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Artikel „Docen, Bernhard Joseph“ von Wilhelm Scherer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 5 (1877), S. 278–280, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Docen,_Bernhard_Joseph&oldid=- (Version vom 23. April 2024, 08:46 Uhr UTC)
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Docen: Bernhard Joseph D., altdeutscher Philolog, geb. 1. October 1782 zu Osnabrück als Sohn eines Beamten: die Familie stammte aus Baiern. Er besuchte das katholische Gymnasium seiner Vaterstadt, bezog 1799 die Universität Göttingen, um Medicin zu studiren, wandte sich aber bald der Litteratur und Archäologie zu, indem er sich besonders an Heyne anschloß. 1802 ging er nach Jena und Dresden; im Sommer 1803 treffen wir ihn in Nürnberg schon mit altdeutschen Studien beschäftigt, aus denen zunächst sein „Andenken an Hans Sachs“ hervorging. Seit dem Spätherbst 1803 lebte er in [279] München, von 1804 ab an der Staatsbibliothek beschäftigt, durch die zuströmenden Handschriften aufgehobener Klöster gefesselt, durch Aretin (Joh. Christ., s. Allg. d. Biogr. I. 518) vorzugsweise gefördert, 1806 Scriptor, 1811 Custos, bis er am 21. Novbr. 1828 starb, unverheirathet, freundlos, eine einsame, wenn auch nicht ungesellige Natur. Um die Ordnung und Katalogisirung der Münchener Bibliothek hat er sich die größten Verdienste erworben: die älteren deutschen Manuscripte beschrieb er vollständig; aber auch z. B. in lateinischen Handschriften gelang es ihm, eine große Menge von unbestimmten Stücken richtig zu bestimmen; das entlegenste wußte er aufzufinden; überall begegnet man den Spuren seiner zierlichen Hand. Dabei kam ihm seine Vielseitigkeit zu statten, die ihm sonst nicht überall förderlich war. Bildung und Wissenschaft, so nahe verwandt, sind zuweilen Gegensätze. In D. ist der Fachgelehrte durch den gebildeten Mann gehemmt. Heyne’s Schule und romantische Anregungen blieben bei geringer persönlicher Originalität maßgebend. D. dichtet und läßt die sehr schwachen Eingebungen seiner Muse (baierisch-patriotische Poesien, die Catalani in München und sonstige Gelegenheitspoesie) leider auch drucken. Er zeichnet und übt Kunstkritik, mit Verständniß des Einzelnen, nach gesunden Grundsätzen, im Sinne Goethe’s. Er schreibt über Bibliothekswissenschaft, über den Nachdruck (für 20jährige Frist), über deutsche Orthographie (für lateinische Schrift mit Accenten und kleinere Anfangsbuchstaben), sogar über die Eröffnung der baierischen Landstände. So hätte sich auch seine Thätigkeit für die deutsche Litteratur und Sprache ganz und gar in Broschüren und Journalartikeln verzettelt, wenn er nicht in seinen „Miscellaneen zur Geschichte der teutschen Litteratur“ (2 Bde. 1807) und in dem mit v. d. Hagen und Büsching herausgegebenen „Museum für altdeutsche Litteratur“ (1809–11) einen weiteren Rahmen für seine immer etwas kurzathmigen Arbeiten gefunden hätte. Er trug sich mit großen Plänen, er dachte an grammatische Vergleichungstafeln, an eine Theorie der älteren deutschen Sprache, an eine Ausgabe von Lessing’s Schriften; in seinem Nachlasse fand sich ein Stammwörterbuch der jetzigen deutschen Sprache (in zwei Fassungen), es fanden sich Materialien zu einem mittelhochdeutschen Wörterbuch und Vorarbeiten zu einer mittelhochdeutschen Grammatik. Er wußte im allgemeinen, worauf es in der jungen Wissenschaft ankam, er wußte gleichstrebende Genossen auf manche Fehler aufmerksam zu machen, aber er konnte die Wege des Fortschrittes