Textdaten
Autor: Franz Skutsch
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Titel: Die lateinische Sprache
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aus: Die Kultur der Gegenwart, Teil 1, Abteilung 8: Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, S. 523–565
Herausgeber: Paul Hinneberg
Auflage: Dritte, stark verbesserte und vermehrte Auflage
Entstehungsdatum: 1905
Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: B. G. Teubner
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Digitalisat (DjVu) des Internet Archive; Kopie auf Commons
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[523]
DIE LATEINISCHE SPRACHE.
Von
Franz Skutsch.

Einleitung. Der Historiker, der es heute unternimmt, uns die Die Aufgabe des Sprachhistorikers. Geschichte der Römer zu erzählen, darf nicht erst da beginnen, wo zuverlässige alte Berichte einsetzen. Er muß es wagen, den Lichtkreis der Überlieferung zu verlassen und den Leser zurückzuführen in das Dunkel vorhistorischer Perioden, in dem nur Rückschlüsse aus den Verhältnissen historischer Zeit hier und da eine ungleiche Erhellung spenden. Die Schichtung der einzelnen Völker in der Apenninhalbinsel zu der Zeit, da in ihr eine Reihe zusammenhängender Begebnisse unserem Auge kenntlich zu werden beginnt, wird mehr oder weniger sichere Vermutungen über die Wanderungen gestatten, die ein jedes Volk gerade an diesen Platz geschoben haben; aus den Einrichtungen des Staates und der Religion sondert der Blick des Forschers oftmals mit Leichtigkeit Urzeitliches aus, das modernere Formen nicht bis zur Unkenntlichkeit zu überdecken vermocht haben.

Andererseits wird der Historiker seine Aufgabe nicht abgeschlossen glauben, wenn er die Römer bis zur Höhe ihrer Entwickelung verfolgt hat. Die Zersetzung des großen Reiches ist des Interesses nicht weniger wert als seine wunderbare Entstehung.

Der Historiker der lateinischen Sprache darf sich sein Ziel nicht niedriger stecken. Auch für ihn beginnt die Geschichte des Lateins nicht mit dem ältesten Sprachdenkmal, auch für ihn schließt sie nicht mit den Schriftstellern, die die Geschichte der römischen Literatur als letzte aufzuführen pflegt. Vielmehr muß auch er nach der einen Seite den Schritt ins vorhistorische Dunkel wagen und ihn nach der anderen Seite hin nicht hemmen, wenn der Zersetzungsprozeß für die lateinische Sprache beginnt. Ja, er schreitet in die Urzeit sicherer hinein als der Historiker, da ihm nicht bloß das Mittel der Rückschlüsse aus den italischen Verhältnissen zu Gebote steht, sondern auch die Vergleichung mit den verwandten Sprachen. Und der Auflösungsprozeß andererseits hat für ihn ein um so lebhafteres Interesse, da er ihn schon Jahrhunderte vorher sich anbahnen und aus ihm wieder Sprachen hervorgehen sieht, die der stolzen Mutter würdige Töchter sind – die romanischen.

Einem Werke wie das vorliegende schien es gemäß, selbst da nicht haltzumachen, sondern in einer flüchtigen Skizze wenigstens zu zeigen, wie das Latein auch mit seinem Tode nicht stirbt. Nicht nur die alte [524] Kultur, sondern auch die des Mittelalters und der Neuzeit hat es so vielfach zum Kleide ihrer gewaltigsten Gedanken gewählt, daß davon zu schweigen untunlich war, obschon gerade hier dem Gegenstande nur der einigermaßen gerecht werden kann, der diese ganze Gedankenwelt durchwandert zu haben sich rühmen dürfte.

Indogermanische Einwanderung in die Apenninhalbinsel.I. Die uritalische Sprache. Ihre Stellung im Kreise der indogermanischen Sprachen. Viele hundert Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung wanderte von Norden her ein Zweig der indogermanischen Sprachgemeinschaft, der auch die Germanen, Griechen, Kelten, Slawen und Inder angehören, in die Apenninhalbinsel ein. Der Strom dieser Einwanderung hat für uns alle kenntlichen Spuren früherer Bevölkerungen und Sprachen der Halbinsel vernichtet. Höchstens die Ligurer, die noch in historischer Zeit um den Golf von Genua sitzen, einst aber, wie die eigentümliche Formung mancher Ortsnamen zeigt, bis ins Veltlin hinauf gewohnt haben mögen, könnten etwa ältere Einwohner gewesen sein. Aber auch den Ligurern sprechen wir die Möglichkeit früherer Anwesenheit in Italien nur darum zu, weil die Nachrichten des Altertums über dies Volk so dürftig sind, daß sie nicht einmal seine sichere Einordnung in eine bestimmte Völker- und Sprachengruppe erlauben.

Wie es aber auch um das ligurische Gebiet stehen möge, jedenfalls hat die indogermanische Einwanderung das ganze übrige festländische Italien, ja wie es scheint auch Sizilien, in allmählichem Vordringen vollständig Die Sprache der Einwanderer: Altertümliches. ausgefüllt. Diese älteste für uns kenntliche Einwohnerschaft Italiens, von der die Römer Abkömmlinge sind, redete zur Zeit der Einwanderung eine Sprache, die die Züge der alten indogermanischen Mutter vielfach noch mit großer Treue bewahrte, vielfach freilich charakteristische Eigentümlichkeiten gegenüber den anderen indogermanischen Schwestern schon damals entwickelt hatte oder doch bald nachher gewann. Noch erklang in ihr der alte indogermanische Vokalismus mit so gut wie ungeschmälerter Fülle: die fünf Vokale a e i o u mit ihren Längen, die i- und u-Diphthonge ai ei oi au ou; und nur das eu ging bald in ou auf. Wie das Latein späterhin diesen reichen von den indogermanischen Großvätern ererbten Bestand sehr zuungunsten des Vollklangs der Sprache einschränkte, davon wird bald zu reden sein; was die Diphthonge angeht, so kann sich jeder ohne weiteres davon überzeugen, der ein paar beliebige lateinische Sätze liest. Auf dem Gebiet des Konsonantismus steht das Latein selbst in der historischen Zeit noch der indogermanischen Ursprache recht nahe; es hat sogar so charakteristische Klänge wie das qu in que ‚und‘ quis ‚wer‘ aus der voritalischen Zeit des Indogermanischen ererbt. Im Formensystem war am konservativsten die Deklination. Das alte Italische hatte außer den sechs Kasus, die aus der lateinischen Schulgrammatik bekannt sind, vom Indogermanischen auch einen auf die Frage „wo?“ antwortenden Kasus, den Lokativ, übernommen, der selbst im Lateinischen [525] noch als rudimentärer Überrest vorkommt. Außer dem Singular und Plural gab es als Ausdruck der Zweiheit den alten Dual, der auch noch bis ins Sonderleben des Lateins hineingeragt hat; alle diese Formen aber erfreuten sich im wesentlichen der alten indogermanischen Endungen ohne allzuviel Abschleifungen oder sonstige Veränderungen.

Im Gegensatz zu diesem Konservativismus sind, wie gesagt, auch Neuerungen in der Sprache der Einwanderer. Akzent.charakteristische Neuerungen bereits im frühesten Italischen vollzogen. Wenn die indogermanische Mutter betonte Silben im ganzen höher sprach als unbetonte, so ist das Italische dazu übergegangen, sie stärker zu sprechen; um es technisch auszudrücken: aus dem musikalischen Akzent ist ein exspiratorischer geworden. Es war eine Änderung, die weiterhin den lautlichen Habitus einzelner italischer Sprachen, besonders aber des Lateinischen, aufs stärkste beeinflußte. Der exspiratorische Akzent nämlich ist es gewesen, der die sogenannte Synkope zuwege brachte, das Verschwinden kurzer Vokale in der Silbe nach dem Akzent. Lateinisch cálidus ‚warm‘ ist nicht erst im Italienischen zu caldo geworden, sondern schon die Römer kennen auch die durch eben jenen Einfluß des Akzents hervorgerufene Form caldus. Diese Akzentwirkung ist aber um so weitgreifender gewesen, weil lange Zeit hindurch der lateinische Akzent noch nicht die uns aus der Schulgrammatik bekannte Stelle einnahm, sondern (von gänzlich unbetonten Wörtern natürlich abgesehen) in jedem Worte auf der ersten Silbe stand. Es verfielen also der Synkope die zweiten Silben in beliebig langen Worten. Der Baumname Cypresse kann dafür als bequemes Beispiel dienen. Bei den Griechen lautete er kyparissos; als ihn die Römer übernahmen, gaben sie ihm die Betonung auf der ersten Silbe, durch die das a vernichtet wurde, und so entstand lateinisch cupressus.

Unter den Veränderungen einzelner Laute heben wir als eine markante Lautliches.Eigentümlichkeit des Uritalischen die Behandlung der indogermanischen sog. Aspiraten hervor. Das Indogermanische kannte Verbindungen von b, g, d mit einem folgenden h, die sich im alten Indischen unverändert erhalten haben; diese eigenartigen Laute sind im Italischen zunächst zu sog. Spiranten geworden, das bh zu f, das gh zu ch (wie unser deutsches ch gesprochen), das dh zu th (gesprochen wie englisch th in thank think). So steht neben indisch bhrātar ‚Bruder‘ lateinisch frater. Das th hatten einzelne italische Dialekte noch im 5. Jahrhundert v. Chr. bewahrt, wie die merkwürdige Geschichte unseres Wortes Liter zeigt: es geht auf griechisch litra ‚Pfund‘ zurück, und dies ist eine lautlich nicht genaue Entlehnung der unteritalischen Griechen aus italisch lithra ‚Pfund‘. Die meisten italischen Dialekte aber hatten damals das th bereits weiter in f gewandelt, so daß in ihnen z. B. das Wort für Pfund lifra klang.

In der Formenlehre zeigt das Verbum den stärksten Riß zwischen Formales.Gemeinindogermanisch und Italisch. Wohl ist in den Personalendungen und ähnlichen formativen Elementen (z. B. dem des Konjunktivs oder [526] Optativs) das Alte im allgemeinen gewahrt, aber von den Tempora zeigt nur Präsens und Futurum (z. B. altlat. faxo) das alte aus dem Griechischen und anderen Schwestersprachen bekannte Aussehen; für die übrigen Tempora sind neue Bildungen im Werden, für das Passivum die mit dem Charakter -r-, die wir nachher in ihrer vollsten Ausgestaltung im Latein wiederfinden (amor amaris amatur usw.).

