Textdaten
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Autor: Hermine Louran
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Titel: Fliederzweige
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 831–834, 836
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[831]
Fliederzweige.
Eine einfache Geschichte, einem Freunde nacherzählt von H. S. Waldemar.


Mein Vater war in dem kleinen Städtchen Wiesenheim ein ehrsamer Schneidermeister, und ich glaube, sein Vater und Großvater betrieben dasselbe Handwerk.

Welchen Lebensberuf meine Ahnen in jenen Tagen hatten, da die alten Deutschen in Thierfellen einhergingen, davon schweigt unsere Familientradition, aber so viel steht fest, daß ein Karl Nöhring schon geschlitzte Wämser und Pluderhosen verfertigte und dadurch wahrscheinlich mehr Geld verdiente als der jetzige Karl Nöhring, mein ältester Bruder, durch Einsegnungsleibröcke und Turnanzüge. Außer durch die vererbte Treue für das löbliche Schneiderhandwerk ist das Geschlecht der Nöhrings noch besonders dadurch bemerkenswerth, daß stets der älteste Sohn der Familie den Namen Karl bekommt, wie der zweite den Namen Gottlieb; stellte sich, was im Laufe der Zeiten ziemlich häufig vorgekommen ist, noch ein dritter oder gar ein vierter Sohn ein, so wurde er nach dem Kalenderheiligen seines Geburtstages genannt. Von weiblichen Familiengliedern kennen wir eigentlich nur Annen und Marien und die Ueberlieferung weiß wenig von ihnen zu erzählen, so wenig, daß man guten Grund hat anzunehmen, daß die Annen und Marien Nöhring die besten Frauen ihrer Zeit gewesen sind. Mit gerechtem Tadel aber spricht die obenerwähnte Ueberlieferung von einem entarteten Schneidermeister Nöhring, der sich unterfing, seinen ältesten Sohn Richard taufen zu lassen; daß er nebenbei noch zuweilen ein Glas über den Durst trank, konnte bei so deutlich an den Tag gelegter Verachtung althergebrachter Sitte nicht weiter Verwunderung erregen. Der kleine Richard starb aber noch im Kindesalter, und der Stammbaum der Nöhrings erhielt sich unbefleckt.

Nun geschah es aber, daß, als ich das Licht der Welt erblickte, die Familienwiege vor mir schon von einem Karl, einem Gottlieb, einem Gideon und einem Desiderius benützt worden war, welch letzterer aber seinen Namen mit Unrecht trug, denn nach den drei Knaben wäre meinen Eltern eine Marie oder eine Anna erwünschter gewesen.

An dem Tage, da ich die enge Wohnung der allemal jüngsten Nöhrings bezog, stand eben Mittfasten im Kalender. Was war da zu thun? Ein kleiner „Mittfasten“ Nöhring war noch nicht dagewesen, und der Pfarrer würde diesen wohl auch schwerlich als christlichen Taufnamen haben gelten lassen. Das muß meinem Vater wohl viel Sorge und Kopfzerbrechen gemacht haben, denn etwa acht Tage nach meiner Geburt trat einer unserer geachtetsten Mitbürger, Herr Hartlieb, schlechtweg der alte Hartlieb genannt, kopfschüttelnd in das Zimmer, in welchem mein Vater mit zwei Gesellen am Schneidertische saß. Er trug eine neue Tuchhose in der Hand und redete meinen Vater also an:

„Ei, ei, lieber Meister, wo habt Ihr nur Eure Gedanken gehabt? Schickt mir da die bestellte Hose in’s Haus, und als ich sie anziehen will, findet mein rechtes Bein unten keinen Ausweg. Seht her, Ihr habt die rechte Hose unten zugenäht.“

Die beiden Gesellen verbissen sich mit Mühe das Lachen; mein Vater aber kraute sich hinter dem Ohre und bat den geschätzten Kunden tausendmal um Verzeihung. Er wolle sich solcher Nachlässigkeit nicht wieder schuldig machen, denn er hoffe, seine Frau werde ihm keinen zweiten derartigen Streich spielen und ihm ein Söhnlein an Mittfasten schenken.

Der alte Hartlieb fragte nun weiter, was denn dabei Schlimmes sei, daß ein Kind an Mittfasten geboren würde, und als ihm mein Vater von dem alten Familienbrauche erzählte, sagte er:

„Wißt Ihr was, Meister? Nehmt mich zum Taufpathen für Euer Söhnlein und gebt ihm meinen Namen: Franz! Der ist so gut, wie irgend ein anderer.“

Eine solche Ehre schlug mein Vater natürlich nicht aus, und so ist mir der Zufall, daß ich an Mittfasten geboren bin und mein Vater in Frage dessen die Hosen seines besten Kunden am unteren Ende zusammengenäht hat, zum größten Glück geworden, denn was ich bin und habe, danke ich meinem Pathen, dem alten Hartlieb. Er war trotz seiner Sonderbarkeiten einer der angesehensten Männer von Wiesenheim, obwohl er, was sonst in einer kleinen Stadt besonderes Ansehen verleiht, keinerlei Amt bekleidete und auch, seinem Vermögen nach, nicht die erste Stelle einnahm. Denn wenn ich ihn vorhin meines Vaters besten Kunden nannte, so darf das nicht so verstanden werden, als hätte er eine sehr umfangreiche Garderobe besessen – er fand nur stets sehr bald Jemanden, der seiner noch sehr brauchbaren Kleider dringend bedürftig war. Und so hatte er stets genug, einem Mitbürger aus der Noth zu helfen, und wenige gingen ohne Hülfe, keiner aber ohne Trost und Rath von ihm. Er wohnte in einem kleinen, von seinem Vater ererbten Hause, hart am Ende der Stadt, dort, wo sie nur durch ein kleines Gewässer von den ausgebreiteten Wiesen getrennt ist, denen sie ihren Namen verdankt.

