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gegen andere Staaten, das Verlangen nach Eroberung, Unterdrückung, Ausbeutung der Völker jenseits der Staatsgrenzen, den Nationalismus aufzupfropfen.

Nation ist Völkerschaft, also eine räumliche verbundene, durch gemeinsame Lebensbedingungen, Sprache und Gewohnheiten zusammengehörige Menschengemeinschaft. Die Begriffe Nation und Volk decken sich ungefähr, sofern sie einfach zur Unterscheidung der verschiedenen in Ländern zusammengefaßten Menschheitsteile gebraucht werden. Nationalität bedeutet Zugehörigkeit zu einem Volk. In keinem dieser Worte ist mehr enthalten als ein Bestimmungsmerkmal, keins drückt einen abmeßbaren Wert aus. Erst mit der Zerspaltung der Völker in Klassen, mit ihrer Unterwerfung unter den Krieger-, den Priester-, den Grundherrn-, den Kapitalistenstand gewann die Nation den Sinn eines moralisch gestützten Herrschaftsgebildes, und heute ist Nation längst die feierliche Bezeichnung für den nüchternen Machtbegriff Staat. Nationalismus ist die Gesinnung, die den eigenen Staat für den vor allen anderen ausgezeichneten hält, welcher kraft der Tugenden des in ihm organisierten Volkes das sittliche Anrecht habe, seine Grenzen ständig zu erweitern, seine Gesetze und sittlichen Lehren anderen Völkern als maßgeblich aufzuzwingen und fremden Arbeitsertrag den eigenen Machthabern nutzbar zu machen. Nationalismus ist die weihevolle Verklärung des Staatsgedankens, die Uebertragung der autoritären Familienmoral auf die Völker.

Hält sich in der zur gesellschaftlichen Einrichtung erhobenen und gesetzlich geschützten Vaterschaftsfamilie der Machtgedanke hinter rührseligen Vorwänden als Züchtigkeit, Angehörigenliebe, Blutsverbundenheit verborgen – lauter Dinge, die vorhanden sein können oder auch nicht, die aber niemals von äußerlichen Rechtssatzungen abhängen –, so erklärt der Nationalismus die Macht offen zum sittlichen Grundsatz und erhöht den Befehlsapparat der Arbeitsmitteleigentümer, den Staat, zum erhabenen Träger der also geheiligten Macht. Um des Nation oder Volk genannten Staates willen wird der Artbegriff der Menschheit aus dem Bewußtsein der Menschen gestrichen, an Stelle der Gleichberechtigung aller Artgenossen das Vorrecht für das in den eigenen Landesgrenzen zentralistisch regierte Volk begehrt, der Anspruch auf Unterjochung, Beherrschung, Versklavung der anderen Völker verkündet, die kriegerische Gewalttat, die Beraubung, ja Ausrottung jenseits der Landesgrenze wohnender Bevölkerungen zur Pflicht gemacht, Grausamkeit, Tücke, Lästerung, Mordbrennerei, Verleugnung aller angeborenen sozialen Empfindungen für Tapferkeit und nationales Recht ausgegeben und jeder Machtvorteil des eigenen Staates unterschieds- und bedenkenlos heilig gesprochen.

Es ist gewiß richtig, daß alle Kriege, alle staatlichen Grenzerweiterungen und nationalen Ansprüche materiellen Nutzen erzielen sollen. Aber es trifft hier wie überall zu, daß der Machtzweck allen materiellen Zwecken übergeordnet ist, daß die Beherrschung von Menschen durch Menschen der leitende Beweggrund aller Unterdrückung ist, wenn auch allerdings die wirtschaftliche Ueberlegenheit unentbehrliches Mittel zur Erlangung von Macht bleibt. Beweis für das Uebergewicht des Machtstrebens über das bloße Bereicherungsbedürfnis ist der stets erfolgreiche Anruf der nationalen Gesinnung im Falle drohender Machtschmälerung oder angeblicher Beleidigung der nationalen Würde, unter welcher nichts anderes verstanden werden kann als Geltung, Maßgeblichkeit, Autorität. Die zum nationalen Kampf bereiten Massen haben für sich selbst ökonomische Vorteile so gut wie nie zu erwarten, mit dem Versprechen ausmünzbarer Belohnung werden sie auch nur in beschränktem Maße in Begeisterung versetzt; aber ihre Zugehörigkeit zur Nation wird ihnen als seelischer Wert einleuchtend gemacht, das heißt, das ihnen aus dem Kirchenglauben und dem Familiensinn geläufige Autoritätsbewußtsein wird zum nationalen Machtrausch gesteigert, indem jedem Individuum der Stolz geschwellt wird, sich selbst als Teil einer weltwichtigen Autorität fühlen zu dürfen. So wird dem ausgebeuteten Volk das Machtgelüst auf einen ideellen Nenner gebracht, in seiner Vorstellung das räumlich abgesteckte Staatsgebiet zu einem religiösen Begriffswert erhoben, der zentralisierte Regierungskörper priesterlich umschmückt, als ob er nicht das regelnde Organ kapitalistischer Machtverhältnisse, sondern das Sinnbild ehrfurchtgebietender Schöpferkraft wäre; und zugleich verständigt sich die ausbeutende Oberschicht über alle Ländergrenzen hinweg zur gemeinsamen Wahrung ihrer Eigentumshoheit, schließt Vereinbarungen ab, die ihre Klassenstellung zur wirklichen, von keinem Nationalismus eingeengten Macht durch Gewinn und Reichtum festigen. Die Machtverständigung

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Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/24&oldid=- (Version vom 31.7.2018)