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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

Stellt diese ideale Forderung sich als unerfüllbar heraus, so bleibt dem Philologen nur die Möglichkeit, auf das Latein als Darstellungsmittel überhaupt zu verzichten.

Latein als Sprache der Politik.Wie das Latein seine Rolle als Sprache der Wissenschaft selbst auf dem Gebiet der Philologie nahezu ausgespielt hat, so ist es vom politischen Felde heute gänzlich verschwunden. Einst war es hier Herrscherin, bis das Französische an seine Stelle trat. Dann blieb ihm Ungarn bis in unsere Zeit hinein als letzter Zufluchtsort, nun ist es mit der Nationalisierung des Landes auch dort verdrängt. So ist es nur ein Gebiet noch, auf dem die Macht des Lateins unverändert fortbesteht, freilich ein großes und sicheres – das der katholischen Kirche.Latein als Sprache der Kirche.

Neulateinische Literatur.Wenn wir bei dieser Übersicht über die Geschichte des Lateins in Mittelalter und Neuzeit bisher die Form in den Vordergrund gestellt haben, so empfiehlt sich jetzt ein Blick auch auf den Inhalt dieser neulateinischen Literatur, um die Behauptung zu erhärten, daß in ihr unverlierbares Gut der Menschheit niedergelegt ist. Hierbei ist der zeitlichen Anordnung die nach Literaturgattungen durchaus vorzuziehen. Bei solcher Einteilung stellt sich nämlich sofort heraus, daß die Prosa weitaus bedeutsamere Leistungen aufzuweisen hat als die Poesie.

Denn, um mit dieser letzteren zu beginnen, die neulateinische Poesie Poesie.hat nur auf zwei verhältnismäßig beschränkten Feldern Ertrag geliefert, der, nach Form und Inhalt eigenwüchsig, neue Spielarten der Dichtung darstellt: auf dem des kirchlichen Hymnus und dem der Vagantenlieder. Unter dem übrigen ist zwar vieles, was an sich oder als Glied der gesamten neueren Literaturentwicklung, d. h. meist gerade als Stück der einzelnen nationalen Literatur, höchst interessant ist, aber wohl nicht eine Leistung, die sich unter die wirklichen Großtaten der Poesie stellen dürfte. Gern gäben wir die lateinische Dichtung der Karolingerzeit, so manches im Mittelalter.formgewandte und inhaltlich interessante Stück sie enthält, für gleichzeitige deutsche Poesien dahin; lieber läsen wir den Waltharius manu fortis, der heute durch Scheffels Umdichtung allgemein bekannt ist, in der alten nationalen, dem Sagenstoff entsprechenden Form als in den vergilischen Hexametern des Ekkehard. Aber wir müssen dem Schicksal dankbar sein, daß seine Launen diesen frühen Urkunden unseres Volkes zur lateinischen Form verholfen haben, ohne die vielleicht auch sie wie so vieles andere Gleichzeitige uns verloren wären. Fügen wir nur noch die Komödien der Nonne Hrotsvith von Gandersheim hinzu, die zwar in Prosa, aber doch in ausgesprochener Anlehnung an Terenz christliche Legendenstoffe formt, so sehen wir auch an diesem Beispiel dieselbe Erscheinung: eine an sich nichts weniger als klassische Leistung in lateinischer Sprache wird für uns von höchstem Interesse, weil sie nichts Ähnliches in nationaler Form neben sich hat. Die Geschichte unserer ältesten Dichtung hat es zum großen Teil mit Lateinischem zu tun.

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 560. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/572&oldid=- (Version vom 1.8.2018)