Vor vielen Jahren – das heißt viele Jahre ehe er sich meinem Vater als Gevatter anbot – hatte er sich noch ein Nachbarhaus [832] käuflich erworben, dessen Besitzer gestorben war. Die Gärten der beiden Häuser – sie trugen die schönsten Fliedersträuche, die ich jemals gesehen – stießen an einander, und man hatte geglaubt, er habe den Kauf hauptsächlich gemacht, um seinen Garten zu vergrößern, dessen Pflege er sich sehr angelegen sein ließ, aber der Zaun, der die beiden Besitzthümer trennte, fiel nicht; weder das angekaufte Haus noch der Garten wurden jemals benützt. Ueber den Grund dieses seltsamen Verfahrens mögen seiner Zeit wohl die mannigfachsten Vermuthungen umgelaufen sein; als ich in das Alter kam, darüber nachzudenken, waren sie längst verstummt und das ehemalige Dreßler’sche Besitzthum ein Gegenstand abergläubischer Furcht geworden. Man wollte seltsame Schatten an den geschlossenen Fenstern, eine weiße Gestalt im verwilderten Garten gesehen haben, ja, man war so fest überzeugt von dem Dasein dieser Gestalt, daß man ihr einen Namen gab und sie Sabine nannte nach einer Tochter des früheren Besitzers, die in der Ferne geheirathet und, wie man wissen wollte, unglücklich geworden war. Ob diese Tochter noch lebte, wußte man nicht, man mußte aber wohl das Gegentheil angenommen haben, denn wie hätte sonst ihr Geist umgehen können?

Zur Zeit, da ich mich der Wiesenheimer Schuljugend beigesellte, galt es für einen Beweis hohen Muthes, am späten Abend an dem Dreßler’schen Hause vorüberzugehen, und ich gelangte bei meinen Cameraden in den Ruf wilder Tollkühnheit, als ich einmal gewagt hatte, zu später Stunde den kleinen Bach zu durchwaten und in den öden Garten einzudringen. Mir war die weiße Sabine nun freilich nicht sichtbar geworden; ich war ja eben an Mittfasten geboren und deshalb kein Sonntagskind, welches bekanntlich stets ein Auge für Gespenster haben muß, aber auf die Schmerzen, die mir bei diesem Abenteuer die Dornen und Brennnesseln an Händen und Füßen verursachten, war ich so stolz, wie ein Krieger auf seine im ehrenvollsten Kampfe erlangten Wunden. Mein Herr Pathe, der alte Hartlieb, würde an diesem Wagestück wohl schwerlich Gefallen gefunden haben und hat es auch niemals erfahren.

Er kümmerte sich um jene Zeit wenig um mich und ich sah ihn nur, wenn er bei meinem Vater ein neues Kleidungsstück bestellte oder eine Rechnung zu bezahlen kam. Alsdann sprach er mich freundlich an, ließ sich auch wohl mein letztes Schulzeugniß zeigen und klopfte meinen flachsblonden Kopf oder schüttelte seinen grauen, je nachdem es eben ausgefallen war. Aber je älter ich wurde, desto häufiger wurde das erstere, das beifällige Klopfen meines Kopfes nämlich, denn das Lernen wurde mir leicht und machte mir darum auch Freude.

Mit der Zeit trat denn auch die Frage an uns heran, was aus mir wohl eigentlich werden sollte. Karl und Gottlieb handhabten schon Nadel und Scheere; Gideon war bei einem Bäcker in die Lehre getreten, Desiderius frühzeitig gestorben, ich selbst aber verspürte nicht die geringste Lust für das ehrsame Schneiderhandwerk, denn seit ich einmal als Kind der bei meiner Mutter zum Besuche sitzenden Gevatterin, der reichen Bäckermeisterin Klenze, ohne daß sie es bemerkte, kleine kunstlose Viereckchen aus dem feinen kornblauen Wollenkleide geschnitten und von meinem Vater die gebührende Strafe mit dem Rohrstöckchen empfangen, hatte ich mich weislich gehütet, jemals wieder eine Scheere zur Hand zu nehmen.