Syntaktisch-stilistische Eigentümlichkeiten im UritalischenSchwieriger ist es, jene Urzeit auch syntaktisch und – wenn man uns das Wort erlauben will für eine Zeit, der schriftlicher Ausdruck jedenfalls noch sehr fremd war – stilistisch zu charakterisieren. Immerhin lassen sich einzelne Züge aus der Übereinstimmung der einzelnen italischen Sprachen unter sich, aber auch mit den anderen indogermanischen Sprachen erschließen. Gewisse Wörtchen, die den modernen Sprachen in jedem Satze unentbehrlich scheinen, die uns gewissermaßen der Mörtel zwischen den einzelnen Steinen dünken, aus denen wir einen Satz aufbauen, waren überhaupt nicht vorhanden oder konnten wenigstens fehlen. So wußten die alten Italer nichts von bestimmtem und unbestimmtem Artikel, wie wir auch im Latein nur hier und da einmal schwache Ansätze zu der reichen romanischen Entwicklung dieser Wortkategorie erscheinen sehen. Die Präpositionen waren noch eingeschränkt durch die vorhin geschilderte Knappheit der grammatischen Formenreiche Fülle des Kasussystems: Wendungen wie „in dem Hause“, „aus dem Hause“, „durch die Waffen“ ließen sich daher durch ein Wort wiedergeben, wie das ebenfalls noch aus dem Lateinischen jedem Schüler geläufig wird. Ganz gewöhnlich fehlt beim Verbum die Bezeichnung der Person durch ein besonderes Pronomen, das „ich“ und „du“, ja für „er“, „sie“ und „es“ haben sich nur sekundär in den einzelnen italischen Sprachen Ausdrücke herausgebildet. Noch mehr Knappheit hat das Verbum der italischen Urzeit und so auch das lateinische vor unserm deutschen dadurch voraus, daß auch die Modi im ganzen nicht mit Hilfe so weitläufiger Umschreibungen wie könnte, möchte, würde, sondern nach altindogermanischer Art durch eine einheitliche Form ausgedrückt werden. So kann man, wenn man das vorhin gebrauchte Bild vom Mörtel wieder aufgreifen will, die Struktur des ältesten Italischen als zyklopisch bezeichnen. Daß diese Struktur in dem historischen Latein noch vielfach fortdauert, haben wir schon erwähnt; sie ist es, die, namentlich wo sie von Dichtem und Rhetoren als Mittel für ihre Zwecke benutzt wird, jene und des gesamten Ausdrucks.einzig knappe und markige Redeweise gestattet, in der alles nicht unbedingt zum Ausdruck des Gedankens Nötige verflüchtigt, der Gedanke selbst wie konzentriert erscheint. Fortes fortuna adiuvat ‚Tapfern hilft (das) Glück‘, factum, non fabula ‚Tatsache, nicht Fabel‘, oderint, dum metuant ‚(sie mögen mich) hassen, wofern (sie mich nur) fürchten‘ und wieviel Sprichwörter, geflügelte Worte und Zitate aus den in der Schule gelesenen Autoren können als Beispiel dienen. Wie Hammerschläge, von denen jeder voller Wucht den Nagelkopf trifft, klingt das odi profanum volgus et arceo, und einen Übersetzer, der das empfindet, muß das [527] müßige Nebenherklopfen des „ich“ und „das“ und „es“ im Deutschen an seiner Aufgabe verzweifeln lassen. Und von wie vielen anderen Sentenzen im Horaz und Vergil und gar erst etwa im Tacitus wäre das gleiche zu sagen.

Was den Eindruck zyklopischen Baues noch erhöhen mußte, war, daß Beiordnung als Prinzip des Satzbaus.es jenem Uritalischen an der Fülle satzverbindender Partikeln gebrach, wie wir sie schon im homerischen Griechisch und auch im späteren Latein entwickelt sehen. Wohl hat es nicht an einem Wort für „und“, „oder“ und „aber“ gefehlt, aber was von feineren Nuancierungen und Spezialisierungen dieser Begriffe etwa dem klassischen Latein eigentümlich ist, weist sich meist schon durch seine Etymologie als verhältnismäßig junge Errungenschaft aus. In noch erhöhtem Grade gilt dies von jenen Wörtchen, mit denen in der Zeit der kunstvoll sich aufbauenden Periodisierung die Abhängigkeit der Sätze voneinander bezeichnet wird, den „als“ und „weil“ und „da“. In diesen Dingen stellt der ciceronische Stil den Gegenpol dessen dar, was im Uritalischen für den Satzbau gegolten haben muß, obwohl man auch im historischen Latein, wenn man wollte, noch mit derselben rauhen Simplizität reden konnte wie die Altvordern: wenn der alte Cato sagte rem tene, verba sequentur ‘halte (die) Sache, (die) Worte (werden) folgen‘ d. h. ‚wenn du deiner Sache sicher bist, werden dir auch die Worte dafür nicht fehlen‘, so kann man sich daran, mag auch die Ausdrucksweise naiver erscheinen, als sie ist, doch eine Vorstellung bilden, wie einfach der alte Satzbau war, ohne daß er an Deutlichkeit und selbst an Wirkung einzubüßen brauchte.

Alliteration.Endlich für ein letztes „Stilistisches“, das wir jenem uritalischen Idiom zuschreiben, können wir uns auf die oben schon genannten Sprichwörter fortes fortuna adiuvat und factum, non fabula berufen: es ist die Vorliebe für gleichen Anlaut benachbarter Wörter, die, auch anderen verwandten Sprachen nicht fremd, uns besonders aus dem Germanischen geläufig ist, die Alliteration, die gern noch über den ersten Laut hinausgreift. Wie fest sie im Italischen wurzelte, wie zäh sie sich hielt, zeigt – um vom Zeugnis ältester volkstümlicher Poesie ganz abzusehen – eine Menge weiterer bekannter Redensarten, die zum Teil bis ins Romanische fortgedauert hat, wie satis superque ‚genug und übergenug‘, fortunae filius 'Glückskind', purus putus 'unverfälscht‘, cras credo 'morgen glaube ich’s (heute nicht)‘, sanus salvus 'unversehrt‘ = altfranzösisch sauf sain, cor corpusque = altfranzösisch cors cuer usw. Das Alter und die Bedeutsamkeit der Alliteration bezeugen ferner z. B. nicht wenige zweiteilige Götternamen wie Dea Dia, Fors Fortuna, Juno Juga, Mater Matuta und Namen von Götterpaaren wie 'Pilumnus und Picumnus. Auch dieser uralten Spracheigentümlichkeit hat sich natürlich späterhin Poesie und Kunstprosa mit Raffinement zu bedienen gewußt.

Beziehungen zum Griechischen, Keltischen und Germanischen.Man hat auf Grund der geschilderten und anderer Züge oft versucht, engere Verwandtschaftsbeziehungen des Uritalischen im Kreise der indogermanischen [528] Sprachen auszumitteln. Lange Zeit galt das Griechische als nächster Verwandter. Aber die fortschreitende Wissenschaft hat erwiesen, daß viele von den wirklich auffälligen Übereinstimmungen des Griechischen und Lateinischen nicht gemeinsames Erbteil aus dem Indogermanischen sind, sondern vielmehr auf einer Anleihe der Römer bei den Griechen beruhen. Wir werden noch davon zu reden haben, welche Spuren die dauernde Wechselwirkung zwischen beiden Völkern in historischer Zeit der Sprache der Römer aufgeprägt hat, wie diese sich mehr und mehr mit griechischen Lehnworten, Konstruktionen und selbst Wortbildungen durchsetzte. Daß das alles nichts für eine engere Gemeinschaft in Urzeiten besagen kann, ist unzweifelhaft; was aber außerdem an besonderen Ähnlichkeiten zwischen Italisch und Griechisch existiert, tritt an Belang hinter den Berührungen mit dem Keltischen zurück. Freilich sind auch diese vielfach überschätzt worden; immerhin verdient z. B. die Gemeinsamkeit der Bildung des Mediums und Passivums mit r (sequitur sequuntur) Beachtung. Daneben zeigt sich eine überraschende Übereinstimmung des italischen Wortschatzes mit dem deutschen. Lateinisch dūco, deutsch (Her)zog; lat. homo, deutsch (Bräuti)gam; lat. hostis, deutsch Gast sind ein paar Proben der unter allen indogermanischen Sprachen nur oder fast nur im Lateinischen und Deutschen sich findenden Wortgleichungen, die ebenso begrifflich wie lautlich aufs genaueste stimmen. Das sonderbarste aber ist wohl, daß unser Wort deutsch selbst sich fast Laut für Laut mit tuticus, dem Ausdruck für ‚völkisch‘ deckt, der vielleicht manchem Leser noch aus der bei Livius sich findenden samnitischen Amtsbezeichnung meddix tuticus erinnerlich ist.

Zerfall in zahlreiche Dialekte:II. Die Gliederung des Italischen in Dialekte. Die Verteilung einer Volksmasse über eine so ausgedehnte Räumlichkeit wie die Apenninhalbinsel muß – namentlich in Zeiten, wo der Verkehr über keine oder nur primitive Mittel verfügt, wo jeder höhere Gebirgsrücken, jeder breitere Flußlauf den Zusammenhang der Bevölkerung empfindlich unterbricht, und wo keinerlei Schriftsprache der Neigung zum Zerfall entgegenwirkt – zur Spaltung in Dialekte führen. Tatsächlich ist die Anzahl der (noch immer lange vor der historischen Zeit) entwickelten Varietäten der italischen Sprache sehr beträchtlich gewesen. Nicht wenig davon hat Überschwemmung mit späteren sprachfremden Einwanderern hinweggespült, von der unser dritten Abschnitt zu reden haben wird; der Rest ist uns großenteils nur durch eine dürftige inschriftliche Überlieferung bekannt – und doch können wir noch eine Fülle von Spielarten und von Spielarten der Spielarten unterscheiden. Hier muß es genügen, gerade so viel zu sagen, als nötig ist, um dem Lateinischen, der einen dieser Spielarten, den richtigen Platz unter den Geschwistern anzuweisen. Von diesen treten zwei noch für uns besonders kenntlich hervor. Das eine ist die Sprache das Umbrische der Bewohner Umbriens, die wir aus ziemlich umfangreichen Inschriften [529] sakralen Inhalts kennen, das andere die der Samniten, die von ihren Sitzen in den Hochtälern des Zentralapennins heruntersteigend im 5. Jahrhundert Kampanien sich und ihrer Mundart, die dort das Oskischeoskisch genannt ward, unterwarfen, aber auch in anderen Teilen Unteritaliens sowie in Sizilien Sprachdenkmäler hinterlassen haben. Das Umbrische und das Oskische stellen gewissermaßen die Extreme der italischen Sprachentwicklung dar; wenn das letztere jene Fülle der Diphthonge, von der vorhin die Rede war, so unverfälscht bewahrt hat wie unter den anderen indogermanischen Sprachen nur noch das Griechische, so ist im Umbrischen ihre Vereinfachung weiter fortgeschritten als selbst im Lateinischen; was hier aut 'oder‘ heißt, ist dort ote. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die Menge der übrigen die anderen.auch örtlich zwischen Umbrern und Samniten mitteninne liegenden Dialekte, teils dem einen, teils dem anderen stärker zustrebend. Die ganze Masse aber schließt sich in gewissen Eigentümlichkeiten ganz entschieden zu Abweichungen vom Lateinischen.einer Einheit gegenüber dem Latein zusammen. Was in diesem qu ist, zeigt sich in jener oskisch-umbrischen Gruppe als p; quis 'wer‘ wird zu pis, que 'und‘ wird zu pe; das f aber, das wir vorhin in frater und lifra als einen spezifisch italischen Laut erkannten, wird im Lateinischen, wenn es inmitten eines Wortes steht, zu b: so heißt es zwar frater auch im Lateinischen weiter, aber italisches lifra 'Pfund‘ wird zu libra.

