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dieser Moleküle; d. h. die Atome der Chemiker erscheinen uns heute wie sehr komplizierte Gebäude, die aus negativen Elektronen, d. h. negativ elektrisch geladenen Teilchen, aus positiven Elektronen und vielleicht auch aus neutral sich verhaltenden Teilchen aufgeführt sind. Am faßlichsten dürfte es sein, sich ein chemisches Atom als eine Art Sonnensystem vorzustellen, in dem der die Sonne repräsentierende Zentralkörper ein positives Elektron ist, um welches sich zahlreiche kleine Planeten, nämlich die negativen Elektronen bewegen. Nun sind aber die in den Kathodenstrahlen ausgeschleuderten Projektile sowie auch die vom Radium herrührenden negative Elektronen; mit diesen allein ließ sich bisher nur experimentieren. Für sie ist es sichergestellt, daß sie keine reelle Masse besitzen, daß das, was wir ihre Masse nennen, nichts anderes als etwas Scheinbares ist, das den elektrischen Vorgängen seinen Ursprung verdanken wird. Unerwiesen aber ist es bis jetzt, ob dasselbe auch für die positiven Elektronen gilt. Man hat mit ihnen nicht experimentieren können, weil sie gewissermaßen viel zu derb sind und daher keine genügend große Geschwindigkeit erlangen können. Man könnte für sie also noch annehmen, daß sie eine wirkliche Masse besitzen, und dann würden sie die Träger der eigentlichen Materie sein, während die negativen Elektronen nur Elektrizität ohne materielle Unterlage darstellen würden.

Erkennt man aber das Prinzip der Relativität als richtig an, so muß man folgerecht schließen, daß die wirkliche Masse der positiven Elektronen, sowie auch die der sich neutral verhaltenden Teilchen – falls es solche gibt – genau nach demselben Gesetz veränderlich ist, das die scheinbaren Massen von elektromagnetischem Ursprung befolgen. In diesem Fall aber stehen wir zwei Hypothesen gegenüber: entweder haben die positiven Elektronen auch keine wirkliche Masse, sondern besitzen nur eine scheinbare Masse, oder sie haben zwar eine wirkliche Masse, aber diese Masse ist veränderlich.

In jedem dieser Fälle befinden wir uns weit ab von den hinsichtlich der Materie geläufigen Vorstellungen. Lavoisier hat uns gelehrt, daß die Materie sich weder aus sich selbst heraus vermehren noch zerstören kann, daß das „Prinzip der Erhaltung der Materie“ besteht. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, daß die Masse unveränderlich ist, und hat dies durch die Wage bestätigt gefunden. Nun erfahren wir, daß die Körper keine Masse haben, oder daß diese Masse doch keine unveränderliche bleibt! Es soll damit nicht gesagt werden, daß das von Lavoisier begründete Gesetz keinen Sinn mehr hat, denn irgend etwas wird sicherlich von Bestand sein, und dieses Etwas wird mit der Masse bei kleinen Geschwindigkeiten zusammenfallen. Aber schließlich ist doch der Begriff den wir an das Wort Masse knüpfen, vollkommen auf den Kopf gestellt. Das, was wir Materie nannten, war früher die ganze Masse, das war das, was an sich das Greifbare und zugleich das Dauerhafte war. Und jetzt, jetzt soll diese Masse nicht mehr existieren!

Die Materie ist jetzt ganz passiv geworden. Die Eigenschaft, den Kräften, die ihre Bewegung zu ändern suchen, Widerstand zu leisten,

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Henri Poincaré: Die neue Mechanik. B.G. Teubner, Leipzig 1911, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PoincareMechanik.djvu/19&oldid=- (Version vom 1.8.2018)