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„nicht herausgegeben“, bezeichnete ursprünglich die aus irgend einem Grunde nicht veröffentlichten oder absichtlich verheimlichten Schriften; Anekdota bezeichnete dann zunächst eine nur mündlich überlieferte Erzählung eines einzelnen kleinen Erlebnisses, eines Ausspruches und dergleichen; vom Geschichtsschreiber übersehen oder der Veröffentlichung nicht für würdig erachtet, meistens eine kleine pointierte Erzählung.

Die Anekdote ist nicht selten Sage und zeigt uns eine geschichtliche Persönlichkeit, einen Helden, einen Fürsten in rein menschlichen Charakterzügen; sie hilft dem gewöhnlichen Manne erst so recht, sich seine Geschichte zu bilden, da die reine nackte Geschichte, die sich nur an aktenmäßige Tatsachen hält, dem gewöhnlichen Manne fremd bleibt und ihn kalt läßt. Die Anekdote durchbricht die ehrfurchtsvolle Entfernung des gewöhnlichen Erdenbürgers von dem Manne großer Taten, dem Herrscher auf dem Throne, wie es ja auch die historische Sage tut. Sie läßt uns gleichsam durch die Fenster in die Privatgemächer des Schlosses und durch den Busch in den abgesperrten Teil des königlichen Parkes einen gern geworfenen Blick tun. Darum hat das Volk auch gerade die Bilder seine Lieblingshelden und Lieblingsfürsten mit dem Blätter- und Blütenschmuck solcher sagenhaften Anekdoten oder besser anekdotenhaften Sagen umkränzt. Dadurch bringt es sich auch die Größten und Mächtigsten, die Erhabensten und Glänzendsten als freundlich lachende und scherzende, aber auch als menschlich leidende Erdenkinder näher; doch sind der letzteren Fälle weniger. So sind gerade im deutschen Volke echtes Heldentum und echter Humor stets verbunden gewesen; so nur konnten Gestalten wie Siegfried, Hermann der Cherusker, Karl der Große, Friedrich Barbarossa, Luther, der alte Fritz, Zieten, Blücher und viele andere zu echt volkstümlicher Größe emporwachsen. So wird Geschichte mit Poesie verwoben. Der alte Fontane wollte in den geschichtlichen Anekdoten sogar das „Beste aller Historie“ sehen und meinte: „Was tue ich mit den Betrachtungen! Die kommen von selbst, wenn die kleinen und großen Geschichten, die heldischen und mesquinen zu mir gesprochen haben.“ Und Professor Wichner sagt nicht mit Unrecht: „Die Anekdote ist volkstümliche Geschichte; sie erzählt kürzer, sie beleuchtet ihre Helden mit einem Blitzlicht, aber sie charakterisiert oft vortrefflicher als der gewissenhafte

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Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/20&oldid=- (Version vom 31.7.2018)