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innerhalb eines Gesellschaftssystems möglich sind. Wie die Entstehung von Bergen und Inseln in der Natur nach einem langen Entwicklungsvorgang von unterirdischen Umschichtungen durch die plötzliche Sprengung der die Ausweitung hemmenden Bestandteile des Meeresgrundes oder des Erdinnern geschieht, wie jede Geburt dadurch erfolgt, daß sich ein während des vorbereitenden Werdens im Mutterleibe eingeschlossenes, zu eigenem Sein bereites Lebewesen gewaltsam den Zutritt zum Licht erzwingt, so kann auch das Werden neuer Gesellschaftszustände nur nach geeigneter Vorbereitung und vorgeburtlicher Entwicklung durch revolutionären Ausbruch vor sich gehen. Wenn schlechte, faulige, unerträgliche Zustände herrschen, so ist das allerdings noch nicht genug, um der Revolution die Bahn frei zu machen. Die vorgeburtliche Arbeit an der neuen Gesellschaft muß soweit gefördert sein, daß ihr befruchteter Keim sich aus der Umschließung befreit und die Aufgabe der Revolutionäre sich in der Dienstleistung von Geburtshelfern erschöpft, denen danach die weit schwierigere Pflicht zufällt, die Revolution am Leben zu erhalten und ihr ein Wachstum zu sichern, dem alle Krankheitserreger der früheren Gesellschaft ferngehalten werden, und das die Ausformung des vorgestellten Ideals zur Wirklichkeit der lebendigen Menschengemeinschaft verbürgt.

Der Weg der Anarchie ist somit zunächst ein Weg revolutionärer Vorbereitung. Vorbereitung der Revolution geschieht auf dreifache Weise: durch Werbung, indem das Wesen der verwerflichen Zustände aufgezeigt und zu ihrer Beseitigung und zur Schaffung wünschenswerter Zustände ermahnt wird; durch Selbsterziehung, indem die Wahrnehmung schlechter Einrichtungen den Vorsatz weckt, sie zu ändern; endlich durch Kampf. In der anarchistischen Lehre ist nichts enthalten, was irgendeinen Menschen von der Teilnahme an den Zurüstungen zur Revolution ausschlösse, der sich durch sein Verhalten nicht selbst ausschließt. Die kommunistischen Anarchisten sind indessen in wohl allgemeiner Uebereinstimmung davon überzeugt, daß die Beseitigung übler Veranstaltungen und Einrichtungen nicht von denen zu verlangen ist, die sie geschaffen haben oder Nutzen aus ihnen ziehen, sondern daß alle Befreiung Sache derer ist, die die Fesseln der Unfreiheit tragen. Der Kampf gegen die Eigentumsrechte ist von denen zu führen, denen das Eigentum vorenthalten wird, der Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung von den Ausgebeuteten und Unterdrückten, der Kampf gegen Herrenrechte von den Sklaven und Entrechteten. Gleichberechtigung, Gegenseitigkeit und Selbstbestimmung nach Maßgabe des sozialen Gewissens wird kämpferisch vorzubereiten sein von denen, auf deren Kosten die Ungleichheit und das Vorrecht, die Obrigkeit und der unsoziale Eigennutz sich auswirken. Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat wird also vornehmlich von der Klasse zu leisten sein, zu deren Niederhaltung das kapitalistische System den Staat braucht, deren Gefügigkeit durch die Autorität von Kirche und Schule, durch die Machtgebilde von Vaterschaftsfamilie und Einehe, durch die Gewöhnung an zentralistische Organisationsformen zur Erreichung feindlicher Trennungen innerhalb aller Lebensgebiete, durch die Pflege nationalen und rassischen Dünkels, durch Gesetze, Strafen, Steuern, durch Erwerbslosigkeit, Hunger, Elend, schlechte Luft, Bevormundung und Entwürdigung betrieben wird. Die Befreiung vom Staat ist Befreiung aus der Klassenknechtung, die geknechtete Klasse muß Trägerin des Befreiungskampfes sein. Der Kampf für kommunistische Anarchie ist daher während der Zeit der revolutionären Vorbereitung als Klassenkampf zu führen.

Die Bejahung des Klassenkampfes durch die kommunistischen Anarchisten ergibt sich aus dem Bekenntnis zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit als notwendige Folge. Die Klassenscheidung der Gesellschaft im Staate ist eine Kampfmaßnahme des Kapitals gegen die Vermieter ihrer Arbeitskraft, die Proletarier. Indem die Arbeiter den Kampf als Klasse aufnehmen, betonen sie das natürliche Recht auf die eigene Bestimmung über ihre Lebenslage. Die Einsicht, daß die staatlichen Grenzziehungen Aeußerungen des Klassensystems sind, indem die künstliche Verfeindung der Arbeiter der verschiedenen Länder durch Züchtung nationaler Vorurteile die Verbrüderung der Ausgebeuteten verhindert, – diese Einsicht war der leitende Gedanke bei der Verständigung zur ersten Arbeiter-Internationale. Der grundlegende Wahlspruch aber, der sich international zusammenfindenden Arbeiterklasse war das Gelöbnis der Selbständigkeit des Proletariats in seinen Meinungen und Beschlüssen. Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! In dieser Festlegung ist das Bekenntnis zur Selbstverantwortlichkeit, zur Gleichberechtigung, zur gegenseitigen Hilfe und zur Freiwilligkeit enthalten, wie in der internationalen Einigung zugleich die Verneinung des Staates,

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Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/30&oldid=- (Version vom 31.7.2018)