture, de sculpture et de gravure“ legte er schon damals den Grund. Gegen Ende des Jahres 1757 in seine Vaterstadt zurückgekehrt, begab er sich anfangs 1758 zu fast einjährigem Aufenthalte nach Wien, und noch im selben Jahre nach Venedig, Padua, Vincenza und weiteren Städten Oberitaliens. Bei Gelegenheit der Krönung Georgs IV. von England im J. 1761 reiste er zum zweiten Mal nach London und verweilte dort 11 Monate. Seine Rückreise führte ihn über Hamburg, wo er mit den ihm befreundeten Reimarus, Telemann und Schmidtlin verkehrte. – 1760 wurde er Zoll- oder Wagamtmann in seiner Vaterstadt.
Murr: Christoph Gottlieb von M., geb. am 6. August 1733 zu Nürnberg, † daselbst am 8. April 1811 als pensionirter k. bairischer Zoll- oder Wagamtmann, Sohn des 1756 als Unterpfleger in der Vorstadt Gostenhof verstorbenen Georg Christoph von M., zeigte ursprünglich eine ausgesprochene Neigung zum Militärstande, wandte sich indeß den Studien zu. Er besuchte die oberen Classen des Gymnasiums zu Nürnberg, wo er bei RectorMurr’s überaus reiche litterarische Thätigkeit betraf die verschiedensten Wissensgebiete. Vornehmlich befaßte rr sich mit Geschichte, Archäologie und Kunstgeschichte, aber auch für die Geschichte der Mathematik, der Medicin und der Naturwissenschaften hat er Beiträge geliefert, war thätig als Sprachgelehrter und versuchte sich endlich noch auf dem Felde der schönen Litteratur, wo er auch als Uebersetzer auftrat. Dieser Hang zu so verschiedenartigen Bestrebungen, ohne Zweifel zum guten Theil Erb- und Naturanlage, wurde durch den allgemeinen Zug jener Zeit und durch die eigenthümliche Art der Erziehung, vielleicht mehr als wünschenswerth war, genährt und entwickelt. In dem Hause eines Onkels, wo er erzogen wurde, konnte er sich ungehindert einer reichen Büchersammlung bedienen, das Jöcher’sche Gelehrtenlexikon gehörte schon in seinem elften Jahre zu seinen Lieblingsbüchern. Den Nutzen, den er daraus geschöpft, schlägt er selbst als bedeutend an. Als er späterhin systematisch zu studiren anfing, waren ihm die vornehmsten Schriften und Lebensumstände der Gelehrten bekannter als manchem seiner Lehrer. Er konnte sich jetzt durchaus „auf das wissenschaftliche Fach einschränken“ und wurde in seinem Studienplan durch Nebendinge nicht mehr aufgehalten. Heumann’s Conspectus reipublicae litterariae hatte ihm ebenso frühzeitig als Wegweiser beim Lesen Jöcher’s gedient, als jene vortreffliche Büchersammlung, die er im Hause seines Onkels hatte benützen können. Ob aber diese Art und Weise der Geistesbildung nicht einigermaßen ungünstig auf den jungen M. eingewirkt, ob sie nicht das Unstäte in seiner wissenschaftlichen Thätigkeit mit großziehen helfen, ob ihn andererseits eine engere Umgrenzung seines Arbeitsfeldes nicht auch zu einer tieferen Durchdringung geführt und besonders seine Leistungen auf archäologischem, local- und kunstgeschichtlichem Gebiete an Bedeutung und Gediegenheit gewonnen hätten: das möchte allerdings schwer zu entscheiden sein, wenn auch die Vermuthung für die Richtigkeit einer solchen Meinung sprechen dürfte. Man müßte denn [78] annehmen, daß seiner Natur nur eine wechselvolle Thätigkeit zugesagt und er in ihr allein einen neuen Sporn und neue Triebkraft gefunden, wie er ja selbst einmal bemerkt, daß er niemals weder Neigung noch Beruf gespürt, seine ganze Thätigkeit einem einzigen Gegenstande zu widmen. Seiner Art und seinem Geschmack entsprach durchaus die Herausgabe gelehrter Journale, wie sie damals im Schwange waren, des „Journals zur Kunstgeschichte und allgemeinen Litteratur“ (1775–1789 in 17 Bänden), des „Neuen“ Journals zur Litteratur und Kunstgeschichte“ (1798 und 1799 in 2 Bänden), sowie der der Unterhaltung und Belehrung dienenden Wochenschrift „Der Zufriedene“ (1763 und 1764 in 4 Bänden), die übrigens auch Mittheilungen wissenschaftlichen Inhaltes nicht ausschloß. Es sei übrigens fern von uns, das Verdienstliche dieser Unternehmungen, die ein reiches wissenschaftliches Material für allgemeine Litteratur, Sprachkunde und Geschichte der meisten europäischen Völker, über China und Südamerika erschlossen und ohne Zweifel nicht ohne Anregung blieben, auch nur im Geringsten