nicht genauer bezeichnen und er hatte nicht Energie und Sammlung genug, um selbst einen großen Fortschritt zu begründen. Er besaß eine umfassende Kenntniß unserer Litteratur und hat die Forschung durch Einzelmittheilungen und Uebersichten mannigfach gefördert. Aber wie sein Stil etwas mühsames und geziertes behielt und den bündigen sachgemäßen Ausdruck nicht traf, so fehlt ihm bei wissenschaftlichen Combinationen der einfache Gradsinn und die Genialität des unwillkürlichen Treffens. Darum zog er in seinem Streit mit Jakob Grimm über Minnesang und Meistersang (s. den Art. Jakob Grimm) den kürzeren; darum entging ihm bei dem glücklichen Funde der prachtvollen Titurelfragmente die wichtige Entdeckung, daß er ein echtes Werk Wolframs v. Eschenbach vor sich habe und daß der sogen. jüngere Titurel nicht von Wolfram herrühre. Aber er hat das große Verdienst, daß er auf vollständige Induction als Grundlage der Litteraturgeschichte drang: dann werde manches, was für sich unbedeutend scheine, durch die Stelle, die es einnehme, bedeutend werden. Nach dieser Richtung hat er selbst die schönste Wirksamkeit entfaltet. Seine Lebensstellung kam ihm zu Hülfe: er hatte wol Ursache, die Aufhebung der baierischen Klöster in Reimen zu preisen: er pries damit die Grundlage seines eigenen Ansehens, die unerschöpfliche Fundgrube, aus der er alt- und mittelhochdeutsche Schriftdenkmäler hervorholte. Er ist als Herausgeber entfernt nicht mit Benecke oder vollends [280] mit Lachmann zu vergleichen, er hat die Methode des Edirens und Interpretirens nicht verbessert. Er ist von dem Vorwurf der Heimlichthuerei (woran die Sünde der Verschleppung hängt) nicht frei zu sprechen. Er bewegt sich mit Vorliebe auf Nebenwegen und überläßt die Hauptstraße anderen Forschern. Aber er ist scharfsinnig und gewissenhaft; er weiß Fragmentarisches an den richtigen Ort zu stellen; er gibt vielfältige Anregung. So für die Poesie des 12. und 13. Jahrhunderts, für die Mystik des 14. Jahrhunderts, für die Anfänge des Volksliedes. Vor allem jedoch hat er im Gegensatze zu manchen romantischen Zeitgenossen, aber in Uebereinstimmung mit älteren Forschern, wie Junius, Eckhart, Pez, die große Bedeutung erkannt, welche den litterarisch fast werthlosen kleinen Prosadenkmälern, den lateinisch-deutschen Wörterbüchern und den deutschen Worterklärungen in lateinischen Handschriften des 8.–12. Jahrhunderts für die Kenntniß der Sprache zukommt. Diese Glossen und Glossare will er, so weit sie die Bibel betreffen, ihrer Hauptmasse nach auf Hrabanus Maurus zurückführen: eine Meinung, die sich zwar nicht bestätigte, aber doch als Anfang einer gründlichen Untersuchung des inneren Zusammenhangs in diesem weitschichtigen Material stets mit Ehren genannt werden wird. Er hat zugleich durch sein „Glossarium theotisco-latinum“ einen wichtigen Beitrag für das althochdeutsche Wörterbuch geliefert. Diese und überhaupt seine beste Thätigkeit fällt um das J. 1807. Von 1813 an etwa mag er den Vorwurf des Unfleißes verdient haben, den ihm Jakob Grimm einmal macht. Auch jene beste Thätigkeit ist nicht viel mehr als gute Handlangerarbeit. Aber man könnte sagen: D. ist der in einen Handlanger verzauberte Architekt. Denn immer ist sein Herbeischleppen durch die Ahnung des Bauplanes geleitet.

Neuer Nekrolog der Deutschen 1828, II. S. 803–810 (Schmeller). Ersch-Gruber, Sect. I. Thl. 29. S. 334. Raumer, Gesch. 343–354. 395 ff. Görres, Briefe, s. Register. Die deutschen Handschriften zu München II. 538–542. Mitth. Halm’s.