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danken erfassen, der durch Gott den Vater und durch die Verkündigung vom unendlichen Wert der Menschenseele bezeichnet ist. Hier kommen die Elemente zum Ausdruck, die ich als die ruhenden und die Ruhe gebenden in der Verkündigung Jesu bezeichnen möchte, und die zusammengehalten sind durch den Gedanken der Gotteskindschaft. Ich nenne sie die ruhenden im Unterschied von den impulsiven und zündenden Elementen, obgleich gerade ihnen eine besonders mächtige Kraft innewohnt. Indem man aber die ganze Verkündigung Jesu auf diese beiden Stücke zurückführen kann – Gott als der Vater, und die menschliche Seele so geadelt, daß sie sich mit ihm zusammenzuschließen vermag und zusammenschließt –, zeigt es sich, daß das Evangelium überhaupt keine positive Religion ist wie die anderen, daß es nichts Statutarisches und Partikularistisches hat, daß es also die Religion selbst ist. Es ist erhaben über allen Gegensätzen und Spannungen von Diesseits und Jenseits, Vernunft und Ekstase, Arbeit und Weltflucht, Jüdischem und Griechischem. In allen kann es regieren, und in keinem irdischen Element ist es eingeschlossen oder notwendig mit ihm behaftet. Wir wollen uns aber das Wesen der Gotteskindschaft im Sinne Jesu deutlicher machen, indem wir vier Spruchgruppen bezw. Sprüche von ihm kurz betrachten, nämlich 1. das Vater-Unser, 2. jenes Wort: „Freuet euch nicht, daß euch die Geister unterthan sind, freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel angeschrieben sind“[WS 1], 3. den Spruch: „Kauft man nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig, und doch fällt derselben keiner auf die Erde ohne euren Vater; also sind auch eure Haare auf dem Haupte gezählt“[WS 2], 4. das Wort: „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele“[WS 3].

Zuerst das Vater-Unser. Es ist in einer besonders feierlichen Stunde von Jesus seinen Jüngern mitgeteilt worden.[AU 1] Sie hatten ihn aufgefordert, er möge sie beten lehren, wie Johannes seine Jünger beten gelehrt habe. Hierauf hat er das Vater-Unser gesprochen. Für die höheren Religionen sind die Gebete das Entscheidende. Dieses aber – das empfindet Jeder, der es nicht gedankenlos an seiner Seele vorüberziehen läßt – ist gesprochen von Einem, der alle innere Unruhe überwunden hat oder sie in dem Augenblicke überwindet, da er vor Gott tritt. Schon die Anrede „Vater“ zeigt die Sicherheit des Mannes, der sich in Gott geborgen weiß, und spricht die Gewißheit der Erhörung aus. Er

Anmerkung des Autors (1908)

  1. Ob Lukas den Anlaß der Mitteilung des Vater-Unsers richtig wiedergegeben hat, ist mindestens zweifelhaft (s. meine Abhandlung über das Vater-Unser in den Sitzungsberichten der Preuß. Akad. d. Wiss., 21. Jan. 1904). Auch hat die ursprüngliche Form des Gebets wahrscheinlich nur die Anrede und die 4., 5. und 6. Bitte enthalten, und das übrige (bei Lukas und Matthäus verschieden) sind Zusätze der Gemeinde (a. a. O.). Aber auch diese Zusätze sind aus der Verkündigung Jesu geflossen und lehren uns seine Art des Gebets; ja unsere Anschauung ist durch die Kritik eine reichere geworden, weil diese uns auch den Reflex des Gebetes Jesu in seinem Jüngerkreise zeigt. Immerhin ist hiernach einiges im Texte S. 42 Gesagte zu berichtigen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Lk 10,20.
  2. Mt 10,29f.
  3. Mt 16,26.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 041. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/045&oldid=- (Version vom 30.6.2018)