zu bemäkeln. Die weitverzweigten Verbindungen Murr’s mit einer großen Zahl von Gelehrten, seine Beziehungen, die er mit den als Missionären thätigen gelehrten Jesuiten unterhielt, leisteten ihm hier wesentliche Dienste. Bei seinen archäologischen und kunstgeschichtlichen Studien kam ihm seine gründliche Kenntniß der Alten, sein auf zahlreichen Reisen und sonst durch Autopsie der alten Meisterwerke gebildeter Kunstgeschmack zu Statten. Neben kleineren Arbeiten ist hervorzuheben sein erläuternder Text zu den von Gg. Christian Kilian in Augsburg gestochenen Abbildungen der Gemälde und Alterthümer in dem k. neapolitanischen Museum zu Portici, welche seit 1738 in Herkulanum, Pompeji und in den umliegenden Gegenden ans Licht gekommen, ein für jene Zeit bedeutendes und verdienstvolles Werk, das von 1777 bis 1782 in 6 Theilen bei Christ. Deckardt in Augsburg erschien. Seine allgemein- und localgeschichtlichen Abhandlungen und Beiträge verdienen noch heute in manchen Theilen Beachtung, wenn auch vieles wie z. B. seine „Diplomatische Geschichte des berühmten portugiesischen Ritters Martin Beheim“ durch spätere Darstellung längst in Schatten gestellt ist. Seiner werthvollen Beiträge zur Nürnberger Kunst- und Handwerks- sowie Culturgeschichte überhaupt können wir zum großen Theile auch heute noch nicht entrathen; die in seinen „Vornehmsten Merkwürdigkeiten der Reichsstadt Nürnberg“ – in zwei Auflagen 1778 und 1802 erschienen – leider ohne alle Quellenangabe mitgetheilten Nachrichten zur Nürnberger Bau- und Kunstgeschichte sowie seine sonstigen hierher gehörigen Schriften bilden auch für spätere Arbeiten in nicht unwesentlichen Theilen die Grundlage, wenn sie sich auch im Einzelnen vielfach berichtigen und erweitern lassen. Murr’s Thätigkeit fand auch die gebührende äußere Anerkennung. Verschiedene gelehrte Gesellschaften ehrten ihn durch die Verleihung der Mitgliedschaft, so die historische Gesellschaft in Göttingen, die société d’agriculture, sciences et arts du département du Bas-Rhin zu Straßburg, die ihn einen célèbre litérateur nennt, die k. baierische Akademie der Wissenschaften u. a. Kurz zu berühren sind noch Murr’s Beziehungen zu Klotz und Lessing und seine Stellungnahme in ihren litterarischen Händeln. M. kannte weder den Einen noch den Andern persönlich, unterhielt aber mit Klotz jahrelang einen freundschaftlichen Briefwechsel. Als Lessing’s Laokoon erschienen war, fühlte sich M. zur Abfassung von „Anmerkungen“ zu demselben veranlaßt, die mehrere Aufstellungen Lessing’s berichtigen sollten. Bevor er sie indeß veröffentlichte, machte er Lessing Mittheilung von seinem Vorhaben, der ihm 1768 in einem anerkennenden, aber gegen Klotz ausfallenden Brief vom 25. Novbr. antwortete. Er schätzt, wie er bemerkt, M. „als einen Mann von vieler und großer Litteratur“, glaubt, daß ihm Murr’s „Bekanntschaft sehr vortheilhaft sein könnte“ und bedauert, daß beide nicht an „einem Orte leben“, da [79] er zu schriftlichem Umgange so wenig aufgelegt sei, daß seine ältesten und vertrautesten Freunde, seine Eltern und Anverwandten oft in zwei, drei Jahren keine Zeile von ihm erhielten. Murr’s Anmerkungen über den Laokoon würden ihm auch noch gedruckt sehr willkommen sein. Er merke, was M. besorgt mache, daß er sie vielleicht nicht ohne Bitterkeit aufnehmen möchte. Es sei sein Auftreten gegen Klotz und der Ton ohne Zweifel, den er in seinen antiquarischen Briefen gegen diesen Mann anzuschlagen gezwungen worden. Er spricht die Ueberzeugung aus, daß M. sich nicht das dictatorische Ansehen werde gegeben haben und mit mehr Einsicht, mit verdauteren Kenntnissen, mit mehr Ueberlegung Erinnerungen machen und Widerlegungen abfassen werde als Klotz und daß es ihm dabei lediglich nur um die Aufklärung der Sache, nur um die Wahrheit zu thun sei und nicht um die Eitelkeit, alles besser zu wissen und auch da mit zu sprechen, wo man kein Recht habe mitzusprechen. Was wolle er also von ihm besorgen? Je mehr Fehler und Irrthümer er ihm zeige, desto mehr werde er von ihm lernen: je mehr er von ihm lerne, desto dankbarer werde er ihm sein. Und diese Dankbarkeit werde sich in jedem Worte, das er etwa erwidern dürfte, zeigen … M. gab dann die Anmerkungen heraus, die allerdings an den Ergebnissen des Laokoon nichts zu ändern vermochten, übersandte sie auch an Lessing mit der Bitte, sie als flüchtig hingeworfene, aber wahre Gedanken über seinen Laokoon anzusehen. M. erhielt keine Antwort, aber in der „Hamburgischen Neuen Zeitung“ vom August 1769 war von dem wahren antiken Geschmack fördernden Einfluß des Laokoon die Rede, einer Seite desselben, „die man noch nicht genug erkannt habe, die man aber einmal erkennen werde, wenn alle Klotzisch-Murrische Plackereien längst vergessen seien“, eine Bemerkung, die wir ja keineswegs Lessing selbst zuschreiben wollen, die aber deutlich zeigt, wie man auf seiner Seite über Murr’s Schrift und seine Beziehungen zu Klotz dachte. Sein freundschaftliches Verhältniß zu ihm und eine übermäßige Schätzung seiner Bedeutung und Verdienste auf der einen, sein Unwille über die Behandlung des Freundes in den antiquarischen Briefen auf der andern Seite, nicht zum wenigsten aber die Ueberschätzung des eigenen Werthes und gekränkte Eitelkeit ließen M. leider nicht dahin gelangen, die beiden Gegner mit dem richtigen Maße zu messen. So konnte er dazu kommen, seinen ganzen Unmuth in dem 1772 erschienenen „Denkmal zur Ehre des sel. Herrn Klotz“ auszulassen, einer planlosen, verworrenen Schrift, die angeblich zur Vertheidigung des Freundes abgefaßt war, in der That aber wohl nur bezwecken sollte, einige, wenn auch stumpfe, Pfeile gegen Lessing zu versenden. Es bleibt stets bedauerlich, daß sich M. zu einem solchen Schritte, der ihm einige scharfe Abfertigungen eintrug, verleiten ließ. Wie weit er davon entfernt war, einem Lessing Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, beweist unter Anderm am besten sein unfaßbarer Ausspruch, Klotzens Buch über die Gemmen sei zehnmal nützlicher für den deutschen Künstler als Lessings Laokoon. Von seiner eigenen dichterischen Bedeutung war er so durchdrungen, daß er seine des Witzes und der scharfen Pointirung baren, durch Trivialität des Gedankens und Unzulänglichkeit der Form auffallenden sog. Epigramme denen eines Lessing an die Seite zu stellen sich unterfing. Murr’s dichterische Thätigkeit, worin er sich bisweilen gefiel, war, um auch das noch zu bemerken, seine entschieden schwächste Seite und von so untergeordneter Bedeutung, daß sie sich einer näheren Besprechung entzieht. Man würde M. übrigens Unrecht thun, wollte man bei seiner Beurtheilung die zuletzt besprochenen Seiten in den Vordergrund rücken. Joh. Ferd. Roth bemerkt in der Vorrede des Murr’schen Katalogs vom Jahre 1811, wenn auch seine Schriften zuweilen die Schärfe des Geistes und Urtheils (judicii ingeniique acumen) vermissen ließen, so stimmten doch Gegner wie Freunde darin überein, daß eine wunderbare Wissenschaft, eine seltene Kenntniß [80] der morgen- und abendländischen Sprachen und ein unablässiges Studium der humanistischen Wissenschaften daraus hervorleuchte. Roth bezeichnet ihn als den ersten Sprachgelehrten seiner Zeit und rühmt ihn als den hervorragendsten Repräsentanten auf dem Gebiete der diplomatischen, vaterländischen, Litteratur- und Kunstgeschichte. Schießt hier Roth in seinem überschwänglichen Lob auch weit über das Ziel hinaus, so können doch Murr’s Verdienste um die Local-, Cultur-, Kunst- und Gewerbegeschichte, die auch heute noch anzuerkennen bleiben, nicht in Abrede gestellt werden. M. war, um ihn kurz zu charakterisiren, ein Polyhistor, auch mit den Schattenseiten, die dieser früher häufigeren Gelehrtengattung eigen zu sein pflegten, aber andererseits war sein Streben nachhaltig und ernst genug, um ihm mehr als eine ephemere Bedeutung zu sichern. –
- Will, Nürnbergisches Gelehrtenlexikon und Fortsetzung von Nopitsch. – Adelung’s und Rotermund’s Fortsetzung von Jöcher. – Hallische Allgemeine Literaturzeitung 1811, Nr, wo ein kurzer Nekrolog und Anzeige von J. Alb. Colmar, dem der litter. und artistische Nachlaß Murr’s testamentarisch zugefallen war. – Meusel’s G. T., wo, wie bei Nopitsch und Jöcher, das ausführliche Verzeichniß von Murr’s Schriften nachzusehen, auch noch Bd. 18 vom Jahre 1821. – Joan. Ferd. Rothius, Catalogus librorum quos … M. collegerat.