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Erst die Kathodenstrahlen haben uns das erste Beispiel von Geschwindigkeiten geliefert, die viel, viel größer sind. Ihnen allen sind die Glasröhren bekannt, in denen die Kathodenstrahlen zustande kommen. Man ist nun zu der Überzeugung gelangt, daß diese Kathodenstrahlen von Teilchen gebildet werden, die außerordentlich winzig sind, und die man sich als Träger von negativer Elektrizität zu denken hat. Man hat tatsächlich diese Strahlen auf einem Metallzylinder sammeln können, und dieser Zylinder, der beständig negative Elektrizität aufnahm, lud sich sehr rasch. Später hat man dann das Radium entdeckt. Diese merkwürdige Substanz sendet drei Arten von Strahlen aus, welche man nach den drei griechischen Buchstaben α, β, γ benennt. Die sogenannten β-­Strahlen verhalten sich durchaus analog wie die Kathodenstrahlen. So erzeugt denn auch das Radium ein beständiges Bombardement auf die Körper seiner Umgebung. Dieses unterscheidet sich aber insofern von dem Artilleriefeuer der europäischen Armeen, als das Kaliber der Geschosse viel kleiner ist; dafür ist aber die Schnelligkeit des Feuerns und vor allem die Anfangsgeschwindigkeit der Geschosse viele Hunderttausende Mal größer. Diese Geschosse sind ebenfalls geladen wie diejenigen unserer Geschütze, aber nicht mit Pulver, sondern mit negativer Elektrizität. Wie läßt sich nun die Geschwindigkeit dieser Projektile messen? Sie wissen, daß elektrische Körper aufeinander wirken: sie ziehen sich gegenseitig an und stoßen sich ab. Unsere kleinen Projektile sind geladen; bringt man sie also in ein elektrisches Feld, d. h. zwischen zwei Scheiben, die mit den beiden Polen einer Elektrisiermaschine oder eines Induktionsapparates verbunden sind, so werden sie von einer Kraft beeinflußt, die sie von ihrem Weg abzulenken sucht. Die Kathodenstrahlen werden also durch ein elektrisches Feld von ihrer ursprünglichen Richtung abgelenkt. Die Größe der Ablenkung hängt von der Geschwindigkeit der Moleküle ab; sie wird außerdem noch von deren Masse beeinflußt sein, d. h. von dem Beharrungswiderstand, welchen das Projektil den Einflüssen entgegensetzt, die es abzulenken suchen.

Doch noch mehr: die besagten Projektile tragen elektrische Ladungen mit sich, und diese Ladungen befinden sich in Bewegung, ja sogar in einer ganz gewaltig schnellen Bewegung. Elektrizität in Bewegung bedeutet aber soviel wie ein elektrischer Strom; wir wissen nun aber, daß Ströme durch Magneten, d. h. durch magnetische Felder abgelenkt werden. Die Kathodenstrahlen werden also durch den Magneten von ihrer ursprünglichen Richtung abgelenkt. Diese Ablenkung wird, wie die oben erwähnte elektrische, von der Geschwindigkeit und der Masse des Projektils abhängen, nur nicht in derselben Art. Unter sonst gleichen Umständen wird die magnetische Ablenkung größer sein als die elektrische, falls die Geschwindigkeit größer ist. In der Tat, die magnetische Ablenkung rührt von der Wirkung des Magneten auf den Strom her, sie wird also in dem Maße größer sein, als der Strom stärker ist. Der Strom wird aber in dem Grade stärker sein, als die Geschwindigkeit größer ist, weil es ja die Bewegung der Projektile ist, die den Strom erzeugt.

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Henri Poincaré: Die neue Mechanik. B.G. Teubner, Leipzig 1911, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PoincareMechanik.djvu/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)