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anschließen, sowie diese Tatsachen besser in ein harmonisches Ganzes einreihen lassen.

Es gibt ein Prinzip, welches in der alten Mechanik eine geradezu grundlegende Rolle spielt, das „Prinzip der Relativität“. Dieses Prinzip ist es auch, das in veränderter und erweiterter Form die Grundlage der „Neuen Mechanik“ bildet. Was hat es nun mit diesem „Prinzip der Relativität“ für eine Bewandtnis, worin besteht sein Wesen, wie läßt es sich aussprechen, und schließlich, welche Erfahrungstatsachen liegen demselben zugrunde? Es ist Ihnen allen bekannt, daß unsere Sinne uns nur die Kenntnis der relativen Lagenverhältnisse der Körper im Raume vermitteln; unser Auge kann uns nur Rechenschaft geben über die Lage der Körper inbezug auf das Auge selbst, es verrät uns dagegen nichts über deren absolute Lage. Es ist unfaßbar, wie der Mensch weiter vordringen könnte; bewaffnet er sein Auge mit einem noch so vollkommenen Teleskop, immer wieder wird er, genau so wie mit bloßem Auge, zu relativen Lagen geführt, und aus diesem Grunde muß man sich fragen, ob der Ausdruck „absolute Lage“ überhaupt einen Sinn hat. Ich für meinen Teil verzichte auf eine solche Fragestellung, denn ich weiß nur allzugut, daß sie sinnlos ist. Kurz und gut, unsere Raumvorstellung ist relativ, und dasselbe gilt auch von der Zeit.

Wir wollen uns nun ein Weltsystem vorstellen, so entfernt von den übrigen Weltsystemen, daß diese gar keinen Einfluß auf dasselbe ausüben, daß es von deren Existenz überhaupt gar nichts in Erfahrung bringen kann. Es handle sich beispielsweise um ein Sonnensystem, dessen Fixstern­Mitglieder nicht mehr gesehen werden können. Denken wir uns, daß die Sonne, gegen welche das ganze System gravitiert, sich im Ruhezustande befinde, oder denken wir uns, daß sie durch den Weltraum eile mit einer Geschwindigkeit, die tausendmal größer ist als diejenige einer Kanonenkugel, und daß sie dabei alle ihre Planeten mit sich führe. Die Bewohner dieser Planeten werden von alledem niemals etwas erfahren können; es steht ihnen kein Mittel zur Verfügung, sich darüber Gewißheit zu verschaffen, ob sie in Ruhe sind oder sich bewegen. Alle von ihnen beobachteten Vorgänge spielen sich genau in derselben Weise ab, ob das eine oder das andere der Fall ist. Hierin ist das Prinzip der Relativität ausgesprochen, dessen Konsequenzen uns bald beschäftigen werden.

Was ist nun der „ruhende Punkt“ in der Erscheinungen Flucht? Einen solchen kann es doch nur geben! Eine Fülle metaphysischer Gründe hat die Menschheit stets bewogen, einen solchen ruhenden Punkt im Weltall anzunehmen. Diese Gründe können ­- das wird Ihnen klar sein -­ aber nicht gegen die Tatsachen streiten, wenn die tägliche Erfahrung nicht für sie spricht. Da der Raum an sich und durch sich selbst keinen aktiven Einfluß ausüben kann, wurde man naturgemäß zu der Ansicht geleitet, daß, wenn Körper in ihm eine gemeinsame Bewegung ausführen, d. h. sich gegeneinander nicht verschieben, daß dann alles sich genau so abspielt, wie wenn diese Körper in Ruhe wären. Das sind freilich nur metaphysische Überlegungen, auf welche die tiefer ins Wesen der Dinge eindringenden Gelehrten kein allzu großes Gewicht legen. Indessen schon

Empfohlene Zitierweise:
Henri Poincaré: Die neue Mechanik. B.G. Teubner, Leipzig 1911, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PoincareMechanik.djvu/4&oldid=- (Version vom 1.8.2018)