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Ausdauer wieder aufnimmt, weitere Aufschlüsse geben werden.

Die Frage, ob und wieso ein Einfluss der Erdbewegung auf die elektrischen und optischen Erscheinungen an der Erdoberfläche sich nicht entdecken lässt, ist zur Zeit noch keineswegs spruchreif. H. A. Lorentz selbst hat wohl kaum gemeint, sie durch Aufstellung des Hypothesensystems H, I, K, L endgültig zu lösen. Er hat wohl nur zeigen wollen, dass das Fehlen eines bemerkbaren Einflusses nicht unbedingt gegen die allgemeinen Grundhypothesen A B C, D der Elektronentheorie spricht, sondern dass diese Hypothesen sich mit anderen widerspruchsfrei so kombinieren lassen, dass der Einfluss der Erdbewegung bei allen beobachtbaren Erscheinungen fortfällt.

Sollte auf dem Gebiete der Kathoden- und Becquerelstrahlung sich die auf den Hypothesen A bis G fussende Dynamik des Elektrons auch weiterhin bewähren, hingegen eine durch die Erdbewegung bedingte Doppelbrechung dispergierender Körper von der Ordnung 10-9, die aus diesen Hypothesen im Verein mit H, I[WS 1] folgt, nicht zu konstatieren sein, so bleiben noch verschiedene Möglichkeiten offen.

In Anbetracht unserer mangelhaften Kenntnisse über die Molekularkräfte liegt es nahe, die Hypothese H aufzugeben bezw. abzuändern. Ist es doch bisher keineswegs gelungen, die Molekularkräfte in ruhenden Körpern in befriedigender Weise elektrisch zu deuten.

Auch die Natur der angenommenen quasielastischen Kräfte, welche die Elektronen in ihre Gleichgewichtslage ziehen sollen, ist uns unbekannt. Ihre Deutung auf elektromagnetischer Grundlage würde die elektromagnetische Theorie der Spektrallinien ergeben. Eine solche Theorie besitzen wir leider nicht; wir sind demnach sehr weit davon entfernt, die optischen Eigenschaften ruhender Körper auf Grund der Elektronentheorie vollkommen zu verstehen. Die Hypothese I schwebt daher vollständig in der Luft, sie ist der Abänderung sehr wohl fähig.

Man hat bei der Abwägung der Wahrscheinlichkeit der verschiedenen Hypothesen im Auge zu behalten, dass die Vorstellungen über die Natur der Molekularkräfte bezw. der quasielastischen Kräfte noch weit weniger geklärt, und der experimentellen Prüfung weit weniger zugänglich sind, als die Vorstellungen über die Beschaffenheit des freien negativen Elektrons. Man wird daher eine Theorie, welche das Verhalten des freien negativen Elektrons richtig beschreibt, welche sich aber nicht in befriedigender Weise in eine auf den Hypothesen H, I fussende Optik bewegter Körper einordnet, nicht aufzugeben geneigt sein. Eher wird man die Hypothesen H, I derart zu modifizieren suchen, dass eine Übereinstimmung mit der Gesamtheit der Beobachtungen erzielt wird.

Im neunten Paragraphen meiner Arbeit über die Dynamik des Elektrons[1] habe ich Formeln für die Energie- und Impuls-Strahlung aufgestellt, die von einem rasch bewegten und gleichzeitig beschleunigten Elektron entsandt wird. Neuerdings habe ich die ausführliche Ableitung dieser Formeln nachgetragen[2] und ihre Bedeutung für die Theorie des bewegten leuchtenden Punktes erörtert. Bei diesen Untersuchungen wird, wie ich mehrfach ausdrücklich betont habe, das Elektron als Punktladung betrachtet, was bei Berechnung der Strahlung unter gewissen Bedingungen gestattet ist. Die Resultate dieser Untersuchungen sind demnach unabhängig von jeder Hypothese über die Beschaffenheit des Elektrons; sie fussen ausschliesslich auf den Grundhypothesen A bis D der Elektronentheorie. Die Verfolgung des Lorentzschen Ansatzes und jedes mit ihm übereinstimmenden, muss daher bezüglich der Strahlung zu genau identischen Ergebnissen führen, es sei denn, dass Überlegungsfehler, etwa Verstösse gegen das Dopplersche Prinzip oder fehlerhafte Anwendungen des Poyntingschen Satzes, dabei unterlaufen.

Es wäre dringend zu wünschen, dass die auf dem Gebiete der Elektronentheorie schriftstellernden Autoren, dem Beispiele von H. A. Lorentz folgend, in klarer und unzweideutiger Weise von den Hypothesen Rechenschaft geben mögen, die ihren Untersuchungen zu grunde liegen, anstatt ihre unklaren Ausführungen nachträglich als „hypothesenfrei“ hinstellen zu wollen. Eine Abweichung in den Endresultaten derartiger „hypothesenfreier“ Theorien hat sich zuweilen auf mangelnde Sorgfalt des betreffenden Autors zurückführen lassen. Autoren, die sich nicht einer klaren Darlegung ihrer Grundhypothesen und einer sorgfältigen Entwicklung der aus denselben abgeleiteten Folgerungen befleissigen, können nicht beanspruchen, weiterhin einer ernsten Beachtung gewürdigt zu werden.

Edinburgh, d. 28. Juli 1904.

(Eingegangen 30. Juli 1904.)
  1. l. c. S. 153. Die gleichen Formeln sind, wie ich bemerke, unabhängig von O. Heaviside, Nature 67, p. 6, gefunden worden.
  2. Ann. d. Phys. 14, S. 273, 1904.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Der Scan enthält nach H, ein zusätzliches Leerzeichen, wofür hier ein I eingesetzt wurde, da die Doppelbrechung dispergierender Körper in Zusammenhang mit den beiden Hypothesen H, I steht.
Empfohlene Zitierweise:
Max Abraham: Die Grundhypothesen der Elektronentheorie. S. Hirzel, 1904, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Grundhypothesen_der_Elektronentheorie.djvu/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)