Das Lateinische die Mundart der Latiner.Im letzten Punkt hat nicht einmal der Dialekt dem Lateinischen Heeresfolge geleistet, der sonst getreulich mit ihm geht und das quis und que allein mit ihm teilt, das Faliskische. Die Tatsache ist darum von besonderem Interesse, weil sie zeigt, wie eng der in Rom gesprochenen Mundart der Latiner, dem Lateinischen, die Grenzen gezogen waren. Die Stadt Falerii, deren Sprache das Faliskische ist, liegt kaum sechs Meilen nordwärts von Rom, aber zwischen die beiden Städte schiebt sich noch ein Streifen etruskischen Gebiets. Nach den anderen Himmelsrichtungen stand es nicht besser. So weit wie Falerii nach Norden ist nach Süden das Gebiet der Volsker und ihrer Sprache entfernt. Noch näher liegt nach Osten hin Präneste, das heutige Palestrina, dessen von den Komikern verspottete Abweichungen vom Stadtrömischen freilich nicht allzu erheblich gewesen zu sein scheinen; aber eine scharf einschneidende Sprachscheide bildete jedenfalls das bald hinter Präneste aufsteigende Hochgebirge. Nach Westen endlich setzte das Meer die engsten Schranken. So schätzt man das ganze Gebiet der Latiner, die Keimzelle der weltbeherrschenden lateinischen Sprache, noch für die Zeit um 400 v. Chr. auf nicht mehr als etwa 50 Quadratmeilen.

Wie von hier aus das Lateinische um sich gegriffen, wie es erst das italische Festland und die Inseln, dann die anderen Länder erobert hat, in denen heute romanische Sprachen gesprochen werden, darüber hinaus aber manches Gebiet in fremdem Erdteil, das erst nachträglich der römischen Zunge wieder abgerungen worden ist (so Nordafrika) – dies auch nur in großen Zügen erzählen hieße dem Historiker ins Handwerk pfuschen. Ähnliches [530] hat nur etwa der zu berichten, der die Geschichte Englands und der Verdrängung der anderen italischen Dialekte.englischen Kolonien erzählt. Nur soweit soll darauf hier eingegangen werden, als es sich um die Überwältigung der italischen Brüder handelt. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts können sie als unterworfen gelten, ihr Gebiet ist von römischen Ansiedlern durchsetzt und damit auch das Schicksal ihrer Mundarten entschieden. Ihre spätesten sicher datierbaren Denkmäler sind die Münzen, die bei der letzten vergeblichen Erhebung der Italer gegen Rom 90 v. Chr. mit oskischer Aufschrift und dem Münzbild des gegen die römische Wölfin kämpfenden italischen Stieres geprägt worden sind. Von da an sind die Dialekte aus allem offiziellen Gebrauch verschwunden; in privatem Verkehr, in entlegenen Gebirgswinkeln mögen sie noch lange vegetiert haben, aber in den modernen italienischen Dialekten kann man nichts auf sie zurückführen als höchstens hier und da einmal eine Neigung zu gewissen Lautverbindungen.

Entlehnungen aus diesen.Indes der Sieger selbst sicherte wenigstens einzelnen Worten des oskisch-umbrischen Lexikons Dauer in seiner eigenen Sprache. Wenn die urzeitlichen Verhältnisse den Zerfall in Dialekte herbeiführten, so folgte daraus bei zunehmendem Verkehr eine um so größere Leichtigkeit der Entlehnung hin und her. Für den Römer lag sie besonders nahe, wo ihm im Gewände der fremden Mundart eine überlegene oder wenigstens in Einzelheiten imponierende Kultur entgegentrat. So ist ihm eine Anzahl Ausdrücke auf dem Gebiete der Viehzucht von einem der anderen italischen Stämme zugekommen, die darin ihre besondere Stärke hatten; sowohl bos 'Rind‘ wie scrofa 'Schwein‘ (lateinisch wäre, wie wir oben gesehen haben, scroba) sind in ihrer Lautform unlateinisch, dagegen oskisch und umbrisch. Aber auch andere Stücke des lateinischen Wortschatzes sind den gleichen Weg gekommen: rufus 'rot‘, das vielleicht auch vorzugsweise ein Ausdruck der Viehzüchter war, neben ruber mit echt lateinischem b, popīna 'die Garküche‘ neben coquere 'kochen‘, wo wir das Verhältnis p : qu wiederfinden, u. a.

Die übrigen Sprachen Italiens.III. Die sonstigen Sprachen der Apenninhalbinsel und ihr Verhältnis zum Lateinischen. Nicht nur die eigenen Brüder mußte das Latein besiegen, um selbst Italien zu beherrschen. Der alten urzeitlichen Einwanderung der Italer sind in späterer Zeit, teilweise schon im Lichte der Geschichte andere gefolgt, die Italien zu einer Musterkarte indogermanischer, aber auch anderer Sprachen gemacht haben, bis die Uniformierung durch das Latein erfolgte. Auch von diesem Kampfe trägt der Überwinder manche Spuren in Form von Entlehnungen aus den unterlegenen Sprachen dauernd an sich. Am wenigsten haben auf ihn die Besiedler Venetisch und Messapisch.der Nordost- und der Südostecke Italiens, die Veneter und Messapier gewirkt, deren Zugehörigkeit zu dem indogermanischen Stamm der Illyrier wenigstens als wahrscheinlich gelten darf. Dagegen waren die Griechisch.zahlreichen Niederlassungen der Griechen in Süditalien und Sizilien zwar [531] gewiß nicht der einzige Quell, der griechische Wörter in die lateinische Sprache ergoß, aber jedenfalls einer der ältesten und einer, der ohne Unterbrechung sprudelte. Wie früh und wie intensiv die Berührung war, zeigt am deutlichsten wohl die Tatsache, daß Kyme oder Cumae in Kampanien, eine Pflanzstadt von Chalkis auf Euböa, wie anderen Völkern Italiens so auch den Römern schon vor dem 6. Jahrhundert das Alphabet geliefert hat. Auch einiges aus dem Sprachschatz der Kelten,Keltisch. die etwa um 500 v. Chr. über die Alpen drangen und nach wiederholten Vorstößen gegen Süden in der Poebene dauernd seßhaft blieben, ist ins Latein übergegangen. So namentlich eine Anzahl Ausdrücke für das Fuhrwesen, dergleichen noch zur cäsarischen Zeit der veronesische Dichter Catull in der römischen Literatur heimisch machte.

Neben den drei indogermanischen Stämmen Etruskisch.aber blieb auch ein ganz fremdartiger nicht ohne Einfluß auf die Sprache der Römer. Zwischen die italische und keltische Einwanderung fällt die der Etrusker. Woher dies Volk gekommen ist, würden wir sagen können, wenn wir seine Sprache zu irgendwelcher sonst bekannten in verwandtschaftliche Beziehung setzen könnten. Aber obwohl wir Tausende von etruskischen Inschriften, ja sogar ein etruskisches Buch besitzen, hat das nicht gelingen wollen; und was wir vom Etruskischen verstehen, reicht nur eben gerade hin, um mit Bestimmtheit sagen zu können: Indogermanen sind die Etrusker nicht gewesen. Und doch hat auch hier eine vor der römischen erblühte Kultur und ein politischer Einfluß, der um 500 v. Chr. von den Alpen bis nach Kampanien hinein sich erstreckte und sich erst später auf das noch jetzt von den Etruskern den Namen tragende Toskana einschränkte, dahin gewirkt, daß Etruskisches sich ins Latein mischte. So darf die Vermutung, daß einzelne technische Ausdrücke auf dem Gebiete des Sakral-, des Kalender-, des Theaterwesens (z. B. persona 'die Maske‘) von den Etruskern stammen, zumal sie durch die Nachrichten der Alten manche Stütze empfängt, nicht verwegen gescholten werden. Und wenn das Etruskische genau wie das vorhistorische Lateinisch (s. oben S. 525) seine Wörter auf der ersten Silbe betont und dadurch vielfach den Vokalismus der folgenden Silben schädigt, so zeigt der Vorgang hier und dort so viel Ähnlichkeit im einzelnen, daß der Gedanke an historischen Zusammenhang viel für sich hat. Ganz sicher steht etruskischer Ursprung für einen großen Teil des römischen Namenschatzes – zum deutlichen Zeichen, daß hinter der Sage von den Tarquiniern, den römischen Königen etruskischen Stammes und Namens, ein greifbarer Kern sich birgt. Und wie überall, wo eine Sprache einer anderen Worte in größerer Fülle entlehnt, kamen mit den etruskischen Namen wohl auch manche formative Elemente, manche Endungen ins Lateinische hinüber; eine davon (-itta) ist uns durch ihre Fortdauer in ital. Giulietta Ninetta, französ. Juliette Henriette ganz geläufig.

Über solche AnleihenEntlehnungen aus diesen Sprachen. lexikalischer, formaler und etwa auch lautlicher Natur ist das Latein, soviel wir sehen, nur beim Griechischen hinausgegangen. [532] Aus ganz begreiflichen Gründen. Etruskisch und Keltisch, Venetisch und Messapisch schwanden auf dem italischen Boden vor dem Latein dahin, genau wie Oskisch und Umbrisch. Wohl soll es noch zur Zeit Julians des Abtrünnigen Opferschauer gegeben haben, die ihre Weisheit aus etruskischen Büchern holten, aber es war zweifellos schon eine tote Sprache, in der diese Geheimnisse fortgepflanzt wurden, etwa wie das Hebräisch der Synagogen. Keltisch und Illyrisch aber lebten zwar in den Ländern jenseits der Alpen und des Meeres fort, aber sie hatten auch dort keine Kultur hinter sich, die die Römer zu weiteren Entlehnungen hätte veranlassen können. Anders standen die Römer den Griechen gegenüber. besonders aus dem Griechischen.Griechisch redende Bevölkerung blieb in Süditalien immer seßhaft, und das Mutterland, von dem sie ausgegangen war, fing früh, mindestens seit dem Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr., auch unmittelbar mit allem Zauber einer selbst von den politisch überlegenen Römern fast ausnahmslos als unerreichbar anerkannten Sprache und Literatur auf die „Barbaren“ zu wirken an. Nach solchen Vorbildern scheute man sich nicht, auch Syntax und Stil in Rom zu modeln; und nicht einmal sondern wieder und wieder mußte es sich das Latein gefallen lassen, über den griechischen Kamm geschoren zu werden. Ja man darf sagen, die Geschichte des lateinischen Stiles auf seiner Höhe und in seinem Verfall ist unverständlich für den, der nicht ständig seinen Blick auf die griechischen Muster gerichtet hält, wie das unser Abschnitt über die Schriftsprache (VI) im einzelnen zeigen soll. Bei der Volkssprache kann weder von einem so bewußten noch von einem ähnlich weitgehenden Anschluß an das Griechische die Rede sein. Und doch zeigt allein schon die etymologische Analyse der auf ihr beruhenden romanischen Sprachen auch hier einen starken Beisatz griechischer Elemente nicht nur zum Lexikon, sondern auch zu Wortbildung und Syntax auf. Es wird auch für weiterhin folgende Betrachtungen nicht überflüssig sein, dies mit ein paar Beispielen zu bekräftigen. Sowohl französisch coup, italienisch colpo ’Schlag‘ wie französisch blâmer (älter blasmer), italienisch biasimare ’tadeln‘ gehen auf griechische Worte zurück, jenes auf kolaphos ’Ohrfeige‘, ’Schlag‘, das wir auch aus der römischen Literatur als griechisches Lehnwort kennen, dies auf blasphemein ’tadeln‘, aus dem wir unser blasphemieren entlehnt haben. Italienisch (spanisch, portugiesisch) giro ’Kreis, Umlauf‘ ist griechisch gyros ’Kreis‘, das wir in verschiedenen Schichten der römischen Literatur auch in mannigfachen Ableitungen beobachten können. Wenn hier das ganze Wort griechischen Ursprungs ist, so in französisch princesse comtesse déesse usw. die das Feminin ausdrückende Endung; sie lautet im Lateinischen wie im Griechischen, das sie geschaffen hat, gleichmäßig -issa. Syntaktisch aber wird der Römer aus dem Volke zum Gefolgsmann des Griechen, wenn er ihm die Präposition cata entlehnt und aus cata unum ’zu je einem‘ das Pronomen schafft, das den Italienern zu ciascuno, den Franzosen zu chacun geworden ist.