Zum Ueberfluß war auch noch mehrere Jahre nach mir ein Brüderchen geboren, ohne daß die Reihe männlicher Nöhrings durch eine Anna ober Marie unterbrochen worden wäre, und der kleine Anselm offenbarte schon jetzt ein auffallendes Talent für das erbliche Handwerk. Selbst mein Vater, ein so eingefleischter Schneider er auch war, konnte nicht erwarten, mehr als drei seiner Söhne in seine Fußstapfen treten zu sehen – aber was sollte aus mir werden? Bei seinem nächsten Besuche wurde des alten Hartlieb Rath eingeholt. Er kam auf den Ausweg, mich selbst danach zu fragen, was meinem Vater niemals eingefallen war.

„Wozu hättest Du wohl Lust, mein Sohn?“ und da er sah, daß ich zögerte, „sprich nur dreist heraus! Wir wollen sehen, was sich thun läßt.“

Da faßte ich Muth zu dem kühnen Bekenntniß:

„Am liebsten möchte ich wohl studiren und Arzt werden, Herr Pathe.“

Mein Vater glaubte, ich habe den Verstand verloren, und meine Mutter schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, aber der alte Hartlieb wiegte nur bedächtig sein graues Haupt und sagte: er wolle sich die Sache überlegen.

Und am nächsten Morgen kam er wieder und erklärte meinem Vater, er wolle von nun an die Sorge für meine Ausbildung übernehmen und mit Gottes Hülfe einen Arzt aus mir machen. Mein Vater war es wohl zufrieden, und meine gute Mutter – ich glaube, sie hatte die ganze Nacht wach gelegen vor Sorge und Aufregung – küßte mich unter Freudenthränen, und mit Thränen und Segenswünschen entließ sie mich einige Zeit darauf, als ich an die höhere Schule abging, die mich für die Universität vorbereiten sollte.

Endlich bezog ich die Universität und setzte stolz hinter meinen Namen ein: stud. med. Ich bewohnte ein Stübchen, das in einem vierten Stockwerke nach vorn heraus gelegen war. Schon an dem Tage meines Einzuges bemerkte ich gegenüber an einem Fenster, allerdings tief unter meiner Höhe, einen braunlockigen Mädchenkopf, der sofort mein ganzes junges Herz in Flammen setzte. Ich hütete mich wohl, mich danach zu erkundigen, wer dort drüben wohne, es hätte ja meine ganze Illusion zerstört, wenn ich erfahren, sie sei anderen Leuten als Fräulein Schulze oder Müller bekannt; für mich sollte sie die Eine, die Namenlose bleiben. Ich bedurfte keines Namens, sie damit zu bezeichnen, denn neben ihr gab es für mich ferner kein Mädchen auf der Welt. Ich vergaß gänzlich das rosenwangige Minchen Klenze, obgleich mir das freundliche Mädchen zum Abschied ein so schönes Buchzeichen von himmelblauer Seide mit der Inschrift: „Aus Freindschaft“ gestickt hatte.

Auch einen anderen Frauenkopf mit silberweißem Scheitel erblickte ich zuweilen neben dem braunlockigen, der mit diesem eine unverkennbare Aehnlichkeit zeigte. Natürlich machte die Liebe mich zum – Dichter. Aber über dem Dichten versäumte ich das Studiren nicht, nein, ich widmete mich ihm mit verdoppeltem Eifer, denn ich hatte mir vorgesetzt, nach glücklich bestandenem Examen die Bekanntschaft meiner Angebeteten zu suchen, und war von dem Gelingen dieses Vorhabens ziemlich fest überzeugt. Aber ach, als ich einst nach den im Elternhause verlebten Ferien in mein mir so lieb gewordenes Stübchen zurückkehrte, suchte ich im Hause gegenüber umsonst den braunen Mädchenkopf; die Fenster waren alle geöffnet und ließen mir den Einblick in die leeren Wände – die Familie war ausgezogen. Umsonst durchwanderte ich die Straßen der Stadt und blickte an den Häusern empor, nirgends sah ich die Eine, der mein Suchen galt.

Es vergingen Jahre; ich bestand glücklich mein Examen und erhielt eine Anstellung als Gehülfe eines berühmten Arztes. Die Meinigen hätten es gar gerne gesehen, wenn ich mich in meiner Vaterstadt niedergelassen. Allein ich wollte erst noch ein wenig mich in der Welt umsehen, auch besaß Wiesenheim bereits einen geschickten Arzt außer dem alten Wundarzte, der allen kleinen Wiesenheimern die ersten Zähne ausriß, und der Ort war zu gesund, als daß er einem Dritten Beschäftigung geben konnte. Mein Pathe Hartlieb, der ganz in seiner alten Weise fortlebte, billigte meinen Entschluß vollständig.

Eines Abends saß ich noch spät bei meiner Studirlampe, als meine Aufwärterin eilig in’s Zimmer trat.

„O Herr Doctor, Sie möchten recht schnell zu einer Kranken kommen – es soll sehr schlimm stehen.“

Vor der Thür erwartete mich ein sauberes junges Mädchen, die mich mit den Worten empfing:

„Kommen Sie nur recht schnell, Herr Doctor! Unsere Frau Geheimräthin will sterben.“

„Ist es wirklich so gefährlich?“ fragte ich unterwegs.

