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welches nicht irgend einen Theil in einem rudimentären Zustande besässe, und der Mensch bietet keine Ausnahme von dieser Regel dar. Rudimentäre Organe müssen von solchen unterschieden werden, welche auf dem Wege der Bildung sind, obschon in manchen Fällen die Unterscheidung nicht leicht ist. Die ersteren sind entweder absolut nutzlos, wie die Zitzen der männlichen Säugethiere oder die oberen Schneidezähne von Wiederkäuern, welche niemals das Zahnfleisch durchschneiden, oder sie sind von so untergeordnetem Nutzen für ihre jetzigen Besitzer, dass wir nicht annehmen können, sie hätten sich unter den jetzt existirenden Bedingungen entwickelt. Organe in diesem letzteren Zustand sind nicht streng genommen rudimentär, sie neigen nach dieser Richtung hin. Andererseits sind Organe in der Bildung, wenn auch noch nicht völlig entwickelt, für ihre Besitzer von grossem Nutzen und weiterer Entwickelung fähig. Rudimentäre Organe sind äusserst variabel, und dies lässt sich zum Theil daraus verstehen, dass sie nutzlos oder nahezu nutzlos sind und in Folge dessen nicht länger mehr der natürlichen Zuchtwahl unterliegen. Sie werden oft vollständig unterdrückt. Wenn dies eintritt, können sie nichtsdestoweniger gelegentlich durch Rückschlag wiedererscheinen, und dies ist ein der Aufmerksamkeit wohl werther Umstand.

Nichtgebrauch während derjenigen Lebensperiode, in welcher ein Organ sonst hauptsächlich gebraucht wird, und dies ist meist während der Reifezeit der Fall, in Verbindung mit Vererbung auf einem entsprechenden Lebensalter scheinen die hauptsächlichsten Ursachen gewesen zu sein, welche das Rudimentärwerden der Organe veranlassten. Der Ausdruck „Nichtgebrauch“ bezieht sich nicht bloss auf die verringerte Thätigkeit der Muskeln, sondern umfasst auch einen verminderten Zufluss von Blut nach einem Theile oder Organe hin, weil dasselbe weniger Aenderungen des Druckes ausgesetzt ist, oder weil es in irgendwelcher Weise weniger gewohnheitsgemäss thätig ist. Es können indessen Rudimente von Theilen in dem einen Geschlecht auftreten, welche im anderen Geschlecht normal vorhanden sind; und solche Rudimente sind, wie wir später sehen werden, oft in einer verschiedenen Art entstanden. In manchen Fällen sind Organe durch natürliche

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1878, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/29&oldid=- (Version vom 31.7.2018)