[533] IV. Das älteste Latein bis zum Beginn der Literatur. MancherDie Inschrift vom Forum. Leser erinnert sich vielleicht noch, daß im Jahr 1899 ein Inschriftfund auf dem römischen Forum das Interesse sogar der Tageszeitungen erregte. Unter einem schwarzen Pflaster, das man im Altertum für das Grab des Romulus gehalten zu haben scheint, fand sich eine verstümmelte Säule, die in etwa anderthalb Dutzend Worten einen kärglichen Inschriftrest trägt. Sowohl die Fundumstände wie die Altertümlichkeit der Sprachformen und der Schrift lassen die Annahme nicht allzu verwegen erscheinen, daß dies Denkmal etwa aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. stammt; jedenfalls haben wir hier das älteste stadtrömische Latein vor Augen. Vergegenwärtigen wir uns den Zustand der Sprache, den wir durch diese Inschrift kennen Das Latein im 6. Jahrhundert v. Chr. gelernt haben. Jene Lauteigentümlichkeiten, die das Latein, wie vorhin angegeben, gegen das Oskisch-Umbrische differenzieren, sind schon vorhanden, aber im übrigen ist der Unterschied gegenüber dem Latein, wie wir es auf der Schule lernen, noch ein gewaltiger. So heißt es z. B. statt sacer ’heilig‘ sakros, statt iusto ’durch den Gerechten‘ iovestod, statt iumenta ’Zugvieh‘ iouxmenta. Wie sich das im einzelnen zu den uns geläufigen Formen entwickelt hat, sind wir nicht in der Lage zu verfolgen, weil aus den nächstfolgenden Zeiten nur wenige Sprachdenkmäler und alle geringen Umfangs erhalten sind. Eine zusammenhängende und ausgiebige Reihe von inschriftlichen und literarischen Monumenten setzt erst gegen Ende des 3. Jahrhunderts ein; erst von da ab ist eine wirkliche Geschichte wenigstens des schriftlich fixierten Lateins möglich. Diese Geschichte aber ist im wesentlichen nur eine Geschichte der Syntax und des Stiles, dennDie Veränderungen des Lateins bis zum 3. Jahrhundert v. Chr. die Deklinations- und Konjugationsformen haben von jenem Zeitpunkt ab nicht mehr so gewechselt, daß nicht, wer den ciceronischen Brauch kennt, ohne weiteres imstande wäre, im ganzen auch die Komödien des Plautus zu verstehen, die um 200 v. Chr. geschrieben sind. Die Vorgänge also, die dem Latein im wesentlichen die Form gegeben haben, die wir aus der Schulgrammatik kennen, jene schweren lautlichen Verstümmelungen, wie sie sakros, iovestod und iouxmenta erfahren haben, dürften etwa dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. angehören. Teils in diese Zeit, teils 100 bis 150 Jahre später fallen auch die Beeinträchtigungen des alten bunten Vokalismus, von dem eingangs die Rede war: die Diphthonge werden zu einfachen Vokalen (ī oder ū), ai wenigstens zu ae, nur au bleibt erhalten (claudo ’ich schließe‘ usw.); die kurzen Vokale im Wortinnern werden alle zu ĭ oder ĕ (cădo ’ich falle‘, aber concĭdo ’ich falle zusammen‘, rĕgo ’ich richte‘, aber erĭgo ’ich richte auf‘, cantus ’der Gesang‘, aber concentus ’das Zusammensingen‘). Und so viel vokalischen Vollton auch das Latein noch nach dieser Schmälerung besitzt und namentlich unter den Händen eines geschickten Stilkünstlers entfalten kann, so berührt doch bisweilen ein gewisser spitzer und dünner Klang, zumal bei unachtsamer Behandlung, das Ohr minder angenehm.

Ältester Stilistischer Einfluß des Griechischen.In diese älteste uns einigermaßen kenntliche Periode der Sonderexistenz des Lateinischen fällt aber auch schon die erste stilistische Beeinflussung [534] durch das Griechische. Ob die Zehnmänner, die mit der Abfassung des Gesetzbuchs der 12 Tafeln (451/450) betraut waren, wirklich vorher eine Kommission nach Athen geschickt haben, um dort die Solonischen Gesetze zu studieren, hat man ebenso bezweifelt wie die tätige Mitwirkung eines Griechen bei der Kodifikation in Rom. Was aber griechische Inschriftfunde der letzten Jahrzehnte sichergestellt haben, ist, daß Formeln und Satzformen der 12 Tafeln vielfach nach griechischem Muster gestaltet sind. „Wenn (jemand) nachts stiehlt, wenn der Bestohlene ihn tötet, soll (er) zu Recht getötet sein.“ Kürze des Ausdrucks.„Wenn (jemand einen anderen) vor Gericht lädt, (so) soll (dieser andere) folgen. Wenn (er) nicht folgt, soll (der erste) einen Zeugen nehmen, dann soll (der erste) ihn (den anderen) ergreifen.“ Dieser Lakonismus der 12 Tafeln unterscheidet sich wesentlich von dem oben geschilderten italischen. Der letztere hinterläßt keine Unklarheiten; vom ersteren kann man das gleiche nur dann sagen, wenn er nicht sowohl auf Hörer als vielmehr auf Leser berechnet ist, die Zeit haben, sich zu überlegen, auf wen jeder der subjektlosen Sätze sich bezieht. Daß diese Kürze, bei der Mißdeutungen nur durch sorgsame Interpretation ausgeschlossen werden konnten, nicht römischem Boden entsprungen ist, wird um so sicherer scheinen, wenn wir hinzusetzen, daß sonst gerade römische Skrupulosität des Ausdrucks.Gesetzessprache schon in ihren ältesten Urkunden eine echt römische Skrupulosität an den Tag legt, die sich in Verhütung von Mißverständnissen gar nicht genug tun kann. Nicht „der Tag, an welchem das und das geschehen soll“, heißt es hier, sondern „der Tag, an welchem Tage“, nicht „wer nach diesem Gesetze verurteilt ist, darf das und das nicht tun“, sondern „wer nach diesem Gesetze verurteilt ist oder sein wird“; die Sprache bemüht sich in solchen Fällen, nur ja alle denkbaren Möglichkeiten zu erschöpfen. So sicher diese Eigentümlichkeit auf jenem Geschick und jener Gewissenhaftigkeit der Kasuistik beruht, die in immer verfeinerter Ausbildung die Größe der römischen Juristen ausmacht, um so gewisser dürfen wir die dazu in polarem Gegensatz stehende Knappheit nicht nur in Parallele setzen mit der genau entsprechenden Ausdrucksweise griechischer Gesetze wie des von Gortyn auf Kreta, sondern unmitttelbar daraus herleiten.

Stilistischer Einfluß der ältesten Gesetzgebung.Die 12 Tafeln gingen jedem Römer schon in frühester Jugend in Fleisch und Blut über; sie wurden in der Schule auswendig gelernt, und das Leben sorgte dafür, daß sie dauernder Besitz des Gedächtnisses blieben. So wird, wer etwa des alten Cato uns erhaltene Prosaschrift über den Landbau (aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.) liest und den eigentümlich kurz angebundenen Kommandoton des Büchleins auf sich wirken läßt, die Vermutung nicht willkürlich finden, daß Cato im Stil der 12 Tafeln, d. h. ihm selbst natürlich unbewußt im Stil griechischer Gesetze schreibt. Nicht besser kann sich offenbaren, wie sehr das Latein in den Bann des Griechischen geriet, als darin, daß auch der starre Altrömer, der abgesagte Feind alles griechischen Wesens, ihm hier verfiel, wo er gewiß durchaus populär sein wollte.

[535] V. Schrift- und Umgangssprache. Plautus. Wir haben so die Die Schrift eine ungenaue Wiedergabe der Sprache.Entwicklung des Lateins etwa bis zum Jahr 200 v. Chr. verfolgt. Hier setzt, wie schon gesagt, eine zusammenhängende Reihe von Denkmälern der Sprache ein, sowohl literarischen als inschriftlichen, die sich über einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten erstreckt. Ein sehr schätzbares Material und doch ein Material, dessen Wert, wie man allmählich erkannt hat, gerade für den Grammatiker nur ein sehr bedingter ist. Die Erforschung aller toten, d. h. uns nur in schriftlicher Fixierung bekannten Sprachen, stößt auf große Schwierigkeiten. Eine Frage z. B., die sich bei allen erhebt und bei keiner sich in völlig genügender Weise lösen läßt, ist die nach dem Verhältnis des Schriftbildes zur Aussprache. Man lernt heute noch auf den meisten Schulen die Aussprache Zizero, weil wir aus dem Französischen, Italienischen usw. gewöhnt sind, c nur vor dunkeln Vokalen wie k, vor hellen aber als Zischlaut zu sprechen. Erst eine fortgeschrittene Forschung erschloß die Unrichtigkeit dieser Aussprache teils aus der griechischen Transkription des Namens (Kikeron), teils aus der umgekehrten Erscheinung, daß jedes griechische k im Lateinischen mit c wiedergegeben wird, auch vor hellen Vokalen (griech. kistē, lat. cista ’Kiste‘), teils aus der Lautung alter lateinischer Lehnworte im Deutschen (z. B. Kiste eben aus dem letztgenannten lateinischen Worte, Keller aus lat. cellarium, Kerker aus carcer), teils aus anderen Gründen.

