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heit“ war überall eine geläufige, ja sogar die damalige Wissenschaft faßte einen großen Kreis krankhafter Erscheinungen so auf. Eben deshalb aber, weil die Erscheinungen so gedeutet wurden, daß eine böse geistige Macht von dem Menschen Besitz ergriffen habe, nahmen die Gemütskrankheiten Formen an, wie wenn wirklich ein fremdes Wesen in die Seele eingedrungen sei. Das ist nicht paradox. Gesetzt den Fall, unsere heutige Wissenschaft würde erklären, daß ein großer Teil der Nervenkrankheiten aus Besessenheit stamme, und diese Erklärung verbreitete sich durch die Zeitungen im Volke, so würden wir bald wieder zahlreiche Fälle erleben, in denen Gemütskranke wie von einem bösen Geist ergriffen zu sein scheinen und glauben. Die Theorie und der Glaube würden suggestiv wirken und „Dämonische“ genau ebenso unter den Geisteskranken erzeugen, wie sie sie Jahrhunderte, ja Jahrtausende hindurch erzeugt haben. Es ist also ungeschichtlich und thöricht, dem Evangelium und den Evangelien eine ihnen eigentümliche Vorstellung oder gar „Lehre“ von den Dämonen und den Dämonischen zuzuschreiben. Sie nehmen nur an den allgemeinen Zeitvorstellungen Teil. Heute begegnen wir diesen Formen der Geisteskrankheiten nur noch selten; ausgestorben sind sie jedoch noch nicht. Wo sie aber auftreten, ist heute noch wie damals das beste Mittel, ihnen zu begegnen, das Wort einer kräftigen Persönlichkeit. Sie vermag den „Teufel“ zu bedrohen, zu bezwingen und so den Kranken zu heilen. In Palästina müssen die „Dämonischen“ besonders zahlreich gewesen sein. Jesus erkannte in ihnen die Macht des Übels und des Bösen, und durch die wunderbare Gewalt über die Seelen derer, die ihm vertrauten, bannte er die Krankheit. Dies führt uns auf das Zweite.

Als Johannes der Täufer im Gefängnis von Zweifeln bewegt wurde, ob Jesus der sei, „der da kommen soll“[WS 1], sandte er zwei seiner Jünger zu ihm, um ihn selbst zu fragen. Nichts ergreifender als diese Frage des Täufers, nichts erhebender als die Antwort des Herrn! Doch wir wollen die Scene selbst nicht überdenken. Wie lautet die Antwort? „Gehet hin und saget dem Johannes wieder, was ihr sehet und höret; die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören, die Toten stehen auf, und den Armen wird das Evangelium gepredigt.“[WS 2] Das ist das „Kommen des Reichs“, oder vielmehr in diesem Heilandswirken ist es bereits da. An der Überwindung und Weg-

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 11,3.
  2. Mt 11,4-5.
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 038. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/042&oldid=- (Version vom 30.6.2018)