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schafft den Sozialismus, indem ihr die materialistische Betrachtungsweise auch eurem Werk zugrunde legt!

Konnte den Inhabern der kapitalistischen Macht ein größerer Gefallen erwiesen werden als durch solche Lehre? Sind sie nicht sittlich gerechtfertigt, wenn die Sozialisten die Weltanschauung, auf der ihr verwünschtes System ruht, zum Sockel der eigenen Welt erwählen? Die Mittel der Zerstörung eines schlecht befundenen Gesellschaftsbaues mögen von seinen Verteidigern in die Hände der Angreifer gezwungen werden, wie der Kampf gegen Bewaffnete kaum anders als mit Waffen geführt werden kann; wer aber zum Bau einer neuen Gesellschaft die Bausteine der gestürzten benutzen will, der wird zugleich dem alten Geist die neuen Einzugstore bauen. Der Sozialismus hat mit dem Kapitalismus keine Gemeinschaft, nicht in der ökonomischen Struktur noch im ideologischen Inhalt. Daß der Sozialismus an die Stelle des Kapitalismus treten soll, hat seinen Grund nicht in der praktischen Logik zweckdienlicher Oekonomie, sondern im moralischen Gewissen der gerechten Denkart. Wir verabscheuen den Hunger der Armen, und zwar um der Gerechtigkeit willen!

Jede Erklärung, was Gerechtigkeit sei, erübrigt sich. Denn das Vermögen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, ist eine dem Menschen von Natur innewohnende Gabe, genau wie die Gabe, Lust und Schmerz zu empfinden. Allerdings ist Lust- und Schmerzgefühl schon in der ersten Stunde des Lebens unterscheidbar, während das Gefühl für Recht und Unrecht erst herangebildet werden muß. Aber dies beweist nichts gegen seine Eigenschaft als instinktmäßige Anlage. Auch das Gehen, die Unterscheidung der Farben, die Sprache, das Urteil über schön und häßlich muß im Menschen entwickelt werden, und doch zweifelt niemand, daß es sich hier um lauter naturgegebene Fähigkeiten handelt. Das Wissen von Recht und Unrecht ist das soziale Bewußtsein im Menschen, ohne daß uns fremde Not gar nicht als eigene Angelegenheit berühren könnte. Wie aber Lust und Schmerz aus körperlichen oder seelischen Anlässen entstehen, die im Gegensatz zu den Gefühlen der Beeinflussung und Veränderung durch den menschlichen Willen unterliegen, so wird auch das soziale Bewußtsein durch menschliche Veranstaltungen oder Unterlassungen erregt. Der in unserer geistigen Wesenheit begründete Wille zur Gerechtigkeit wird befriedigt oder beleidigt, indem bestimmte Grundforderungen des sozialen Gewissens erfüllt oder enttäuscht werden. Die erste soziale Grundforderung ist Gleichberechtigung. Sie bedeutet Gerechtigkeit durch Gleichheit. Bedingung ihrer Verwirklichung ist jedoch die Verpflichtung der Gleichberechtigten auf Gegenseitigkeit. Der Kampf der Arten gegen einander – alles Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen beruht auf Tötung einer Art durch die andere und Umsetzung der Substanz der vernichteten Kreatur in Lebenskraft des Vernichters –, dieser Kampf um die Erhaltung der Arten findet seine Ergänzung in der organisierten Unterstützung der Artgenossen zu Daseinskampf, Verteidigung und gesellschaftlicher Zuchtpflege. Wie weit Kameradschaftsbünde verschiedener Arten, beziehungsweise Substanzumwandlungen innerhalb gleicher Arten in der Natur vorkommen, ist in diesem Zusammenhange belanglos. Sicher ist indessen, daß von allen auf gesellschaftliches Zusammenwirken angewiesenen Geschöpfen allein der Mensch den Kampf planvoll auf die eigene Art ausgedehnt hat, und zwar nicht, wie das bei manchen Tieren und bei den Kannibalen geschieht, um Ernährungsschwierigkeiten zu beheben, sondern um ungleiches Recht in derselben Gattung zu schaffen und dadurch Machtgelüste zu befriedigen. Gegenseitige Hilfe ist ebenso Bestandteil der Gleichberechtigung, wie soziale Ungleichheit jede Gegenseitigkeitsbeziehung unmöglich macht. Die kapitalistische Gesellschaft zerstört die soziale Gemeinschaft der Gegenseitigkeit und setzt an ihre Stelle die gegenseitige Unterstützung einer machthungrigen Minderheit bei der Entrechtung und Ausbeutung der in künstlicher Zersplitterung gehaltenen Gesamtheit der die gesellschaftlichen Werte schaffenden Kräfte. Wohl hat ein großer Teil des Proletariats erkannt, daß auch sein Heil nur in der Vereinigung zur gegenseitigen Hilfeleistung gesucht werden kann, doch greift sein Kampf bis jetzt in sehr geringem Maße über die Abwehr der schlimmsten Wirkungen der kapitalistischen Vergewaltigung hinaus, und sein Kampfziel beschränkt sich selbst da, wo die Verbindung schon unter sozialistischen und kommunistischen Losungen erfolgt ist, fast überall auf nur materielle Umgestaltung des Lebens. Der Angriff richtet sich ausschließlich gegen die Erscheinungsformen des Kapitalismus, gegen die Wirkungen der Besitzmacht auf die Lebenshaltung, die Gesundheit und die soziale Stellung der besitzlosen Klasse, aber, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, nirgends gegen die moralischen Grundsätze, die Werden, Wachsen und Wirken des Kapitalismus möglich gemacht haben und deren Beseitigung mit dem Sturz des Wirtschaftssystems zugleich erfolgen

Empfohlene Zitierweise:
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/9&oldid=- (Version vom 31.7.2018)