Wenn hier sich an einem verhältnismäßig einfachen Beispiel zeigt, Stilisierung der Sprache für die Literaturwie mühselig es ist, auch nur eine Einzelheit der Aussprache eines ausgestorbenen Idioms festzustellen, so setzt doch das Latein dem Versuch, durch das Schriftbild zur wirklich gesprochenen Sprache vorzudringen, noch ganz besondere, in vielen Stücken geradezu unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Vielleicht keine einzige andere Sprache ist für den schriftlichen Gebrauch so stilisiert worden wie das Lateinische. Das beginnt mit dem Beginn der Literatur, d. h. in eben dem Augenblick, von dem an wir das Latein wirklich eingehend kennen. Die Prinzipien aber, nach denen die Stilisierung erfolgt, sind im wesentlichen – wie das Grundprinzip selbst, daß, was geschrieben wird, auch stilisiert sein muß – griechische. Nun ist vieles von diesen Prinzipien nicht bloß für den Leser, sondern auch für den Hörer berechnet, zum Teil, weil es aus dem rednerischen Gebrauch entsprungen ist, zum Teil aber auch, weil man im Altertum laut zu lesen pflegte, auch wo man nur für sich allein las. Gerade hierdurch hat sich der schriftliche Ausdruck, statt, wie man denken könnte, sich der täglichen Umgangssprache zu nähern, nur um so weiter von ihr entfernt. Es genügt, auf das eine Stilprinzip hinzuweisen, das für unsere Begriffe freilich auch das allerbefremdlichste ist. Schon bei den attischen Rednern zeigt die Rede Rhythmus, aber erst den entarteten asiatischen insbesondere Rhythmisierung.Rhetoren des 3. Jahrhunderts v. Chr. war es vorbehalten, diesen Rhythmus in kleinliche Regeln zu zwängen. Bereits vor Cicero hat die römische Prosa von diesen Regeln nicht selten Gebrauch gemacht; Cicero sieht sie [536] für seine Sprache durchaus als verbindlich an, in den Reden wie in den Briefen, in den philosophischen wie in den rhetorischen Schriften. Und nichts zeigt seine beherrschende Stellung innerhalb der römischen Literatur deutlicher, als daß von jetzt an nur die ernstesten Fachschriftsteller wie die Juristen und Männer vom Range eines Tacitus sich die Abweichung von dem steifen und – wie es uns scheinen will – monotonen Regelzwang gestatten. Vier Verbindungen von bestimmten Versfüßen, fünf bis acht und mehr Silben umfassend, nehmen jetzt fast jeden römischen Satzschluß ein, ja erscheinen nicht nur da, wo wir einen Punkt, sondern meist auch, wo wir ein Komma setzen.

Mehr braucht man eigentlich nicht zu sagen, um den abgrundtiefen Riß erkennen zu lassen, der das Latein der Literatur von dem Latein des Alltags trennte. Der Zwang der Rhythmisierung hat so gut wie der Zwang des Versbaus beständige Abweichungen vom naturwüchsigen Latein zur Folge gehabt. Wortwahl, Wortformung, Wortstellung wurden entscheidend beeinflußt, und ein Mann aus dem Volk mag manchmal rechtschaffene Mühe gehabt haben, um eine ciceronische Periode zu verstehen. F. Th. Vischer hat, um die Verschiedenheit zwischen mündlichem und schriftlichem Ausdruck scharf auszusprechen, einmal das Wort geprägt: „eine Rede ist keine Schreibe“; man könnte mit einer Umkehrung dieses Ausdrucks sagen, daß die Schrift in keinem Idiom so wenig wie im Lateinischen die Sprache ist.

Natürlich soll nicht geleugnet werden, daß, wie wir ja Schriftsteller gefunden haben, die die Rhythmisierung als Stilprinzip verschmähen, so manche andere überhaupt nicht nach dem Ruhme geizen, eine kunstvolle Sprache zu schreiben. Indessen ist solche Genügsamkeit nicht nur eine Ausnahme in der römischen Literatur, sondern man darf wohl auch sagen, daß von einem gewissen literarischen und also auch stilistischen Ehrgeiz, jedenfalls aber von literarisch-stilistischen Reminiszenzen so ziemlich jeder beherrscht wird, der den Griffel in die Hand nimmt. Ja selbst wo ein Petron.realistischer Schriftsteller die alltägliche Aussprache und Syntax zu kopieren unternimmt, wie es heute etwa Sudermann und Hauptmann tun, zur Zeit Neros Petron an einzelnen Stellen seines meisterhaften Romans getan hat, fließt die Quelle einerseits fürs Latein spärlich, andererseits bleibt immer zu fürchten, daß ungenaue Beobachtung und Karikatur vorliegt.

Das Latein eine logische Sprache?Vielleicht wird man jetzt ahnen, daß manche Urteile über die lateinisch Sprache Vorurteile nach der einen oder anderen Seite sind, ausgegangen von solchen, die der Meinung waren, wer Vergil oder Tacitus oder die Juristen kenne, kenne das Lateinische. Ein bis zum Überdruß wiederholtes Schlagwort ist das von der logischen Natur des Lateins. Jeden Grammatiker mutet es von vornherein sehr altmodisch an. W. v. Humboldt und andere nach ihm haben das Vorurteil für immer zerstört, daß Sprechen und Denken identisch, Satz = Urteil, Wort = Begriff sei; wir wissen seitdem, daß Sprechen (von seiner physiologischen Seite [537] abgesehen) ein rein psychologischer Prozeß ist – in einer Sprache so gut wie in der anderen. Wohl kann eine Sprache, die scharf ausgeprägte Endungen und in einem Heer satzregierender Wörtchen wie „weil“, „als“, „damit“ usw. die Möglichkeit zu künstlich gegliederter Satzfügung besitzt, die Beziehung der einzelnen Worte aufeinander, die Unter- oder Überordnung der einzelnen Gedanken besonders klar ausdrücken; und das Latein war in diesem Falle, denn die scharf ausgeprägten Endungen hatte es sich zu einem guten Teil seit der italischen Urzeit bewahrt, die satzregierenden Wörtchen allmählich herausgebildet. Nichtsdestoweniger konnte man im Lateinischen genau so unlogisch reden wie im Deutschen – und hat nicht weniger oft so unlogisch geredet. Wer das bestreitet, hat nicht nur Ciceros Sprache nie mit scharfen Augen betrachtet, sondern vergißt vor allem, daß, wer um der logischen Ausdrucksweise etwa der klassischen Juristen willen von dem „logischen Latein“ redet, ebensogut um Lessings willen von einer eminent logischen Natur der deutschen Sprache reden dürfte.

Das Latein eine nüchterne Sprache?Aber wenn hier ein günstiges Vorurteil zu zerstören war, so kann man zum Entgelt auch manches ungünstige vom Latein abwälzen. Grillparzer hat einmal gefragt: „Fällt es jedermann so schwer als mir, sich eine junge Römerin zu denken, die mit ihrem Heißgeliebten von ihrer Leidenschaft – lateinisch spricht?“ Er drückt etwas konkreter aus, was man gewöhnlich recht abstrakt die Nüchternheit der lateinischen Sprache nennen hört. Auch hier soll eine gewisse Berechtigung solchen Urteils nicht völlig bestritten werden. Um nur eins herauszugreifen: einen schönen Schmuck poetischer Rede pflegen Zusammensetzungen, insbesondere zusammengesetzte Beiwörter zu bilden. Die indogermanische Muttersprache vererbte ihren Töchtern fast unbegrenzte Möglichkeiten solcher Bildung, und diejenigen ihrer Töchter, die in der Poesie das Höchste geleistet haben, sie haben auch von jenen Möglichkeiten den umfassendsten Gebrauch gemacht: das Griechische und das Germanische. Aber dem Lateinischen ist dieser schöne Zug fast völlig abhanden gekommen; nur kümmerliche Pflänzchen ringt mühselige Kunst dem Boden ab, der anderen Sprachen, kaum bestellt, reichste Blüten und Früchte trägt. Die Schuld trägt hier wirklich zu gutem Teil die unpoetische Natur der Römer. Kein Volkslied, kein aus dem Volk hervorgewachsenes Epos kräftigt die indogermanischen Keime der Wortzusammensetzung, und als die Übersetzung und Nachahmung griechischer Meisterwerke eine Kunstpoesie schafft, sind die Keime nicht mehr recht triebfähig. Freilich waren sie zugleich auch von den vorhin geschilderten lautlichen Verstümmelungen besonders schwer betroffen worden.

Leidenschaft in der literarischen Sprache.Dies und Ähnliches soll nicht bestritten werden; darum aber dem Latein die Fähigkeit zu Ausbrüchen tiefen Gefühls und wiederum andererseits etwa zu zärtlicher Tändelei absprechen und meinen, daß himmelhoch Jauchzende und zu Tode Betrübte stumm bleiben mußten, wenn sie das [538] Unglück hatten, Römer zu sein, – das kann auch wieder nur, wer auf einzelne Schriftsteller hin über die ganze Sprache aburteilen zu dürfen glaubt. Gewiß ist in der römischen Literatur häufiger die gewaltige Kraft leidenschaftlicher Invektive und das schöne Pathos männlicher Begeisterung (man muß etwa Ciceros Rede gegen Piso lesen, um die erstere ganz zu empfinden; beim letzteren aber – wer denkt nicht an horazische Glanzstellen, die kein Schulunterricht verleiden kann, wie das Iustum et tenacem propositi virum oder Dulce et decorum est pro patria mori?). Aber, wenn auch schon derlei genügen müßte, um das Latein vom Vorwurf angeborener Nüchternheit zu befreien, hat nicht Catull der Liebe Leid und Lust mit so vollen Tönen zu singen gewußt wie die Besten anderer Literaturen?

Leidenschaft in der Sprache des Alltags.Vor allem indes: man soll auch hier, um über die Ausdrucksmöglichkeinten der lateinischen Sprache zu urteilen, nicht bei den klassischen Literaturdenkmalen stehenbleiben. Etwas von starrer Maske hat ihr Stil, wie wir gesehen haben, immer. Die Züge des lebendigen Antlitzes, das dahinter steckt, sprechen deutlicher. Das Latein, wie wir es auf der Schule lernen, wie wir es bei Tacitus, in der Aeneis, ja selbst in mancher Liebesode des Horaz lesen, mag uns immerhin etwas schwer und steif für Liebesgetändel dünken. Aber daß Roms Mädchen leichte und graziöse Worte dafür fanden, kann man doch nicht bezweifeln, wenn man an die Töchter der römischen Mutter denkt. Wo fließt derlei anmutiger von den Lippen als im Französischen und Italienischen? und sollte nicht, was die beiden gemeinsam haben, ererbtes Gut sein?