„Ganz gewiß, sonst würde ich Sie nicht geholt haben, sondern zu einem bessern Arzte gegangen sein, so aber sagte unser Fräulein, ich solle den holen, der am nächsten wohnt.“

Sie führte mich in ein elegant möblirtes Schlafzimmer, in welchem eine alte Frau mit dem Tode rang. Ich erkannte sofort die Größe der Gefahr, aber auch zugleich, daß der Fall noch nicht hoffnungslos war.

Zu Füßen des Bettes, in welchem die Kranke lag, kniete eine schlanke Mädchengestalt und verbarg schluchzend ihr Gesicht. Bei meinen ersten Worten, die von Hoffnung sprachen, erhob sie den Kopf und blickte durch ihre strömenden Thränen zu mir auf, aber bei der schwachen Beleuchtung des Zimmers konnte ich ihre Züge nicht erkennen.

[833] Als meine Mittel der Kranken einige Erleichterung verschafften, die schmerzliche Erstarrung ihrer Gesichtszüge nachließ und die Todtenblässe einer natürlichen Farbe wich, kam mir das Antlitz der alten Dame sehr bekannt vor, nur wußte ich im ersten Augenblick nicht, an welchem Punkte meines Lebensweges mir dieses trotz seines Alters noch schöne Gesicht begegnet war. – Ich verließ die Nacht über meine Kranke nicht; das junge Mädchen ging mir zur Hand, so viel sie konnte, aber als die ersten Morgenstunden der Alten einen ruhigen Schlummer brachten, widerstand auch sie nicht länger, sondern gab ihrem erschöpften Körper nach und versank, am Fußende des Bettes auf einem niedrigen Schemel sitzend, in einen tiefen Schlaf. Ich wachte bei den beiden Schlafenden, weil ich eine Rückkehr des gefährlichen Anfalles befürchtete, aber die Kranke schlummerte fort, und als die ersten Strahlen der Morgensonne durch das Fenster drangen, stand ich leise auf, horchte noch einmal auf ihre regelmäßigen Athemzüge und beugte mich zu dem Mädchen nieder. Jetzt, da Angst und Schmerz das junge Antlitz nicht mehr entstellten, erkannte ich in ihr – mein angebetetes Gegenüber aus meiner Studentenzeit.

Ich hatte, aufrichtig gesprochen, in den letzten Jahren kaum noch an sie gedacht; dennoch freute es mich, sie jetzt wiederzusehen und ihr einen Dienst leisten zu können. Sie hatte damals den schmächtigen blonden Studenten, der ihr gegenüber, dicht unter den Wolken wohnte, wohl nicht bemerkt, aber dem jungen Arzt, der das Leben ihrer Großmutter gerettet, begegnete sie mit großer Freundlichkeit.

Ich erfuhr, daß Margarethens Eltern, welche damals mit ihr nach einer andern Stadt gezogen, in der Zwischenzeit gestorben waren, ohne sie in so glänzenden Verhältnissen zurückzulassen, wie die waren, in denen sie aufgewachsen war. Sie lebte nun hier mit ihrer Großmutter von deren Wittwenpension und den Resten ihres Vermögens, aber ich lernte die alte Geheimeräthin Wildhofen als eine gar stolze, unnahbare Dame kennen, deren Sinn alles Mißgeschick, das sie betroffen, nicht zu beugen vermochte.

Ich kam wochenlang täglich in das Haus, weil die alte Dame meiner noch bedurfte, dann aber auch, weil die braunen Augen ihrer Enkeltochter mich zuerst so freundlich willkommen hießen, bei meinen späteren Besuchen aber schüchtern den meinen auswichen und ein höheres Roth ihre Wangen färbte.

So geschah es eines Tages, daß die Frau Geheimeräthin uns überraschte, als mein Arm um Margarethens Schulter und ihr Kopf an meiner Brust lag. Wir erschraken wohl ein wenig bei ihrem unerwarteten Eintritt, aber ich hielt die Geliebte nur noch fester, als ich mich an ihre Großmutter wandte und um deren Segen zu unserer Verbindung bat.

Die alte Dame betrachtete mich kalt und prüfend, gleichsam als sei sie erstaunt über meine Kühnheit, dann fragte sie mich kühl, was ich denn neben meinem Herzen ihrer Enkeltochter zu bieten habe. Das war denn nun freilich nicht allzuviel, wenn sie die Aussichten auf eine bessere Stellung nicht gelten lassen wollte.

„Und noch eins, mein junger Herr Doctor,“ sagte sie endlich spottend, „der Sie so zuversichtlich um Fräulein von Rhoda werben, als erwiesen Sie ihr damit eine Ehre: aus was für einer Familie stammen Sie?“

Ruhig, das heißt so ruhig, wie ein Liebender in solchem Augenblick eben sein kann, gab ich ihr zur Antwort, daß mein Vater und meine Brüder, dem Beispiele ihrer Vorfahren folgend, das ehrsame Schneiderhandwerk betrieben und ich nur durch die Güte meines Pathen zu einer höheren Ausbildung gelangt sei.

