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den Herzen der Menge, die unten durch die Stadt wogte. Laut und freudig erklangen ihre Instrumente, um die neuen Schaaren der Festgenossen zu begrüßen, die mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel in ihren besten Kleidern herangezogen kamen, sich in die Kirche begaben, um daselbst die Reliquien des hl. Victor zu verehren, und dann vor die Stadt hinausgingen, um in der hügelreichen Landschaft einen Standort zu gewinnen, von dem aus sie die Procession sehen könnten, die zum Fürstenberge ziehen sollte.

     Um 6 Uhr Morgens blitzten in der Ferne Waffen. Ein Heereshaufen nahte. 3000 an der Zahl, kamen die Soldaten von Wesel. Zu Reihen geordnet, marschirten sie zur reichgeschmückten Kirche.

     Etwas vor 6½ Uhr begann der Dechant, sich mit den heiligen Gewändern zu bekleiden, um das Hochamt zu singen. Um diese Zeit erhob sich in der Stadt ein ungeheurer Lärm, der sich der Kirche näherte. Unter dem Beifallrufe der Menge und dem Klingen der Instrumente trat der Herzog von Cleve mit seinen drei Söhnen in die Kirche ein. Eine Menge Herren seines Hofstaates war mit ihm von Cleve herangeritten. Die Herzogin folgte mit ihren Damen und den reichsten Hofwagen. Die Kutsche der Herzogin war purpurfarbig, mit goldenen Tüchern überspannt und von 8 weißen Rossen gezogen, deren Geschirr vergoldet und deren Zügel hellroth waren. Wie kostbar die Kleider der herzoglichen Familie waren, erhellt daraus, daß die des Herzogs auf mehr als 65 000 Gulden geschätzt wurden, da er nichts trug, was nicht den Werth von Gold hatte[1].

     Der Herzog begab sich mit der Herzogin in die reich behangenen Chorstühle. Jetzt begann das Hochamt. Zwei berühmte Organisten wetteiferten, die Feier durch ihr Spiel zu verherrlichen. Der blinde Organist des Herzogs begann; ihm folgte Johannes Noster, der Organist des Stiftes, welches seit Alters etwas darauf hielt, daß sein Gesang in keinem Stücke dem irgend einer anderen Kirche nachstehe. Wie Heimerich versichert, entlockten beide der Orgel so liebliche und auch wieder so majestätische Melodieen, daß Niemand es für möglich gehalten hätte und man nie etwas Ähnliches hörte.

     Nach dem Hochamte entfernte sich die Herzogin; der Herzog aber blieb im Chore, bis die Procession sich geordnet hatte. Vierzig Kanoniker und 21 andere Priester, welche an der Kirche angestellt waren, legten

  1. * Heimeric. fol. 34 seq.
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Beissel: Die Victortracht des Jahres 1464 In: Die Bauführung des Mittelalters. Studie über die Kirche des hl. Victor zu Xanten. Freiburg im Breisgau: Herder, 1889, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Beissel_%E2%80%93_Die_Victortracht_des_Jahres_1464.djvu/17&oldid=- (Version vom 31.7.2018)