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um seine Lippen. Und verließ ich ihn des Abends, so hielt er mich oft mit einem Ausdruck fest, als litte er alle Qualen eines Abschieds auf immer. Wir sahen uns täglich. Bald aber merkte ich, wie mein Vater durch Einladungen und Verabredungen aller Art meine Besuche bei Georg zu hindern suchte. Erinnerte ich ihn an sein Versprechen, so wurde er heftig, setzte ich seinen Wünschen Widerstand entgegen, so konnte ich sicher sein, bei der Heimkehr die Mutter verweint, die Schwester verschüchtert, den Vater stumm und finster wieder zu finden. Blieb ich des Abends fort – Versammlungen und Kommissionssitzungen, über die ich in unserer Zeitschrift berichten mußte, machten es häufig genug notwendig –, so schlich ich mich in zitternder Furcht nach Hause, weil der Vater mich schon oft mit den ungerechtfertigsten Vorwürfen empfangen hatte. Jeder Artikel, den ich in unserem Blatt unter meinem Namen schrieb – die Anonymität war mir als eine Feigheit verhaßt –, gab Anlaß zu den peinlichsten Auseinandersetzungen, und die politischen Ereignisse der Zeit benutzte er, um das, was mir heilig war, maßlos zu verunglimpfen. Ich wurde schließlich von einem so dauernden, Angstgefühl gefoltert, daß ich oft meinte, vom Verfolgungswahn gepackt zu sein. Der täglich wiederholte Versuch, vor Georg heiter zu sein, mißlang immer vollständiger, und eines Tages gestanden wir einander das Unerträgliche unseres Zustands.

„So willst du wirklich – wirklich diesen Krüppel heiraten, den man im Mittelalter der Zauberei angeklagt, und ganz gewiß verbrannt haben würde?“ sagte er mit ungläubigem Lächeln.

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 582. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/584&oldid=- (Version vom 31.7.2018)