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gelium ist in allen Stücken identisch mit seiner ersten Form: dann ist es mit der Zeit gekommen und mit ihr gegangen; oder aber es enthält immer gültiges in geschichtlich wechselnden Formen. Das letztere ist das Richtige. Die Kirchengeschichte zeigt bereits in ihren Anfängen, daß das „Urchristentum“ untergehen mußte, damit das „Christentum“ bliebe; so ist auch später noch eine Metamorphose auf die andere gefolgt. Von Anfang an galt es Formeln abzustreifen, Hoffnungen zu korrigieren und Empfindungsweisen zu ändern, und dieser Prozeß kommt niemals zur Ruhe. Eben dadurch aber, daß wir, wie den Anfang, so den ganzen Verlauf überschauen, verstärken wir unseren Maßstab für das Wesentliche und wahrhaft Wertvolle.

Wir verstärken ihn – aber wir brauchen ihn nicht erst der Geschichte der Folgezeit zu entnehmen. Die Sache selbst giebt ihn an die Hand. Wir werden sehen, daß das Evangelium im Evangelium etwas so einfaches und kraftvoll zu uns sprechendes ist, daß man es nicht leicht verfehlen kann. Es sind nicht weitschichtige, methodische Anweisungen und breite Einleitungen nötig, um den Weg zu ihm zu finden. Wer einen frischen Blick für das Lebendige und wahre Empfindung für das wirklich Große besitzt, der muß es sehen und von den zeitgeschichtlichen Hüllen unterscheiden können. Und mag es auch an manchen einzelnen Punkten nicht ganz leicht sein, Bleibendes und Vergängliches, Prinzipielles und bloß Historisches zu unterscheiden – es soll uns nicht so gehen wie jenem Kinde, welches, nach dem Kerne suchend, einen Wurzelstock so lange entblätterte, bis es nichts mehr in der Hand hatte und einsehen mußte, daß eben die Blätter der Kern selbst waren. Auch die Geschichte der christlichen Religion kennt solche Bemühungen; aber sie verschwinden gegenüber den anderen, durch welche uns eingeredet werden sollte, hier gebe es weder Kern noch Schale, weder Wachstum noch Absterben, sondern alles sei gleich wertvoll und alles bleibend.


Wir werden demnach in diesen Vorlesungen erstlich von dem Evangelium Jesu Christi handeln, und diese Aufgabe wird uns am längsten beschäftigen. Wir werden sodann zeigen, welchen Eindruck er selbst und sein Evangelium auf die erste Generation seiner Jünger gemacht hat. Wir werden endlich die Hauptwandlungen des Christlichen in der Geschichte verfolgen und die großen Typen

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 009. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/013&oldid=- (Version vom 30.6.2018)