Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/56

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Das Gesicht: Zions Klage.

38 Als ich dies im Herzen sprach, schaute ich mit den Augen hinter mich[1] und erblickte zur Rechten[2] ein Weib; die klagte und jammerte mit lauter Stimme und war tief bekümmert. Ihre Kleider waren zerrissen, und Staub[3] lag auf ihrem Haupt. 39 Da ließ ich die Gedanken fahren, denen ich bisher nachgehangen hatte, wandte mich nach ihr um und sprach zu ihr: 40 Was weinst du? warum bist du so tief betrübt[4]? 41 Sie sprach zu mir: Ach Herr, laß mich mein Leid beweinen und weiter[5] klagen, denn ich bin in bitterer Not[6] und tiefem Leid. 42 Ich sprach zu ihr: Was ist dir geschehen? sage es mir! Sie sprach zu mir: 43 Deine Magd war unfruchtbar und hatte nicht geboren, obwohl sie dreißig Jahre verheiratet war. 44 In diesen dreißig Jahren habe ich stündlich und täglich zum Höchsten gebetet, bei Nacht und Tag[7]. 45 Endlich, nach dreißig Jahren,

erhörte Gott deine Magd[8]
und sah meine Schmach an[9];
er achtete auf meine Not
und schenkte mir einen Sohn.

Da freute ich mich sehr über ihn samt meinem Mann und allen Bürgern der Stadt, und wir gaben dem Allmächtigen die Ehre[10]. 46 Dann zog ich ihn mit vieler Mühe[11] auf. 47 Als er nun herangewachsen, schickte[12] ich mich an, ihm ein Weib zu nehmen, und richtete ihm die Hochzeit[13] aus. 10 1 Als aber mein Sohn die Kammer betrat, fiel er nieder und war tot[14]. 2 Da stießen wir alle die Lichter[15] um. Alle Nachbarn aber standen auf, mich zu trösten[16]; ich aber sagte kein Wort bis zur zweiten Nacht[17]. 3 Als sie sich nun alle zur Ruhe begeben [und abgelassen], mir zuzureden, ’im Glauben, ich sei beruhigt‘[18], da erhob ich mich bei Nacht, floh und kam, wie du siehst, auf dieses Feld. 4 Und nun denke ich, nicht mehr in die Stadt zurückzukehren, sondern hier zu bleiben und nicht ’zu essen‘ noch ’zu trinken‘[19], sondern ohn’ Unterlaß zu klagen und zu fasten, bis ich sterbe[20].

5 Da ließ ich die Reden, die mich bisher beschäftigt hatten, antwortete ihr im Zorn und sprach: 6 Du Thörichte vor allen Weibern, siehst du nicht unsere Trauer und unser Unglück? 7 Ist doch Zion, unser aller Mutter[21], selber


    „pneumatisch“ ist (Röm. 7,14), ewig ἐν δόξῃ 2 Kor. 3,7ff. Auch seine Frucht bleibt; aber sie ist — das ewige Verderben der Empfänger! — Die göttliche Antwort auf diese Klage ist das folgende Gesicht, in dem sich Zions zukünftige himmlische Herrlichkeit offenbart. Das Gebet und die Vision passen also aufs Beste zusammen. Der Zusammenhang des Einzelnen im Buche ist überall vortrefflich.

  1. Er hat sie nicht kommen sehen: so geheimnisvoll erscheinen die Himmlischen immer.
  2. Luk. 1,11. Mark. 16,5.
  3. Etwa κόνις = אֵפֶר.
  4. Er malt so sein mitleidiges Herz.
  5. προστιθέναι = הוֹסׅיף (Hilg.).
  6. מָרַת נֶפֶשׁ I Sam. 1,10.
  7. Hebräische Anordnung der Tageszeiten. Das unaufhörliche Gebet der Unfruchtbaren ist ein novellistisches Motiv.
  8. Griech. Konstruktion.
  9. Unfruchtbarkeit ist eine Schmach, Luk. 1,25.
  10. Dieser wohlüberlegte Zug soll begründen, daß das spätere Unglück nicht etwa ein Gericht Gottes über die Menschen war, die in ihrem Glücke seiner vergessen hatten.
  11. עָמָל.
  12. καὶ ἦθον „ich ging hin“. — Hier der Nachsatz; vgl. 3,18.29.
  13. epulum, etwa δοχή oder πότος = מׅשְׁתֶּה Hochzeit (nach Wellh.). Vgl. Matth. 22,2. Luk. 14,16.
  14. Ein novellistischer, rührender Zug: am schönsten Tag, in der festlichsten Stunde das tiefste Leid.
  15. Die Lichter der Hochzeit, vgl. Matth. 25,7; auch dies ein poetisch empfundener Gegensatz: das Haus, strahlend vom Glanze der Hochzeitslichter, in tiefe Nacht versenkt durch den plötzlichen Tod des Bräutigams. Novellistisch.
  16. Das „Kondolieren“ ist nach israelitischer Sitte der Liebesdienst der Nachbarn.
  17. Sonst zeigt sich doch mütterlicher Schmerz in Jammern und Klagen; sie aber ist vor Schmerz stumm.
  18. Syr et putarent, quod etiam ego obdormirem = ὡς ἂν ἡσυχάσαιμι (Hilg.).
  19. Syr Aeth Ar¹.² Arm.
  20. So weit etwa die übernommene Novelle; vgl. die Einleitung S. 344.
  21. Gal. 4,26.
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/56&oldid=- (Version vom 30.6.2018)