Doch wozu soll ich länger bei diesem Gespräch verweilen – genug, daß mir die Geheimeräthin mit herben Worten das Haus verbot und ich meine liebe weinende Margareth verlassen mußte. Ich war jung und muthig, baute fest auf die Treue meiner Geliebten und sah hoffnungsvoll in die Zukunft. Doch sollte meine Zuversicht auf eine schwere Probe gestellt werden.

Es war an einem Novembertage, als die alte Dame mir die Thür wies; der Winter verging; der Sommer folgte ihm; es wurde wiederum Herbst und wiederum Winter, und die Erfüllung meines Herzenswunsches schien mir noch eben so unerreichbar fern zu liegen.

Da theilte mir mein Vater mit, der Wiesenheimer Arzt gehe mit der Absicht um, nach einer größeren Stadt überzusiedeln, und bat mich, den Wunsch der ganzen Familie zu erfüllen und in meine Vaterstadt zurückzukehren, an Praxis werde es mir, als geborenem Wiesenheimer, der überdies mit den angesehensten Bürgern des Ortes durch Bande des Blutes, der Verschwägerung oder doch der Gevatterschaft verbunden sei, noch weniger fehlen als meinem Vorgänger. Bei meiner tiefgewurzelten Anhänglichkeit an die Meinigen und die alte kleine Stadt hätte mir nichts erwünschter sein können, wenn nicht der Wechsel des Wohnortes zugleich eine vollständige Trennung von meiner geliebten Margareth bedeutete. Wenn ich auch seit jenem Herbsttage nie wieder ihr Haus betrat, so sah ich sie doch zuweilen am Fenster oder es glückte mir auch, auf der Straße oder bei einer uns beiden befreundeten Familie ein paar Worte mit ihr zu wechseln, wenn sie eben nicht von ihrer Großmutter begleitet war. Und nun sollte ich auch diesen letzten kargen Trost von mir weisen? Unmöglich! Und doch – es war eine schwere Wahl, vor welcher ich stand.

Zum Glück ließ man mir Zeit zur Ueberlegung. Der Arzt, dessen Nachfolger ich werden sollte, beabsichtigte seine Uebersiedelung erst zum Frühjahre auszuführen, und zu dieser Jahreszeit konnten die Wiesenheimer immer noch am leichtesten eine Zeit lang sich mit dem alten Wundarzt begnügen; der Ort war, wie ich schon gesagt habe, sehr gesund und die meisten Krankheitsfälle zeigten sich bei seinen Kindern im Herbste, wenn das Obst zu reifen begann. Aber gerade jetzt, wo ich am dringendsten eine Unterredung mit Margarethen ersehnte, gelang es mir nicht, ihr irgendwo zu begegnen, und ich erfuhr, daß eine neue Erkrankung ihrer Großmutter sie an’s Haus fessele. Das arme Mädchen, wie mochte sie meines Beistandes, meines Trostes bedürfen! Der Zustand der Großmutter verschlimmerte sich, und endlich überwog Margarethens Herzensangst ihre Furcht vor dem Zorne der Kranken: sie ließ mich rufen.

Anfangs wagte ich mich nicht an das Bett der Leidenden, aus Furcht, durch Aufregung ihren gefährlichen Zustand noch zu verschlimmern, aber bald trat heftiges Fieber und völlige Bewußtlosigkeit bei ihr ein, so daß ich ihr beistehen konnte, ohne von ihr erkannt zu sein. Der kräftige Körper der alten Dame widerstand der Krankheit lange, und nachdem ich schon jede Hoffnung auf Genesung aufgegeben hatte, kamen immer noch Tage, an welchen sie sich wieder zu erholen schien. Meine arme Margareth war sehr unglücklich bei dem Gedanken, ihre letzte Verwandte verlieren zu sollen, und jeder Gedanke an ihre Härte verschwand vor der Erinnerung an die zahlreichen Liebesbeweise, die sie dem verwaisten Mädchen gegeben hatte.

„Wenn sie stirbt, ohne unseren Bund gesegnet zu haben, kann ich selbst an Deiner Seite niemals glücklich werden, Franz!“ Es waren traurige, bange Tage für uns Beide.

Darüber brach der Frühling herein, und zwar ein Frühling, der seinem Namen Ehre machte. Margareth, an das Bett der Großmutter gebannt, fühlte nicht die balsamische Luft, konnte sich nicht an dem Anblick der Blüthenbäume, dem Dufte der Blumen, dem Gesange der Vögel erfreuen.

Als ich mich eines Tages, mit diesen Gedanken beschäftigt und von innigem Mitleide für sie erfüllt, auf dem Wege nach ihrem Hause befand, bot mir ein kleines ärmlich gekleidetes Mädchen einen Strauß blühender Fliederzweige zum Kauf. Ich nahm ihn an mich und begab mich damit in’s Krankenzimmer.