Plautus als Quelle der Alltagssprache?Wir können die letzte Frage bestimmt mit „ja“ beantworten. Daß wir es können, danken wir dem Manne, der zeitlich der erste ist, von dem uns umfassende Werke in lateinischer Sprache erhalten sind, der aber zugleich gerade durch seine Sprachbehandlung eine Sonderstellung unter allen uns erhaltenen römischen Schriftstellern einnimmt, dem Lustspieldichter Plautus († 184). Plautus war nach unseren Begriffen kein Originalgenie, sondern eher ein Übersetzer aus dem Griechischen, aber nicht nur keinem anderen Übersetzer, sondern selbst keinem Dichter – die Vorbilder des Plautus etwa ausgenommen – dürfte es wie ihm gelungen sein, in tadellosen Versen so unverfälscht die Alltagssprache zu schreiben. Selbstverständlich ist das nur darum möglich, weil die Gattung des Lustspiels eine besondere Stilisierung der Alltagssprache nicht mit Notwendigkeit verlangt. Aber auch daß Plautus in so frühe Zeit fällt, kommt uns hier zustatten: an dem zweiten uns erhaltenen Lustspieldichter Terenz (tätig von 166–159) können wir sehen, wie mit dem größeren Interesse vornehmer Kreise an der Literatur auch in der Komödie der Ton feiner, gehaltener, künstlicher wird. Plautus allein führt uns den Durchschnittsrömer vor, redend, wie ihm der Schnabel gewachsen ist; seine Verse haben ihn zwar, wie natürlich, auch manchmal zu freiem Schalten mit der Umgangssprache genötigt, sie enthalten auch mancherlei gräzisierende [539] Wendung und nicht wenig absichtliche Wortkunst, im ganzen aber spiegeln sie das lebendige Latein in seiner Betonung, im Klang einzelner Worte und ganzer Sätze, im Wortlaut der üblichen Formeln für „Guten Tag“, „Wie geht’s?“ usw. und, was mehr ist, in seiner gesamten Ausdrucksfähigkeit aufs treuste wider. Und danach kann man nur sagen,Charakteristik der Alltagssprache. es gab nichts, was in diesem Latein seinen adäquaten Ausdruck nicht hätte finden können. Reife Lebensweisheit und toller Übermut, Liebesschmerz, der am Leben verzweifelt, und reizendste Schmeichelworte, aus denen es wie ein perlendes Lachen noch heute an unser Ohr klingt, Vaterfreude und Vaterschmerz, kurz, was es irgend für Töne in der Skala der Empfindungen und Gedanken des täglichen Lebens gibt, alle sind sie zu hören, und wer diesen Dichter zu lesen versteht, ist ebenso von der Meinung geheilt, daß das Latein seiner Natur nach eine nüchterne, wie von der anderen, daß es eine eminent logische Sprache war. Wir haben hier das treueste und in vielem Sinne auch vollständigste Bild des wirklichen Lateins. Selbst scheinbare Lücken erweisen sich als genaues Spiegelbild der Sprache, wie sie damals war. So fehlt in der Komödie natürlich die Ausdrucksweise des wissenschaftlichen abstrakten Denkens. Aber auch diese Zufälligkeit entspricht einem tatsächlich vorhandenen Zuge des Lateinischen: an derlei gebrach es nämlich wirklich und nicht bloß bei Plautus, und erst als das Interesse für griechische Wissenschaft in Rom den Versuch der Nachbildung hervorruft, fängt man an, diese Lücke bitter zu empfinden und nach Möglichkeit mit fremdem und heimischem Gute zu füllen.

Stilisierung der Sprache schon bei den Zeitgenossen des Plautus.Plautus ist, wie gesagt, unter den erhaltenen Dichtern der einzige, dem die Art seiner Poesie und seine Zeit vielfachen Gebrauch der Alltagssprache gestatteten. Freilich auch ihm täte man gewaltiges Unrecht, wollte man ihn als eine Art Naturdichter ansehen: er schreibt die Alltagssprache nur, wenn er es will, und mit vollstem Bewußtsein; lüstet’s ihn aber, die Künste des eleganten Stils spielen zu lassen, so gibt es auch da kaum eine, die ihm nicht zur Verfügung stünde. Dann klingen und rauschen seine Verse von den kühnsten und wohltönendsten Assonanzen und Reimen, die jemals ein Römer dem gefügigen Instrument seiner Sprache ablockte. Seine Zeitgenossen aber, die sich mit dem Epos und dem ernsten Drama beschäftigen, jagen mit weitgehender Stilisierung der Sprache allermeist diesen künstlichen Klängen nach, und bald folgt dieser Neigung auch die Prosa. Unter der Eisdecke der Literatur verschwindet jetzt der kräftige Strom lebendiger Sprache und wird uns nur von Zeit zu Zeit durch eine zufällige Lücke wieder einmal flüchtig sichtbar. So erklärt sich’s, daß wir – um das Vischersche Wort wieder aufzugreifen – eine Geschichte wohl der römischen Schreibe, nicht aber der lateinischen Sprache entwerfen können. Diesem Versuch unseres nächsten Abschnitts mag sich in Kap. VII sodann noch einiges zur Charakteristik und Wertung der Umgangssprache anschließen.

[540] Perioden der Stilgeschichte.VI. Geschichte des lateinischen Stiles. Wie ganz und gar unsere landläufige Betrachtungsweise des Lateinischen die Sprache zugunsten der „Schreibe“ ignoriert, kann nichts deutlicher zeigen als die jedermann bekannten Benennungen „goldene“ und „silberne Latinität“. Sie beziehen sich einzig und allein auf den Stil, und für diesen geben sie allerdings eine richtige Unterscheidung und auch Wertung zweier Perioden. Wir verstehen unter der goldenen bekanntlich das Latein der ciceronischen und augusteischen Zeit, unter der silbernen seine Entwicklung im weiteren Verlauf des 1. Jahrhunderts nach Chr. und wenig darüber hinaus, im ganzen eine Zeit von nicht 200 Jahren. Wer also einen vollständigen Überblick über die Geschichte des lateinischen Stiles haben will, muß die Einteilung rückwärts und vorwärts ergänzen. Was der goldenen Latinität vorausliegt, pflegen wir als die archaische zu bezeichnen; was auf die silberne folgt, werden wir weiterhin einigermaßen zu gliedern versuchen.

Erste literarische Zustutzung des Lateins.I. Archaische Latinität. Eine Sprache mag selbst auf den Höhepunkten menschlichen Durchschnittslebens so leicht sich bewegen, wie wir es vorhin die lateinische haben tun sehen – sie wird doch, ehe sie zu großen literarischen Zwecken tauglich wird, noch vieler Zustutzung und Vervollkommnung bedürfen. Das Latein hat das Glück gehabt, wenigstens im Beginn seiner Poesie gleich sehr energische Zuchtmeister zu finden. Es brauchte solche um so mehr, als mit der Formung der poetischen Sprache die Einführung der griechischen Versmaße an Stelle des einheimischen ungefügen und ganz verschieden gearteten saturnischen Metrums Hand in Hand ging. Weitaus die schwierigsten Aufgaben stellte hier der Hexameter, Epische Poesie.und an ihm und mit ihm hat sich die römische Dichtersprache im wesentlichen ausgebildet, indem, was zunächst für den Hexameter geneuert war, mit der Zeit auch in die anderen Versmaße überging. Ennius.So ist Ennius, der bald nach dem zweiten Punischen Kriege, also nach 200 v. Chr. den Hexameter ins Latein einführte, der Vater des poetischen Stiles bei den Römern geworden. Da die eigentümliche Abfolge von Länge und zwei Kürzen, wie sie dieser Vers fordert, im Latein nicht allzu häufig ist, so bedurfte es mancher Neubildung, mancher Wiederaufnahme veralteter Worte, mancher syntaktischen Kühnheit z. B. in der Wortstellung, manches starken Gräzismus, um dem Mangel abzuhelfen. Ennius ist in diesen Dingen zum Teil sehr weit gegangen – begreiflich, da er sich selbst allein Maß und Regel sein mußte. So hat er sich nicht gescheut, die homerische Genetivendung -oiŏ, die schön klang und gut in den Hexameter paßte, einfach herüberzunehmen und italischen Namen aufzupfropfen, obwohl die Römer nichts auch nur von fern Anklingendes besaßen. Dergleichen barocke Auswüchse haben schon Ennius’ nächste Nachfolger beschnitten; aber noch ein Dichter von der hervorragenden Bedeutung des Lucrez, dessen hinterlassenes Werk 54 von Cicero herausgegeben worden ist, bemüht sich, von derlei Sonderlichkeiten abgesehen, möglichst in ennianischem Stil zu schreiben. Ja, vieles, was Ennius gewagt hatte, ist [541] dann von Vergil durch Übernahme in seinen Stil sanktioniert und so, da Vergil allezeit bewundertes Vorbild der poetischen Sprache bleibt, auf immer für die römische Dichtung gewonnen worden. Dahin gehört z. B. der eigentümliche Gebrauch des Plurals statt des Singulars wie corpora, auch wo nur von einem Körper die Rede ist, weil diese Form mit ihrem Lang-kurz-kurz so schön in den Hexameter paßt. Ennius glaubte sich zu diesem Wagnis wohl durch eine ähnliche Erscheinung der Umgangssprache berechtigt (s. S. 551), hat aber deren Grenzen weit überschritten.

Am meisten zu tun blieb zweifellos für den Satzbau. Hier ist Ennius, da der Vers auf die Periodisierung keinen Zwang ausübte, bei der alten Simplizität stehengeblieben; er erzählt in ähnlich einfach schlichten Sätzen, meist in bloßer Aneinanderreihung ohne Unterordnung, wie es die alte Prosa tut, und meidet auch deren Breite nicht. Im übrigen ist auch sein Stil schon von der Macht aufs stärkste beeinflußt, die die lateinische Poesie je weiter hin je schwerer für uns genießbar macht: den Lehren griechischer Rhetoren. Nicht nur daß er ihnen zuliebe Klangspiele, wie sie die lateinische Sprache selbst an die Hand gab, weit über das Naturwüchsige hinaus gesteigert hat, insbesondere die Alliteration, mit deren Hilfe er z. B. den Trompetenton in dem berüchtigten Hexameter malen zu dürfen glaubte at tuba terribili sonitu taratantara dixit. Er hat vielmehr auch von den sonstigen berückenden und verwirrenden Künsten jener griechischen Klügler Gebrauch gemacht: von den auch in der sprachlichen Form, in Silbenzahl und Gleichklang, ausgeprägten Antithesen u. ä.

Satzbau der Prosa.Was über Ennius’ Syntax und Stilistik gesagt ist, läßt sich im wesentlichen auch auf die der Prosa anwenden. Im Satzbau noch vielfach eine gelegentlich bis zum Ungeschick gehende Simplizität und daneben doch schon das Raffinement griechischer Künstelei. Das hat in seinem Geschichtswerk und seinen Reden, die eine höhere gepflegtere Stilart zeigen als das vorhin erwähnte Werkchen über den Landbau, sogar der alte Cato bewußt mitzumachen keineswegs immer verschmäht. Dann können wir bei den späteren Vertretern der Geschichtschreibung und insbesondere bei den näheren Vorläufern Ciceros in der Redekunst, z. B. bei C. Gracchus, verfolgen, wie die syntaktische Einfachheit allmählich kunstvollerem Baue Platz macht und so das Mißverhältnis zwischen ihr und dem rhetorisierenden Aufputz sich verringert. Schon jetzt beginnt die eigentümliche Rhythmisierung der Satzglieder, die wir vorhin berührten und als eine Nachbildung griechischer, speziell aus Kleinasien stammender Muster bezeichneten; gewiß werden gerade diese zugleich auch im übrigen auf kunstvollere Periodisierung hingewirkt haben, denn auch der voll dahinrollende, ja bis zum Schwulst ausartende Periodenbau war ein Charakteristikum dieses „Asianismus“.

