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autoritären Kräften dazu erzogen, befreiende Wagnisse anderer nicht zuzulassen. Darum bildet die Riesenzahl der am Kampf nicht unmittelbar teilnehmenden Schichten eine außerordentlich große Gefahr für den sozialen Sieg der politischen Revolution. Denn gegen den Willen dieser Mehrheit ist der endgültige Sieg nicht möglich. Die Revolution ist auf ihre mindestens abwartende Duldung bedingungslos angewiesen. Darum ist es notwendig, zunächst die Befürchtung der Passiven zu widerlegen, es könne, wie stets noch jede Aenderung, auch der Umsturz neue Belastung für sie bringen. Darüber hinaus aber muß die Zustimmung, allmählich dann die tätige Unterstützung der innerlich Unbeteiligten erreicht werden. Sie müssen zu der Einsicht gebracht werden, daß sie mit der Wahl der Machthaber, von denen sie regiert werden wollen, keine Ueberzeugung kundtun, sondern nur ihre Ueberzeugungslosigkeit als Schemel für ihre Unterdrücker selber zur Verfügung stellen. Sie müssen erkennen, daß die Regsamkeit jedes einzelnen im gesellschaftlichen Leben dem eigenen Nutzen dient. Denn solange die Machtgierigen von Ohnmächtigen gebeten werden, sie zu regieren, hat die Revolution noch nicht einmal die Voraussetzungen ihres Sieges geschaffen.

Die Macht der Ausbeuter zerbricht in der politischen Revolution. Deren stärkstes Mittel, der Generalstreik, führt die vollständige Lahmlegung der gesamten Wirtschaft herbei, erbringt damit zugleich für die beiseitestehenden Massen den Beweis, daß die kapitalistischen Mächte kein Brot geben können, wenn ihnen die Hände des Proletariats nicht dienstbar sind. Mit dem Augenblick aber, wo die Revolution gesiegt, das heißt, die Bestimmung über den öffentlichen Apparat erlangt hat, hat sie vor der abwartenden Masse die Pflicht, zu zeigen, daß das arbeitende Volk sehr wohl in der Lage ist, ganz unabhängig von den kapitalistischen Gewalten alles Lebensnotwendige herbeizuschaffen. Hier erwächst den Anarchisten, mögen ihre Organisationen noch so klein sein, die Aufgabe, Vorsorge zu treffen. Sobald die rote Fahne des revolutionären Proletariats auf den Staatsgebäuden erscheint, ist das das Zeichen, daß nun die Verantwortung für die Versorgung der Massen auf die Revolution übergeht. Da muß vorher berechnet und geregelt sein, daß unmittelbar nach Aufhören des allgemeinen Streiks Brot, Fleisch, Gemüse, Milch für jeden Tisch, Stärkung und Arznei für jedes Kind und jeden Kranken bereit ist. Die Zufuhr an allem lebensnotwendigen Bedarf darf keine Stunde verzögert werden. Nur wenn das gelingt, kann die Revolution die allgemeine Volkstümlichkeit gewinnen, ohne die sie dem Huf der Gegenrevolution oder der Verfälschung durch eine Machtzentrale erliegen muß. Es wird gelingen, wenn das flache Land der revolutionären Sache gewonnen ist und mit den Bauern Vereinbarungen getroffen sind, wie je nach den örtlichen Verhältnissen die Verpflegung der Städte durch die Dörfer zu organisieren ist. Solche Verständigung mit den Bauern und dem Landproletariat setzt voraus, daß die Landbevölkerung von der Ehrlichkeit der Revolutionäre überzeugt ist, nicht zu argwöhnen braucht, daß die Städter sie als notwendiges Uebel betrachten, mit dem man sich listig einzurichten habe, daß es proletarische Auffassungen gibt, nach denen den Bauern die Aecker nicht genommen, sondern überantwortet werden sollen, und daß sie nicht an Stelle der alten Herrschgewalten des Staates neuen ausgeliefert werden, sondern unabhängig von zentralen Gesetzgebungsgewalten die Fragen der Bodenverteilung und -bearbeitung selber entscheiden werden. Da der Anarchismus im Gegensatz zum Marxismus die Agrarrevolution für die Bedingung der industriellen und der gesellschaftlichen Gesamtumwälzung hält, überdies in der Abneigung gegen obrigkeitliche Verfügungen, Führeranmaßung und jeglichen Zentralismus mit der bäuerlichen Denkweise weitgehend übereinstimmt, erschließt sich seinen Anhängern hier ein fruchtbares Tätigkeitsfeld. An den Anarchisten ist es, die Bauern der Revolution zu gewinnen und sie der freiheitlichen Sache ergeben zu halten. Den Anarchisten fällt die Aufgabe zu, Kameradschaft zwischen Stadt und Land, gegenseitige Hilfe für den Augenblick der revolutionären Erprobung zu sichern und damit das Beste dafür zu tun, daß das Vertrauen auf die soziale Gerechtigkeit der Revolution ihrem Siege von Anfang an die Gunst und weiterhin die Unterstützung der gleichgültigen Massen einträgt.

Wie die Notwendigkeiten der Volksernährung in den revolutionären Kampftagen schon jetzt Gegenstand der Ueberlegung willensverbundener Menschen sein müßten, so sollten sich die Anarchisten die Aufgabe stellen, die wirtschaftliche Organisation der künftigen Gesellschaft in den Einzelheiten zu durchdenken und Vorarbeiten für die Ueberführung der kapitalistischen zur sozialistischen Wirtschaft zu leisten.

Empfohlene Zitierweise:
Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/38&oldid=- (Version vom 15.12.2020)