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Sie schließen die Augen vor der naturgegebenen Tatsache, daß der Mensch ein gesellschaftlich lebendes Wesen ist und die Menschheit eine Gattung, in der jedes Individuum auf die Gesamtheit, die Gesamtheit auf jedes Individuum angewiesen ist. Wir bestreiten die Möglichkeit und auch die Wünschbarkeit des vom Ganzen losgelösten Individuums, dessen vermeintliche Freiheit nichts anderes sein könnte als Vereinsamung, mit der Folge des Untergangs im sozial luftleeren Raum. Wir behaupten: niemand kann frei sein, solange es nicht alle sind. Die Freiheit aller aber und damit die Freiheit eines jeden setzt voraus die Gemeinschaft im Sozialismus.

Sozialismus ist, wirtschaftlich gesehen, die klassenlose Gesellschaft, in welcher der Grund und Boden sowie alle Produktionsmittel der privaten Verfügung entzogen sind, somit weder Grundrente noch Unternehmerprofit noch auch die Abgeltung vermieteter Arbeitskraft durch Lohn oder Gehalt die schaffenden Hände und Hirne um den Ertrag ihrer Mühen berauben können. An der Stelle der privaten oder staatlichen Ausbeutung steht die planmäßige gemeinsame Bewirtschaftung des Gemeineigentums, an der Stelle der bevorrechtigten Minderheit der Besitzenden jedes Landes die zum Volk geeinte Gesamtheit in allen Ländern.

Sozialismus ist über die wirtschaftliche Begriffsdeutung hinaus ein sittlicher Zustand und ein geistiger Wert. Denn er bedeutet nicht nur vernünftige Regelung von Arbeit, Verteilung und Verbrauch und dadurch Sättigung und Befriedigung aller natürlichen Bedürfnisse des materiellen Lebens für alle; er bedeutet auch Erfüllung derjenigen sittlichen Forderung, deren Mißachtung die Menschen schwerer beleidigt und bei der Gewöhnung tiefer herabwürdigt als Hunger und jede andere leibliche Entbehrung: der Forderung der Gleichberechtigung. Not, Elend jeder Art, die Last höchster Anstrengung unter trübsten Verhältnissen ist zu ertragen, wenn die Last unter allen gleich verteilt ist, wenn im lebendigen Gemeinschaftsgedanken das Leid des einzelnen mit dem allgemeinen Leide verschmilzt und somit auch der Wille, die Ursachen des Unglücks zu beseitigen, aus dem Gefühl der Verbundenheit aller mit allen erwächst. Nicht zu ertragen jedoch ist oder sollte wenigstens sein die Not, die der Ausdruck ungerechter Zustände ist. Eine Gesellschaft, die Kinder Mangel leiden läßt, die der[1] Mehrzahl der Menschen in der Entwicklung, in der Blüte des Lebens und im Alter das genügende Sonnenlicht, die reine Luft zum Atmen, gesunde Ernährung, Erholung, Reinlichkeit, Pflege des Körpers und Ausweitung des Geistes vorenthält, um einer Minderheit Reichtum und Macht zu gewährleisten; eine Gesellschaft, in welcher die entbehrungsvolle Arbeitsüberbürdung der einen den mühelosen Wohlstand der andern schafft; eine Gesellschaft, die nicht imstande ist, allen arbeitsfähigen und nach Arbeit begehrenden Menschen selbst bei kümmerlichster Entlöhnung Arbeit zu geben, und die den noch beschäftigten Ausgebeuteten die ganze Last der Erhaltung der Erwerbslosen mitsamt der Last fast der ganzen Kosten des der Aufrechterhaltung dieses Irrsinns dienenden Verwaltungsapparates aufpackt, zu dem einzigen Zweck, die soziale Ungleichheit zugunsten der Nutznießer des kapitalistischen Wirtschaftsverfahrens zu verewigen; kurz eine Gesellschaft wie die, in welcher wir leben, kann nicht durch bloße Veränderung ihres materiellen Gefüges in eine sozialistische verwandelt werden. Die Marxisten irren in der Annahme, die geistigen und sittlichen Eigenschaften der Menschen erständen mechanisch aus den Produktionsformen der Wirtschaft, die religiösen, rechtlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Zeit seien nichts als der ideologische Ueberbau der materialistischen Gegebenheiten. Hier findet ununterbrochene, in der Reihenfolge nicht unterscheidbare Wechselwirkung statt. Der Kapitalismus brauchte ebensowohl geistige wie materielle Voraussetzungen, um die Herrschaft über die Völker anzutreten; er mußte den Geist der ihm hörig gemachten Menschen durch sorgfältigen Einfluß auf Erziehung und Bildung willfährig halten, das Unrecht von Ausbeutung und Ungleichheit als schicksalhafte Unabänderlichkeit zu ertragen. So bedarf auch der Sozialismus geistiger Vorbereitung zur Verwirklichung und der Rechtfertigung nicht allein aus seinen materiellen Vorteilen für die Mehrzahl der Menschen, sondern aus seinem geistigen Gehalt. Diese Rechtfertigung ist aber nur möglich, wenn der Sozialismus, über seine Eignung, geistige Werte zu entwickeln hinaus, selbst als geistiger Wert erwiesen und erkannt wird. Die Erneuerung der wirtschaftlichen Beziehungen im Sozialismus kann im Sinne der Gleichberechtigung aller nur wirksam werden bei gleichzeitiger Erneuerung der geistigen Beziehungen zwischen den Menschen, wie nur erneuerte geistige Beziehungen imstande sind, im Wirtschaftlichen aus dem Individualismus der Ungleichheit den Sozialismus der Verbundenheit zu schaffen.

Indem also der kommunistische Anarchismus mit allen sozialistischen Lehren einig geht in der Zielsetzung der wirtschaftlichen Gleichheit als Grundlage des Verkehrs der Menschen untereinander, betrachtet er diese gesellschaftliche Umgestaltung im Gegensatz

Empfohlene Zitierweise:
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)
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