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durchdachten und sorgfältig errechneten Vorschläge nicht irgendwelchen Regierungsstellen, sondern der selbstverantwortlichen Arbeiterklasse insgesamt, die selber alles prüfen, selber verbessern, selber die Ausführung überwachen muß durch diejenigen Organe, welche sie selbst ausschließlich für diesen Zweck bestimmt, ohne sie deswegen auch nur zeitweilig aus der tätigen Gemeinschaft aller zu entlassen. Diese Organe werden die soziale Triebkraft der Revolution bedeuten, sie werden von der Stunde des Sieges an Wirtschaft und Verwaltung des Gemeinwesens in den Händen führen, sie werden in der Zeit des Ueberganges und während der ganzen Entwicklung der sozialistischen Arbeits- und Gesellschaftsformen die Ordnung der Freiheit betreuen und verbürgen, sie werden die kommunistische Anarchie schaffen und in der anarchistischen Gemeinschaft die Träger der Föderation der Arbeits- und Menschheitsbünde bleiben. Diese Organe sind die freien Räte der Arbeiter und Bauern.

Ueber Wesen, Sinn und Aufgaben des Rätesystems herrschen weithin die unklarsten Vorstellungen, und selbst in den freiheitlichen Arbeiterverbänden gibt es die widersprechendsten Auffassungen darüber, ob und in welcher Weise Räte zu schaffen seien und wirken sollen. Diese Verwirrung ist auf die Spitze getrieben durch die Uebernahme des Rätebegriffs in Staatsgesetze und kapitalistische Produktionsmethoden. Man hat, um der Forderung der Arbeiter, die Betriebseinrichtungen und das Arbeitsverfahren unter eigener Aufsicht zu halten, scheinbar entgegenzukommen, Belegschaftsausschüsse an den Arbeitsstätten zugelassen, ihren Mitgliedern den Namen Betriebsräte gegeben und damit eine revolutionäre Gesellschaftswurzel in die Saugpumpe der kapitalistischen Ausbeutung eingebaut. Zugleich hat man das dem Rätewesen gegensätzlichste System der parlamentarischen Auszähldemokratie benutzt, um die Zusammensetzung jener mit engsten Rechten ausgestatteten Kontrollausschüsse von Parteizentralen aus zu lenken und in ihrer Abhängigkeit zu halten. Selbst da, wo schon die Revolution unter der Losung „Alle Macht den Räten!“ den Sieg der Arbeiter und Bauern brachte, wurden die Räte staats- und parteiuntertan und, statt das öffentliche Geschehen zu bestimmen und in sozialistischem Geiste zu leiten, zu bloßen Werkzeugen der Obrigkeit erniedrigt. Wenn, wie es hin und wieder vorkommt, Anarchisten hieraus den Schluß ziehen, die ganze Räte-Idee sei nunmehr als freiheitswidrig erwiesen, so begehen sie denselben Denkfehler wie jemand, der aus dem Gebaren der Staatsjustiz folgern wollte, es könne niemals ein gesellschaftliches Recht geben. Die Verfälschung eines Gedankens kann nicht den Gedanken selbst widerlegen.

Räte als die Träger der sozialistischen Gemeinschaft sind die Beauftragten aller am allgemeinen Werk beteiligten Menschen, durch die sich die Gesamtheit der Tätigen mit jeder einzelnen Person in den gesellschaftlichen Lebensprozeß einschaltet. In einer von Ausbeutung befreiten Zeit versieht ausnahmslos jeder Mensch, der sich nicht etwa selbst außerhalb des sozialen Geschehens stellt, Rätedienste. Nur für die Zeit des revolutionären Ueberganges müssen selbstverständlich diejenigen von aller Rätearbeit ferngehalten werden, gegen die sich die Revolution richtet. Da es erste Verpflichtung der Räte ist, die kapitalistische Ausbeutung abzuschaffen und das sozialistische Gemeinwesen zu verwirklichen, können Personen, die den Sozialismus gar nicht wollen, nicht zum Aufbau des Sozialismus herangezogen werden. In dieser Zeit fällt den Räten die besondere Aufgabe zu, die Zwangsmaßregeln der proletarischen Klasse durchzuführen, die zur Brechung gegenrevolutionärer Bestrebungen erforderlich sind und zu verhindern, daß sich unter Berufung auf Gefährdungen der Revolution neue Regierungsgebilde auftun, die von Rätemacht reden, um ihre eigne Macht dahinter zu befestigen, und die von einer Diktatur des Proletariates sprechen, um selber Diktatoren spielen zu können.

Die Anarchisten tun gut, sich des Ausdrucks Diktatur des Proletariates so wenig wie möglich zu bedienen, obwohl bei richtigem Auffassen des Rätebegriffs und ohne Hinterhältigkeit kaum etwas anderes darunter verstanden werden könnte als die Niederhaltung von Widerständen gegen die proletarische Revolution durch die proletarische Klasse. Die zwangsmäßige Unterdrückung gegenrevolutionärer Verschwörungen durch bewaffnete Bekämpfung, Revolutionsgerichte und jede andere geeignete Art von Sicherungsmaßnahmen ist solange nötig, wie die besiegte Klasse noch über Machtmittel verfügt und Angriffe auf die revolutionären Rechte der Arbeiterklasse zu befürchten sind. Eine revolutionäre Diktatur von Klasse gegen Klasse ist im Kampfzustand unerläßlich, aber diese Diktatur ist nichts anderes als die Revolution selbst. Jedoch kann keiner revolutionären Einzelperson, keiner Gruppe, keiner Partei und keiner Auslese der Revolution das Recht zugestanden werden,

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Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/40&oldid=- (Version vom 31.7.2018)