Poesie der klassischen Zeit.2. Goldene Latinität. Wenn man diese Periode mit Ciceros Aufsteigen zur Höhe seines Rednerruhms, also etwa den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts v. Ch. beginnen läßt, so fällt die Grenze für die [542] Poesie reichlich früh. Denn die letzten wirklich großen Dichter der Republik zeigen sich noch in wesentlichen Stücken als Anhänger älterer Art gerade im Sprachlich-Stilistischen, Lucrez im ganzen Verlauf seines umfangreichen Lehrgedichts über die Entstehung des Alls, Catull wenigstens in seinen größeren Gedichten. Lucrez baut wohl längere, wenn auch nicht viel elegantere Perioden als Ennius; im übrigen ist er der getreue Nachahmer des alten Dichters in Wortwahl, Wortbildung, Wortfügung. Catull mit seinen gleichstrebenden Freunden aus Oberitalien ist zwar mit Erfolg auf größere Zierlichkeit bedacht und glaubt von der Höhe dieser Eleganz auf den Vater der römischen Poesie mit Geringschätzung herabblicken zu dürfen, und doch mißfällt auch bei ihm, gerade in den Stücken, die er als seine künstlichsten schätzte, die Störung des Satzflusses durch Einschachtelungen, Wortverstellungen, übermäßige Länge u. a. Als vollendeter Künstler und Vorbild aller weiteren auf dem Gebiet der Dichtersprache ist erst Vergil.Vergil zu nennen mit den im Jahre 29 veröffentlichten Georgica und der nach seinem Tode erschienenen Aeneis. Hier verschmilzt alles zu schöner Einheit, der lateinische Sprachstoff mit den ihm innewohnenden Eigenschaften der Kraft und des Vollklangs, die griechische Kunst in der Behandlung des sprachlichen Materials, die altvaterische Einfachheit und die moderne Gewandtheit im stilistischen Aufbau. Eine außerordentlich geschickte Mischung von Altertümlichem, kühnen Neuerungen und Gräzismen – das ist Vergils Sprache. Eine Mischung, so geschickt, daß aus der anscheinend homogenen Masse vielfach nur die allerfeinste Untersuchung noch die einzelnen Elemente wieder herausdestillieren kann. Das Geheimnis der Mischung hat er in wesentlichen Stücken den griechischen Dichtern der Alexandrinerzeit, wie Kallimachos, abgesehen, die ihre Sprache in ähnlicher Weise aus Wendungen des alten Epos, der attischen Tragödie und aus eigenen Neuerungen zusammensetzten. Den größten sprachlichen Fortschritt Vergils aber zeigt seine Periodisierung in ihrem Verhältnis zum Hexameter. Die schwer schleppenden Sätze des Lucrez und Catull sind verschwunden, leicht und glatt ist der Gang der Periode, dem Gang des Verses angepaßt. Und wie Vergil von den älteren Dichtern nahm, was ihm sprachlich geeignet schien, gleichviel ob sie Dramatiker oder Epiker waren, so hat er die Unterschiede der Dichtgattungen, die sich in der älteren Diktion nicht unmerklich ausprägen, für die spätere Dichtersprache im ganzen beseitigt. Er hat der Poesie seines Volkes das Kleid gegeben, in dem sie, von leichten Modernisierungen und Verzierungen abgesehen, durch die Jahrhunderte gefallen hat. Horaz.Horaz hätte ihm diese Rolle streitig machen können; denn er zeigt kaum geringere stilistische Qualitäten schon in Dichtungen, die den ältesten Vergilischen zeitlich gleichkommen. Aber sein Genre hat ihm die Nachwirkungen versagt, die nur dem zugleich durch seinen Inhalt und seine Masse wirkenden nationalen Epos beschieden sein konnten.

[543] Eine ähnlich zentrale Stellung wie Vergil auf dem Gebiete des poetischen nimmt Cicero auf dem Gebiete Prosa der klassischen Zeit.des prosaischen Stiles ein – nur ähnlich freilich, denn wir wüßten keinen namhaften Dichter nach Vergil, der ihm gegenüber sich seine völlige Unabhängigkeit gewahrt hätte, aber wir kennen ganze Schriftstellerklassen in der Prosa, die sich mehr oder weniger bewußt von Cicero abkehren. Cicero.Cicero (geboren 106 v. Chr.) sehen wir in seinen frühesten Reden mit allen Mitteln des Asianismus arbeiten, mit der geschwollenen Periode, in der manchmal mehr auf den Klang als auf den Sinn gesehen wird und die Worte bisweilen nur äußerer Abrundung dienen, mit gehäuften Figuren und vor allem durchaus mit dem Satzrhythmus. Der für ihn sehr segensreiche Unterricht in der rhodischen Rednerschule (79–77 v. Chr.) hat ihn gelehrt, sich hierin zu mäßigen. Nur der Rhythmus spielt auf der Höhe seiner Tätigkeit keine geringere Rolle als in den Anfängen und ist dadurch außer für wenige selbständige Geister zu einem selbstverständlichen Postulat guten lateinischen Stiles geworden, das von Seneca ebenso honoriert wird wie von Augustin, von dem Arzte Celsus so gut wie von dem Naturhistoriker Plinius, ja das ganze Mittelalter hindurch von den kaiserlichen Kanzleien so gut wie von den päpstlichen. Hiervon abgesehen ist Ciceros Bestreben, das Überschwengliche, Übertriebene des Asianismus auf die Schönheitslinie zurückzudrücken, ebenso deutlich wie erfolgreich. Die Periode wird schön gerundet ohne Überfülle, und für ihre kunstvolle und klare Gliederung wird mit all den Mitteln gesorgt, die, wie früher gesagt, die lateinische Sprache ererbt oder aus Eigenem neu gewonnen hatte. Der griechische Asianismus gefiel sich in kühnen Neubildungen: auch das tritt bei dem Römer ganz zurück, dem freilich, wie wir früher schon sahen, mit der Leichtigkeit der Wortzusammensetzung vielleicht das wichtigste Mittel zu lexikalischen Neuerungen verloren war; ja Cicero siebt auch den Wortschatz der älteren Literatur energisch durch und gibt Wörtern und Wendungen der Umgangssprache außer in den Briefen nicht leicht Einlaß, und selbst die Briefe sondern sich doch von der Umgangssprache wieder durch ihre so gut wie durchgängige Rhythmisierung.

Andere Stilgattungen.Es ist unmöglich, abweichende Strömungen, an denen es natürlich in Ciceros Zeit nicht gefehlt hat, hier nun ebenfalls in Einzelheiten zu schildern. Den ausgesprochensten Gegensatz zu seiner Art bilden diejenigen, die als griechische Muster sich nicht die Asianer erkoren haben, sondern etwa einen Mann wie Lysias, und darum sich wohl Attiker nennen. Sie suchen die Eleganz nicht wie Cicero in der Fülle, sondern gerade in der Schlichtheit rein sachlichen Ausdrucks, die nun freilich – namentlich an Cicero gemessen – etwas nüchtern wirkt. Ein merkwürdiges Denkmal dieses Gegensatzes ist uns noch in einem Stück des Briefwechsels zwischen Brutus und Cicero erhalten: schon daß der eine hier durchaus rhythmisch, der andere durchaus unrhythmisch schreibt, kennzeichnet das Verhältnis dieser stilistischen Antipoden. Der größte, den man als Vertreter [544] eines solchen einfachen „Attizismus“ nennen darf, ist Cäsar gewesen. Er ist noch peinlicher als Cicero in der Wortwahl; hatte er doch gesagt, ein neues und unerhörtes Wort müsse man wie eine Klippe meiden. Und wenn bei Cicero die Worte den Gedanken mit üppigem Faltenwurf umkleiden, sitzen sie ihm bei Cäsar knapp und einfach an; von Rhythmus ist höchstens hier und da etwas zu spüren.

Ausgleich des poetischen und prosaischen Stils.3. Silberne Latinität. Sind bis hierher Poesie und Prosa getrennte Wege gewandelt, so kennzeichnet sich die folgende Periode wie alle weitere Entwicklung dadurch, daß beide nunmehr Hand in Hand gehen. Es hat das seinen Hauptgrund in einem Umstand, der auch sonst sich für den lateinischen Stil bedeutungsvoll erwiesen hat: in der eigenartigen Gestaltung des Jugendunterrichts in der Kaiserzeit. Zuerst vom grammaticus im Verständnis und in der Nachahmung der klassischen Dichter geschult, wird der junge Mann sodann vom Rhetor in den Künsten der Rhetorik unterwiesen; diese aber steigern sich nun um so mehr, als sie zum Selbstzweck werden, da die politischen Verhältnisse eine praktische Verwendung der Beredsamkeit kaum noch gestatten. Jetzt wird die Poesie ebenso völlig von Rhetorik durchsetzt wie die Prosa (unter den Dichtem ist Ovid das erste Beispiel in großem Stile); wir kennen Fälle genug, wo gleiche Themata in rhetorischer Prosa und in Versen behandelt worden sind.

Die erste Folge davon ist eben die Ausgleichung des poetischen und prosaischen Stiles. Noch bei Cicero sind beide grundverschieden. Wir haben genug von seinen wenig glücklichen poetischen Versuchen, um erkennen zu können, wie sehr sie sich an Ennius anlehnen. Nicht nur lexikalisch ist hier nicht wenig zugelassen, was Ciceros Prosa durchaus meidet, sondern selbst die Aussprache in den Versen zeigt Abweichung von der in den Reden. Schon Livius aber hat nicht bloß Ennianische Floskeln unbedenklich in sein Geschichtswerk übernommen, sondern in die späteren Teile vielleicht auch Vergilische. Noch stärker gleicht seit der Zeit des Tiberius etwa Prosa und Poesie sich im Wortschatz aus; der ältere Plinius sucht z. B. in seiner Naturgeschichte der Trockenheit seines Stoffes ganz ungeniert mit zusammengesetzten Beiworten aufzuhelfen, wie sie früher nur die Dichter in gleicher Absicht künstlich geschaffen hatten.