Die Geheimräthin lag in ruhigem Schlummer, und ich setzte mich an’s Fenster, wo Margareth mit einer Handarbeit beschäftigt war. Sie empfing freudig den Strauß aus meiner Hand und athmete den süßen Duft. Wie mich die Fliederblüthen an meine Heimath erinnerten, besonders an den Garten des alten Hartlieb und den daranstoßenden, in welchem der Geist der Sabine lustwandeln sollte! Zum ersten Male erzählte ich meiner Geliebten Näheres über den Pathen, der mir ein zweiter Vater geworden war, und schilderte ihr sein freundliches kleines Besitzthum. Ich sprach auch von seinen Eigenthümlichkeiten, von jener auffallendsten, daß er bei dem Tode des Nachbars dessen Haus und Garten angekauft, ohne das Grundstück je zu benutzen und ohne auch einem fremden Fuße den Eintritt zu demselben zu gestatten.

Ein Seufzer vom Bette her unterbrach meine Erzählung. Die Kranke lag mit geöffneten Augen, die so mild und freundlich blickten, wie ich sie nie zuvor gesehen. Sie winkte uns, zu ihr [834] zu treten, und als wir gehorchten, nahm sie Margarethens Hand und legte sie in die meine, dann faltete sie ihre Hände um den Fliederzweig, den die Enkelin auf ihr Bett niedergelegt hatte, und ein Ausdruck tiefen Friedens breitete sich über ihr Antlitz; sie athmete noch einmal tief und schloß die Augen zum letzten Schlaf. Wir legten die Blüthen in ihren Sarg.

An dem Tage, da wir sie zur Ruhe bestatteten, erhielt ich eine Todesbotschaft aus der Heimath: der alte Hartlieb war nach kurzem Krankenlager gestorben, fast zu derselben Stunde wie Margarethens Großmutter. In seinem Testament hatte er mich zu seinem alleinigen Erben eingesetzt. So war nun nach jeder Seite hin für unsere Zukunft gesorgt; ich ließ mich in Wiesenheim nieder und führte meine Margareth heim. Muß ich noch hinzufügen, daß ich Beides nie bereut habe?

Eines Abends, als ich von meinen Krankenbesuchen nach Hause kam, fand ich meine süße kleine Frau in Thränen; ein paar beschriebene Blätter lagen in ihrem Schooße.

„Sieh her, Franz, was ich beim Aufräumen in Deines Pathen Schreibtisch fand!“

War es ein Tagebuch? War es ein Brief? Doch an wen hätte der alte Hartlieb wohl schreiben sollen? Ich hatte nie von Verwandten, nie von einem vertrauten Freunde gehört.

Ich las.

„Es ist ein wunderbar schöner Frühlingsabend,“ so stand auf den vergilbten Blättern geschrieben; „ich sitze am geöffneten Fenster und blicke in den Garten hinaus, wie es seit fünfzig Jahren und länger wohl meine liebe Gewohnheit ist. Drüben, hinter Nachbars Dach, taucht eben der Mond auf – ich sage, auch aus alter Gewohnheit noch, ‚Nachbars Dach‘, obwohl das Haus längst schon mir gehört und die Leute schon aufgehört haben, sich darüber zu wundern, daß ich es gekauft habe, um es leer stehen zu lassen, und es nicht einmal vermiethen will. Der Duft des Flieders zieht mit dem Abendwinde in mein Stübchen, und in dem Gesträuche schlägt die Nachtigall, aber so süß duftet der Flieder nicht mehr, so schmelzend singt die Nachtigall nicht wie in meiner Jugend, da sie in Nachbars Garten ihr Nest baute und Nachbars Sabine ihr zuhörte. Es ist wohl auch längst nicht mehr dieselbe Nachtigall, die uns Beiden sang; es ist ja nur dem Menschen bestimmt, daß er seine Jugend so lange überleben soll.

Ich bin ein alter, alter Mann. Es ist mir zuweilen, als sei ich eigentlich gar niemals jung gewesen, als sei ich schon als Greis zur Welt gekommen in derselben Stunde, in der meine junge Mutter starb. Ich glaube, ich habe in der Wiege schon recht alt und unkindlich ausgesehen, und meine Amme hätte mich vielleicht damals schon den alten Hartlieb genannt, wenn sie diese Bezeichnung nicht für meinen Vater, den Herrn Bürgermeister, gebraucht hätte.

Von meinen ersten Kinderjahren weiß ich nichts; ich hatte ja nicht, wie andere glückliche Kinder, eine Mutter, welche die ersten Regungen des Menschengeistes bewacht, sich der ersten Offenbarungen des Verstandes freut. Meine frühesten, mir erinnerlichen Gedanken beschäftigten sich mit der Frage, warum wohl Apothekers jüngster Sohn, der doch mehrere Jahre älter war als ich, von seinen Eltern Fränzchen genannt wurde, während mich Niemand anders als Franz nannte. Ich glaube, wenn es meinen Pathen eingefallen wäre, mir anstatt dieses kurzen den längsten aller Kalendernamen zu geben, so würde doch mein Vater niemals an eine Abkürzung oder einen Liebesnamen, wie sie Kinder so gern haben, gedacht haben. Ich habe nie an seiner väterlichen Zuneigung gezweifelt, aber er war ein kalter, ernster Mann, der auch in seinem Hause nicht den Bürgermeister verleugnete.

