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der Arbeit zur Hervorbringung der Güter auf die beherrschte Klasse abgewälzt, der überdies durch die Formen der kapitalistischen Produktionsweise die Freude am Schaffen gründlich vergällt ist, da der Proletarier weder beschließen kann, was er schafft, noch dank der Teilarbeit unter seinen Händen etwas Nützliches entstehen sieht, noch gar irgend einen Vorteil von seiner Arbeit hat oder auch nur mitbestimmen kann, welchem Verwendungszweck sie zugeführt wird. Der Genuß der Natur ist ihm infolge ungesunder Wohnverhältnisse, Entrechtung bei der Festsetzung seiner Freizeit, ungenügender Ernährung und allgemein unfroher Lebensbedingungen wesentlich geschmälert, die künstlerischen Schöpfungen sind ihm ohnehin kaum zugänglich, da die Zulassung zu ihnen fast immer von Geldaufwand abhängig ist und die herrschende Klasse auch durch die verschiedene Schulung dafür gesorgt hat, daß der beste Teil der Kunst und Dichtung ganz und gar ihrer Sinnesart angemessen ist und folglich dem Verständnis der arbeitenden Massen verschlossen bleibt. Die einzige Freude, welche im Erleben selbst schlechterdings einem Teil der Menschheit durch den anderen nicht gekürzt werden kann, weil die Natur keine Stufenleiter der Lustfähigkeit nach Maßgabe der menschlichen Rechtsunterschiede eingerichtet hat, ist die Beglückung der Sinne durch die Liebe und den Geschlechtsrausch. Hier mußte erst nachhaltige Einwirkung auf die Seele der Menschen erfolgen, hier mußte schlechtes Gewissen geschaffen werden, um selbst in dem einzigen Lebenskreis, der dem Armen noch das Gefühl des Glücks und der Beseligung läßt, die Selbstbestimmung zu beseitigen, die amtliche Bewachung durchzusetzen, Macht und Autorität zu entfalten.

Mit Hilfe der unbezweifelbaren und unentrinnbaren Autorität Gottes wurde den Menschen weisgemacht, die Befriedigung ihres Geschlechtstriebes könne von der Brandmarkung als Laster nur befreit werden, wenn sie sich innerhalb der Bindung der beiden Eheteilhaber als pflichtmäßige Zweckhandlung zur Kindererzeugung vollziehe; diese Bindung müsse auf Lebenszeit geschlossen werden, bedürfe der Zustimmung und Abstempelung durch Kirche oder Staat, und jede körperliche Vereinigung zwischen Mann und Frau außerhalb der genehmigten Ehe sei sträfliches Tun, im Falle der ehelichen Gebundenheit eines der beiden schändlicher Ehebruch. Die Sicherung dieser Bindung erfolgte durch die naturwidrige Erhebung der Vaterschaft zum geschützten öffentlichen Rechtsgut. Naturwidrig ist das aus der Vaterschaft abgeleitete gesellschaftliche Recht deshalb, weil der Erzeuger eines Kindes immer nur der Mutter bekannt sein, niemals von Dritten festgestellt werden kann, auch Aehnlichkeit und vermeintliche Vererbung von Eigenschaften über Vermutungen hinaus keine Beweiskraft haben. Erst die Uebertragung vorbehaltloser Befehlsgewalt auf den Mann ergab die Möglichkeit, die Vaterschaftsfamilie dadurch zu befestigen, daß die Frau und die Kinder in sklavenhafter Abhängigkeit gehalten und unter eine Aufsicht gezwungen werden, die alle Selbstbestimmung zum Ungehorsam, das Begehen selbstgewählter Wege zur Gefahr macht. Um also die Geschlechtsbetätigung unter die Macht der öffentlichen Zentralstellen zu bringen, stattete man den Kindererzeuger innerhalb der Familie mit zentralen Machtbefugnissen aus, machte ihm das Aufpassen auf die Frau in ihrem gesamten Triebleben und der Frau das gleiche Aufpassen auf den Mann in seinem geschlechtlichen Verhalten zur sittlichen Pflicht, erzog zugleich die Kinder im Geiste strenger Unterordnung vom Anfang des Lebens an und erweckte in ihrem Nachahmungsdrang mit dem Vorbilde der väterlichen Machtvollkommenheit von frühauf das Streben, selbst Macht zu erwerben.

Auf keinem anderen Gebiet ist die Abtötung der natürlichen Lebensinstinkte in dem Maße gelungen wie im Bezirk der Geschlechtlichkeit. Selbst bei Anhängern autoritätsfeindlicher Lehren trifft man vielfach die Neigung, dem Recht auf Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Gleichheit im eigenen Familienkreise den Einlaß zu verwehren. Das wird mit der Behauptung erklärt, die Eifersucht sei ein angeborenes, darum unbedingt gültiges Gefühl, in der Liebe naturhaft begründet und daher als Stütze der Gegenseitigkeitsbeziehung den Gattenanspruch auf Ausschließlichkeit der Geschlechtsgemeinschaft moralisch rechtfertigend. Aus solcher Sinnesart spricht nichts als völlige Verfangenheit in den autoritären Vorstellungen, wie sie Kirche, Staat und Schule in jahrtausendlanger inbrünstiger Mühe den zur Beherrschung auserkorenen Gemütern eingeflößt haben. Wer auf die Geschlechtshingabe eines anderen Menschen einen Rechtsanspruch erhebt, verlangt die Preisgabe der eigenen Verfügung eines anderen Menschen über sich selbst, will Besitzer einer zweiten Person sein, ist Sklavenhalter; wer umgekehrt den Anspruch eines anderen auf seinen Körper anerkennt, begibt sich notwendig des Rechtes auf sich selbst in allen Lebensbeziehungen

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Erich Mühsam: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Fanal-Verlag Erich Mühsam, Berlin 1933, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat.djvu/21&oldid=- (Version vom 31.7.2018)