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halb grau[1]. Auch Kalkar, Rees und die übrigen Städte der Umgegend hatten ihre Schützengilden gesandt, die am Umzuge theilnahmen.

     Als der Reliquienschrein bis zur Mitte des Marktes gekommen war, hielt der Zug eine Weile inne. Der Herzog verließ mit seinen drei Söhnen die Nähe des Schreines, um seinen Ehrenplatz dem Dechanten und drei Kanonikern zu überlassen. Dann stieg er auf ein reich aufgezäumtes Pferd und sandte seine Kinder zur Mutter in die Hofwagen. Wie spiegelte sich während dieser Pause die helle Sonne im goldenen Glanze des alten Schreines, und wie funkelten seine alten römischen Gemmen und seine Edelsteine, Tausenden von Andächtigen zur Augenweide! Sah man die Straßen entlang, so erblickte man alle Häuser mit Teppichen behangen und die Fenster gefüllt mit reich gekleideten Frauen und Mädchen in der bunten Tracht jener Zeit, geschmückt mit den altererbten goldenen Ketten und Ohrgehängen. Die Männer füllten Straßen und Plätze. Es strahlten weithin ihre blanken Harnische, ihre Kettenpanzer, ihre Helme und Hellebarden. Aber Alle übertraf an Pracht und Glanz das Gefolge des clevischen Hofes, der damals einer der angesehensten und reichsten der Welt war.

     Langsam bewegte sich die Procession in die Marsstraße hinein. Alle Gassen und Straßen, die in den Hauptweg mündeten, waren gesperrt. Ein herrliches Schauspiel eröffnete sich beim Heraustritt aus dem befestigten Stadtthore, vor dem der Fürstenberg sich erhob, von dessen Gipfel die Thürme des Klosters der Cistercienserinnen herabsahen, zu deren Kirche man hinaufzog. Heute waren alle Abhänge der welligen Gegend mit einer dichten Menschenmenge bedeckt, über deren Häuptern sich ein ganzer Wald von Kreuzen und Fahnen entfaltete. Selbst der Herzog, der oft zahlreiche Heere und Versammlungen gesehen hatte, konnte sich jetzt vor Staunen nicht fassen. Er schickte einige kriegserfahrene Herren aus, welche die Zahl der Anwesenden abschätzen sollten. Diese kamen nach einiger Zeit zurück und meldeten, die versammelte Menge belaufe sich wohl auf 200 000 Menschen.

     Langsam stieg die Procession den Berg hinan. Laut erschallten aus den beiden Thürmen der alten Klosterkirche die Glocken. Aus dem Portale kam die lange Schaar der Ordensfrauen mit brennenden Kerzen dem Reliquienschreine entgegen. Ihr Priester trug das heilige Sacrament. Wie die Pfarrer der Umgegend ihre Reliquien mitgebracht hatten

  1. Annalen 14 S. 299.
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Beissel: Die Victortracht des Jahres 1464 In: Die Bauführung des Mittelalters. Studie über die Kirche des hl. Victor zu Xanten. Freiburg im Breisgau: Herder, 1889, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Beissel_%E2%80%93_Die_Victortracht_des_Jahres_1464.djvu/19&oldid=- (Version vom 31.7.2018)