Meine Schulcameraden kümmerten sich wenig um meinen Vornamen; für sie war ich vom ersten Tage an der alte Hartlieb, da ich mich nicht an ihren lärmenden Spielen betheiligte, theils weil mir die Lust dazu nicht angeboren war, theils auch weil es mein Vater mir als für mich unschicklich verboten hatte. Und so ist denn der Name ‚der alte Hartlieb‘ an mir haften geblieben für mein ganzes Leben, jetzt freilich führe ich ihn schon seit vielen Jahren mit Recht.

Ich war zwölf Jahre alt, als unsere junge Nachbarin, Frau Anna Dreßler, starb, die Einzige, die zuweilen freundlich mein Haar gestreichelt hatte. Sie ließ ein kleines Mädchen zurück, das eben die ersten Versuche zum Gehen machte. Von dieser Zeit ab war ich oft in Nachbars Hause und bewachte mit ängstlicher Sorgfalt die zaghaften Schritte der kleinen Sabine. Ich dachte es freilich damals nicht, daß eben diese zarten Füßchen später so achtlos mein Herz zertreten würden.

Aber warum schreibe ich das nieder? Es ist doch nur eine Geschichte, wie sie gar oft vorfällt, wenn auch Jeder denkt, so groß wie sein Schmerz sei kein anderer unter dem Himmel.

Sie hing an mir bald mehr als an ihrem eigenen Vater, und die ersten zusammenhängenden Worte, die sie sprach, waren: ‚Alter Hartlieb‘, wie die Leute es ihr, mich zu necken, vorgesprochen hatten. Ich sehe es noch oft in meinen Träumen bei Tage und bei Nacht vor mir, das hübsche braunäugige Kind, wie es lachte, wenn es mich kommen sah, und mir die Arme entgegenstreckte.

Die Jahre vergingen. Sabine wurde je älter, desto hübscher; wir spielten zusammen zwischen den Fliederbüschen ihres Gartens. Und die Nachbarn wußten es schon ganz bestimmt, daß der Franz und die Sabine ein Paar werden würden, und unsere Väter sprachen darüber, ob sie alsdann den Zaun, der ihre Gärten trennte, ganz fortnehmen oder nur eine Thür hindurch brechen sollten. Für mich war Beides nicht nöthig; ich sprang allabendlich darüber hinweg.

Ich hatte nun die Schule verlassen, und mein heißester Wunsch war, in eine größere Stadt zu kommen und etwas Rechtes zu lernen, ehe ich einen eigenen Hausstand gründete. Oder wenn ich gar hätte Reisen machen können, über Berge und Flüsse, und am liebsten wohl gar über das Meer! Aber davon wollte mein Vater nichts hören; er war ja auch nie aus unserer guten kleinen Stadt hinausgekommen und hatte es doch bis zum Bürgermeister gebracht, und höher hinauf konnte doch selbst mein Ehrgeiz nicht gehen. Er hat es wohl gut gemeint, mein braver Vater, aber vielleicht wäre es mir doch besser gewesen, er hätte meinen Bitten nachgegeben.

Und nun gar die Sabine! Wenn ich ihr von meinen Wünschen und Plänen sprach, da schlang sie ihre Arme um meinen Hals und sagte mit Thränen in den Augen:

‚Aber, lieber alter Franz, was soll aus Deiner Sabine werden, wenn Du fortgehst?‘

Wenn es sich um mein Lebensglück gehandelt, hätte ich doch ihre schönen braunen Augen nicht trüben mögen, und so blieb ich und tröstete mich mit dem Gedanken an das Glück, das mich erwartete, wenn Sabine erst meine Frau sein würde. Aber ihr von meiner Liebe zu sagen, fiel mir nicht ein; sie hat wohl auch niemals erfahren, wie sehr sie mir an’s Herz gewachsen war.

Sie war nun eine Jungfrau, so blühend und schön, wie unser Städtchen keine zweite aufzuweisen hatte, und ich bekleidete ein kleines Amt in der Stadt und dachte nun ernstlich daran, um sie zu freien. Ich war schon öfter, mit einem Ringe meiner verstorbenen Mutter in der Tasche, zu ihr gegangen in der Absicht, ihn ihr an den Finger zu stecken und dabei mein Anliegen in wohlgesetzten Wortes vorzubringen, aber immer verließ mich der Muth ihren schelmischen Kinderaugen gegenüber, und ich kam mit dem Ringe in der Tasche wieder heim. Ich trage ihn jetzt an meinem kleinen Finger; er ist mit der Zeit sehr dünn geworden; aber ich denke, er wird wohl noch so lange zusammenhalten, bis man ihn mir in den Sarg mitgiebt.

In dieser Zeit erkrankte mein Vater plötzlich so heftig, daß ich alle anderen Gedanken um seinetwillen aufgeben mußte. Nach einem mehrwöchentlichen, schmerzhaften Krankenlager erlöste ihn ein sanfter Tod. Ich hatte ihn aufrichtig verehrt und betrauerte ihn nun, wie es sich für einen Sohn geziemt.

