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ihm gegessen und getrunken haben – hinzunehmen und von ihnen hören, was sie an ihm erlebt haben.

Aber auch damit ist unser Stoff noch nicht erschöpft: wenn es sich in dem Christentum um eine Größe handelt, deren Geltung nicht an eine bestimmte Epoche geknüpft war, wenn in ihm und durch dasselbe nicht einmal, sondern fort und fort Kräfte entbunden worden sind, so müssen auch alle späteren Hervorbringungen seines Geistes mit hinzugenommen werden. Nicht um eine „Lehre“ handelt es sich ja, die in einförmiger Wiederholung überliefert oder willkürlich entstellt worden ist, sondern um ein Leben, das, immer aufs neue entzündet, nun mit eigner Flamme brennt. Wir dürfen auch hinzufügen, daß Christus selbst und die Apostel davon überzeugt waren, daß die Religion, die hier gepflanzt war, in Zukunft noch Größeres erleben und Tieferes schauen werde als in der Zeit ihrer Stiftung: sie vertrauten dem Geiste, daß er von einer Klarheit zur andern führen und höhere Kräfte entwickeln werde. Wie wir eine Pflanze nur dann vollständig kennen lernen, wenn wir nicht nur ihre Wurzel und ihren Stamm, sondern auch ihre Rinde, ihre Äste und Blüten betrachten, so können wir auch die christliche Religion nur auf Grund einer vollständigen Induktion, die sich über ihre gesamte Geschichte erstrecken muß, recht würdigen. Gewiß, sie hat eine klassische Epoche erlebt, und noch mehr, sie hatte einen Stifter, der das war, was er lehrte – in ihn sich zu vertiefen, bleibt die Hauptsache –; aber auf ihn sich zu beschränken, hieße den Augenpunkt für seine Bedeutung zu niedrig nehmen. Selbständiges religiöses Leben wollte er entzünden, und hat es entzündet; ja das ist, wie wir sehen werden, seine eigentliche Größe, daß er die Menschen zu Gott geführt hat, auf daß sie nun ihr eignes Leben mit ihm leben – wie können wir da von der Geschichte des Evangeliums schweigen, wenn wir sein Wesen kennen lernen wollen?

Man kann einwenden, daß die so gestellte Aufgabe zu schwierig werde, und daß ihre Lösung von vielen Fehlern und Irrtümern bedroht sei. Das soll nicht geleugnet werden; aber um der Schwierigkeiten willen die Aufgabe selbst einfacher, d. h. in diesem Falle unrichtig, stellen, wäre eine sehr verkehrte Auskunft. Ferner aber, mögen auch die Schwierigkeiten wachsen, die größer gestellte Aufgabe erleichtert andererseits die Arbeit; denn sie hilft uns, das Wesentliche in der Erscheinung zu fassen und Kern und Schale zu unterscheiden.

Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 007. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/011&oldid=- (Version vom 30.6.2018)