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doch geradezu als Zufall zu bezeichnen, wenn sie in Ruhe wäre! Unendlich viel wahrscheinlicher ist ihre Bewegung, und daraus folgt schließlich, daß das Prinzip richtig sein muß.

Diese Beweisführung dürfte vielleicht nicht genügen; indessen wir können noch in anderer Weise schließen. Die Erde ist so weit von den Sternen entfernt, daß deren Einwirkung auf die terrestrischen Phänomene durchaus vernachlässigt werden kann. Diese Phänomene vollziehen sich also so, als ob keine Sterne vorhanden wären oder als ob die Erde isoliert im Weltenraum schwebt. Und doch wissen wir durch Beobachtung der Gestirne, daß die Erde in Bewegung ist, daß ihre Translationsbewegung nicht immer gleiche Richtung hat, sondern daß die Erde, wie wir uns ausdrückten, alle Augenblicke mal bald von Paris nach Berlin, bald von Berlin nach Paris wandert. Trotz alledem konstatieren wir, daß die terrestrischen Phänomene immer den gleichen Gesetzen unterliegen und durch diese Richtungsänderungen in keiner Weise beeinflußt zu werden scheinen.

Von diesem Gesichtspunkt aus haben also die Begründer der Mechanik seit langer Zeit das Prinzip der Relativität für zulässig erachtet; es bildet auch die Grundlage der alten Mechanik vermittels eines Gedankenganges, den ich Ihnen in aller Kürze darlegen will. Ein Körper möge vom Ruhezustand aus sich in Bewegung setzen infolge einer Kraft, die eine Sekunde lang auf ihn einwirkt. Dieselbe wird ihm dann eine gewisse Geschwindigkeit erteilen, die ich v nennen will, und die durch eine gerade Strecke dargestellt werden kann. Die Kraft fährt nun fort, auf den Körper einzuwirken während einer zweiten Sekunde; die Geschwindigkeit des Körpers wird wachsen, aber um wieviel? Wir wollen uns einen Beobachter vorstellen, der sich mit der Translationsgeschwindigkeit v bewegt und meint, daß er sich in Ruhe befinde. Ihm wird am Schluß der ersten Sekunde der Körper zu ruhen scheinen, weil er ja dieselbe Geschwindigkeit hat wie der Beobachter. Vermöge des Prinzips der Relativität muß für unseren Beobachter die scheinbare Bewegung dieses Körpers dieselbe sein, als wenn dieser Ruhezustand ein wirklicher wäre, d. h. am Ende der zweiten Sekunde wird die relative Geschwindigkeit des Körpers in bezug auf den Beobachter v sein, und da der Beobachter selbst schon eine Geschwindigkeit v hat, wird die absolute Geschwindigkeit des Körpers 2v sein. Die Geschwindigkeit wird sich also in der zweiten Sekunde verdoppeln. Man ersieht in gleicher Weise, daß sie nach Ablauf von 3 Sekunden 3v wird, nach Ablauf von 4 Sekunden 4v und so fort. Die Geschwindigkeit kann also, wenn die Kraft nur genügend lange wirkt, über alle Grenzen wachsen.

Diese Schlußfolgerung erscheint unantastbar. Ganze Generationen von Studierenden und Gelehrten haben sie immer in der gleichen Weise gemacht, ohne die Fehler zu bemerken, während wir jetzt aus eben diesem Prinzip der Relativität absolut entgegengesetzte Folgerungen ziehen müssen. Nur dadurch, daß wir diese Ergebnisse mit der sehr einfachen Schlußfolgerung, welche gegen sie zu sprechen scheint, vergleichen, werden die Fehler uns vor Augen treten; es wird dann freilich auch nötig sein,

Empfohlene Zitierweise:
Henri Poincaré: Die neue Mechanik. B.G. Teubner, Leipzig 1911, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PoincareMechanik.djvu/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)