In der ganzen Zeit seit jener Erkrankung hatte ich Sabinen nur ein einziges Mal, und nur flüchtig, gesehen, als ich nach einer Nachtwache in den Garten ging, um mich zu erfrischen. Ihr Vater kam öfter zu uns, und von diesem hörte ich, daß in sein Haus Besuch gekommen sei, ein junger Vetter, ein studirter, sehr vornehmer Herr. Ich hörte kaum danach hin, oder doch nur mit dem Gedanken, daß wir den jungen Herrn Vetter, wenn er nicht allzu vornehm wäre, vielleicht zur Hochzeit einladen könnten.

Doch war jetzt, so bald nach meines Vaters Tode, nicht die Zeit, an Werben und Freien zu denken; ich wollte auch nicht zu Sabinen gehen, so lange der fremde Besuch in ihrem Hause [836] war. Es war darüber Frühling geworden, und eines Abends – o, wie genau erinnere ich mich seiner! – ging ich in meinem Garten auf und nieder; der Flieder duftete, und die Nachtigall sang so sehnsüchtig, wie noch nie – da kam meine Liebe mit überwältigender Macht über mich; ich übersprang leicht den Zaun und stand im Garten des Nachbars. Dort, hinter jenem Fliederbusche, in dem die Nachtigall immer ihr Nest baute, stand eine kleine Bank, die unser Lieblingssitz war; dort hoffte ich jetzt Sabinen zu finden.

Ja, dort saß sie, aber nicht allein – der Vetter saß neben ihr und hatte den Arm um sie gelegt; eben jetzt beugte er sich herab, ihren Mund zu küssen. – – –

Ich habe sie nicht wiedergesehen.

Unser Hausarzt bestand auf einer Luftveränderung, einer Zerstreuung für mich, um meine durch die Krankenpflege angegriffene Gesundheit zu stärken, und so erfaßte ich die Gelegenheit, mich von meiner Vaterstadt und allen ihren Banden für längere Zeit loszureißen.

Sabine heirathete im Spätherbste, und kurze Zeit darauf kehrte ich nach Hause zurück, in die Heimath, die mir nun kaum noch wie eine solche erschien. Jetzt hätte ich all’ die schönen Pläne von Reisen nach Nord und Süd wohl ausführen können; nichts hinderte mich daran, aber ich hatte die Lust dazu verloren. Ich lebte einsam in meinem leeren Hause und wurde bald, wozu man mich dem Namen nach schon lange gemacht hatte: der alte Hartlieb.

Als der Nachbar Dreßler gestorben war, kaufte ich sein Haus und seinen Garten – ich hätte es nicht ertragen können, fremde Leute darin zu sehen, aber ich betrete es nie. Das Haus habe ich verschlossen, so wie ich es fand; noch steht Sabinens einfacher alter Nähtisch an dem Fenster, an dem ich sie so oft im Vorübergehen begrüßte, und im Garten haben die Fliedersträuche wohl schon die Bank und den Weg überwuchert.

So ist es gekommen, daß ich ein einsamer alter Mann geworden bin. Ich habe keine Familie und bekleide kein Amt, und es mögen wohl Viele mein Leben für ein recht nutzloses halten, aber wenn ich so manches ‚Gott vergelte es Euch, Nachbar!‘ höre, so tröstet mich der Gedanke, daß mein Dasein doch wohl kein ganz verlorenes sein mag.

Und nun geht es wohl auch bald mit mir zu Ende. Nur noch kurze Zeit und ich darf die müden Augen schließen und ausruhen unter den alten Linden unseres Kirchhofes, und dort bin ich nicht mehr einsam.

In meinem Hause, das ich meinem Pathen vererbe, wird es dann wohl auch wieder lebendig werden, und junge Füße werden durch Haus und Garten eilen. Aber sie werden mir auch eindringen in das Stübchen, das ich so ängstlich verschlossen hielt, und werden die Spinnweben von Sabinens Fenster fegen und den Staub von ihrem Arbeitstischchen. Doch mir thut das nicht mehr weh.

Vielleicht hält unter dem alten Fliedergesträuche einmal der junge Franz sein Lieb im Arm, und dann schlägt wohl die Nachtigall so süß wie ehedem.“ – – – –

„Und Sabine Dreßler war der Mädchenname meiner Großmutter,“ sagte meine Frau, als ich ihr die Blätter wieder zurückgab, „sie hat von ihrem Geburtsorte nie gesprochen, aber ich weiß nun, weshalb sie in ihrer letzten Stunde, in der Stunde, in welcher Du mir von dem alten Franz Hartlieb erzähltest, unsere Hände ineinander legte.“

Jahre sind vergangen seit jenem Tage; mein kleiner Franz hat gestern seine ersten Höschen bekommen, die ihm sein Oheim Karl gemacht hat; für den Andern, noch Namenlosen, der in der Wiege liegt, habe ich sie schon vorläufig bei Bruder Gottlieb bestellt, und die runden Händchen der kleinen dicken Sabine haben heut’ die ersten Fliederblüthen auf des alten Hartlieb Grab niedergelegt.

Das ehemalige Dreßler’sche Haus habe ich niederreißen lassen und dadurch noch unsern Garten vergrößert, und an jener Stelle, wo Sabinens Arbeitstischchen am Fenster stand, nicken jetzt blaue und weiße Fliederzweige über den Zaun nach der Straße hinaus.