Pointenstil.Die Zweite Folge der rhetorischen Ausbildung ist, daß der Stil in Poesie und Prosa jetzt durchaus auf rhetorische Wirkung berechnet wird. Die Schriftsteller sind beständig auf der Suche nach blendenden Sentenzen. Das ist ein Kraut, das für den einzelnen nicht so gar reichlich wächst. Darum übernimmt es die Rhetorenschule, dergleichen zu züchten, und dem einzelnen Schriftsteller fällt es meist nur noch zu, diesem Gemeingut eine überraschende und durch ihre Neuheit schlagkräftige Form zu geben. So wird neben Alliterationen, Reimen, gleicher Silbenzahl korrespondierender Satzglieder und anderen Klangeffekten, worunter auch der Rhythmus natürlich seine Rolle weiterspielt, ein möglichst pointierter Ausdruck als wesentlich angesehen. Wie das alles bei Griechen und [545] Römern längst dagewesen ist, nur eben jetzt eine nie zuvor dagewesene Häufung und Verstärkung erfährt, so ist auch die Sucht, Pointen in schlagenden Gegensätzen, Antithesen, zum Ausdruck zu bringen, alt, aber erst jetzt wird sie zu einer wahren Epidemie. Und wenn ein Teil der Schriftsteller dieser Sucht noch in der Form der voll dahinrollenden Periode ausreichend frönen zu können meint, so verfallen andere auf den raffinierten, aber natürlich auch schon bei den Griechen vorgebildeten Gedanken, daß für Pointe und Glieder der Antithese sich kurze knappe Sätzchen viel besser eignen. Als berühmtester Vertreter der letzteren Art ist der Philosoph Seneca zu nennen, der diese Stilgattung zu solcher Virtuosität ausgebildet hat, daß er damit für einige Zeit auch den modernen Leser fasziniert, ob er nun ethische oder naturwissenschaftliche Themen behandeln mag. Auf die Dauer freilich wirkt die Lektüre Senecas wie etwa die eines dicken Bandes Aphorismen oder Epigramme – wie denn der größte Epigrammatiker aller Zeiten, Martial, nicht zufällig diesem pointenhaschenden Jahrhundert angehört –; man ermüdet beim Lesen, weil der Schriftsteller das Licht seines Scharfsinns nicht in ruhiger Flamme brennen läßt, sondern es alle Augenblicke zu plötzlichem Aufflackern zwingt. Die Dichter aber halten es kaum anders als die Prosaiker. In Senecas Tragödien, in den Epen Lucans und anderer sterben die Helden, wie es sich Cyrano wünscht: la pointe au coeur en même temps qu’aux lèvres. Dem Satiriker Juvenal hat, wie er behauptet, zornige Entrüstung seine Verse eingegeben; aber auch er schwelgt in glitzernden Schlagworten, die nicht ein heißes Herz, sondern nur ein kalter Kopf erzeugt.

Gewiß gibt es auch hier Männer, die der Mode ganz oder in manchem Widerstand leisten. Quintilians Unterweisung in der Redekunst sucht sich dem ciceronischen Muster zu nähern; Tacitus in seinen großen Werken verschmäht im allgemeinen den Rhythmus und wählt, wo er der Antithese huldigt, vielfach die Worte so, daß symmetrische Fassung der Antithesenglieder vermieden wird; ja Unebenmäßigkeit des Satzbaues ist bis zu einem gewissen Grade überhaupt sein Stilprinzip. Aber so weit wir sehen, stehen beide in ihrer Zeit allein. Auf die Pointe haben freilich auch sie nicht verzichten mögen.

Der Stil des 2. Jahrhunderts.4. Die archaisierende Periode. Für die eigentümliche Gestaltung des Stiles seit Hadrian können von den erhaltenen Schriftstellern vier als besonders charakteristische Beispiele dienen: M. Cornelius Fronto aus Cirta, Erzieher des Marc Aurel, Apuleius aus Madaura, der Christ Tertullian aus Carthago und endlich Gellius, dessen Herkunft wir nicht kennen. Ihr Stil ist in vielem nichts weiter als eine Steigerung bereits geschilderter Eigentümlichkeiten: Rhythmus, Fülle bis zum Schwulst, reichster Gebrauch sämtlicher rhetorischen Figuren bis herunter zum Klingklang des Wortspiels. Aber einerseits sind die zweite und dritte Eigenschaft hier so maßlos, und andererseits weist der Wortschatz eine solche Fülle neugebildeter oder seit Jahrhunderten aus der römischen Literatur verschwundener [546] Vokabeln auf, daß lange Zeit den Philologen für dies besondere Latein auch eine besondere Erklärung am Platze zu sein schien. Drei von jenen vier Männern stammen aus Afrika; den vierten ebenfalls nach Afrika zu versetzen, konnte man sich ohne Schwierigkeiten erlauben, da das Altertum so freundlich gewesen ist, uns über seine Herkunft im unklaren zu lassen. Das sog. afrikanische Latein.So glaubte man die Eigentümlichkeit ihrer Sprache als eine Frucht afrikanischen Bodens ansehen zu dürfen; die Hitze der afrikanischen Sonne, die Nachbarschaft der Semiten sollte das gezeitigt haben, was man als „afrikanischen Schwulst“ bezeichnete. Und wenn in diesem Wortgemenge so viel Revenants aus Plautus und Terenz, aus Ennius und Cato erscheinen, so glaubte man auch das aus der Eigenart der Römer in Afrika erklären zu können: Afrika ist bereits durch den dritten Punischen Krieg, um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., römische Provinz geworden; die Nachkommen der damals in Afrika festgesetzten Soldaten, Beamten, Kolonisten hätten – so meinte man – die Sprache ihrer Väter getreuer bewahrt als die lateinische Bevölkerung Italiens, deren energischere Fortschritte in Kultur und Literatur auch die Sprache rascher veränderten.

Aber dieser Erklärungsversuch übersieht sehr einfache Tatsachen. Wäre die altertümliche Färbung der Sprache bei Fronto und den anderen eine Folge der frühen Kolonisierung Afrikas durch die Römer, so müßte die Sprache von römischen Schriftstellern, die aus Spanien stammen, ein mindestens ebenso altertümliches Kolorit zeigen, da Spanien schon durch den zweiten Punischen Krieg (206) römische Provinz wurde. Aber so viel auch die Pyrenäenhalbinsel zum Schatz der römischen Literatur beigesteuert hat – Seneca, Lucan, Martial stammen von dort –, keiner ihrer Söhne verdient den Vorwurf, sprachlich zurückgeblieben zu sein. Indes, auch wenn man nur die Verhältnisse Afrikas erwägt, kann man denn glauben, daß dort die lateinische Sprache sich durch drei Jahrhunderte und mehr unverändert gehalten habe? Afrika kann nicht so im ersten Anlauf latinisiert worden sein: dazu hat es der Arbeit von Jahrhunderten bedurft. Und diese Arbeit ist selbstverständlich nicht allein von den Nachkommen der ersten Ansiedler geleistet worden, sondern es mußte ein beständiges Nachströmen aus dem Mutterlande und infolgedessen auch ähnliche Sprachveränderungen wie dort stattfinden.

Eins aber ist es vor allem, was der Annahme widerspricht, die altertümlichen Elemente in der Sprache jener Archaisierer seien ein altes vom Vater auf Sohn und Enkel gegangenes Erbstück: wer dieser Behauptung das Wort redet, verwechselt Rede und Schreibe. In der Sprache des Fronto, des Apuleius und der anderen ist alles andere so außerordentlich bewußt, ist alles so künstlich und künstelnd geformt, daß man unmöglich glauben kann, sie hätten in diesem einen Punkte das Prinzip der Stilisierung so weit vergessen, daß sie der Sprache des Volkes und der Landschaft Einfluß gestatteten. Auch diese Archaismen vielmehr und der arge [547] Schwulst müssen sich aus einer Kunstregel erklären. Für den Schwulst braucht das gar keine weitere Erörterung mehr; es ist der alte Fehler des Asianismus, den wir auch in der gleichzeitigen griechischen Literatur gesteigert wiederfinden. Wer aber auch den Archaismus als eine Stiltendenz bezeichnet, der kann sich ganz einfach auf das berufen, was die antike Überlieferung von dem Kaiser zu berichten weiß, in dessen Zeiten wir die archaisierende Art beginnen sahen, von Hadrian. Sein alter Biograph erzählt: „er liebte die archaische Stilart; dem Cicero zog er den Cato, dem Vergil den Ennius vor.“ Nur soll man nicht etwa glauben, daß der Herrscher dem Jahrhundert seinen persönlichen Geschmack aufgezwungen habe. Vielmehr ist auch er wie die Literaten der Zeit nur ein Sklave griechischer Mode. Denn auch der griechische Stil liebte es damals, sich mit längst aus der lebenden Sprache geschwundenen Worten und Formen der alten attischen Klassiker zu schmücken.

Eins zeigt aber deutlicher als alles, wie sehr diese römischen Altertümler vom griechischen Muster abhängen. Wie manches Stück ihrer Schriften kaum viel mehr als Übersetzung aus dem Griechischen ist, so ist auch nie die lateinische Syntax und das lateinische Lexikon so von Gräzismen durchsetzt gewesen wie jetzt. Bei Tertullian gibt es Sätze, die man, um ihre Konstruktion zu verstehen, erst ins Griechische übersetzen muß; und wie Voß etwa seine zusammengesetzten Beiwörter, die rosenfingrige Eos, die weithinschattende Lanze usw., genau den griechischen nachbildet, so haben es ähnlich Apuleius und Tertullian gemacht – nur daß ihre Komposita für den Römer, der dergleichen aus seiner eigenen Sprache überhaupt so gut wie gar nicht kannte, viel barocker geklungen haben müssen als uns die Vossischen.

Die klassischen Juristen als Ausnahme.Auch in dieser Zeit stilistischer Unnatur fehlt es freilich nicht an erquickenden Oasen. Und wenigstens der größten und wichtigsten wollen wir hier gedenken. Daß die lateinische Sprache nicht an sich logisch war, wohl aber logisch denkenden Köpfen ein gutes Werkzeug, ward oben gesagt. Logischere Köpfe hat Rom nie besessen als seine Juristen. Das haben sie gerade in dieser Zeit stilistischer Ungeheuerlichkeiten bewiesen. Ins 2. Jahrhundert fällt die Blüte römischer Rechtsschriftstellerei, die Institutionen des Gaius, dies unerreichte Lehrbüchlein für angehende Juristen, und die meisten der Werke, aus denen dann im 6. Jahrhundert Justinian seine Digesten kompiliert hat, voran die Schriften Papinians († 212). Überall erfreut nicht nur die Unabhängigkeit vom Zeitgeschmack, sondern auch positiv der knappe und scharfe echt lateinische Ausdruck. Die Jurisprudenz ist auch die einzige Wissenschaft gewesen, die bei den Römern eine im wesentlichen original lateinische Terminologie hatte.

Imitation ältere Stilarten in der Spätzeit.5. Die Spätzeit. Neue Züge hat von da an der lateinische Stil kaum mehr entwickelt; so gut wie alles ist Nachahmung der älteren Perioden, und für den einzelnen ist die Frage im allgemeinen nur, wo er anknüpfen will. Die Antwort fällt sehr verschieden aus. Es gibt Leute, die ciceronianisch [548] schreiben wollen und das verhältnismäßig nicht übel fertig bringen, wie gegen 300 der christliche Apologet Lactanz; es gibt andere, wie den Bischof Zeno von Verona († 380), deren höchstes stilistisches Ideal die buntscheckige Art des Apuleius ist; andere wieder halten sich vorzugsweise an Sallust und so fort. Daß dabei eine reine Imitation so gut wie unmöglich ist, daß gewollt oder ungewollt sich immer noch Reminiszenzen an den Stil anderer mehr oder weniger klassischer Autoren eindrängen, ist selbstverständlich; je nach dem Grade seiner Kenntnisse lastet auf jedem dieser Epigonen der Einfluß des älteren Schrifttums in verschiedenem Grade, aber er lastet auf jedem. Zunehmende Verschiedenheit von Stil und Umgangssprache.Danach kann man den Unterschied abnehmen, der damals zwischen dem „Stil“ der Literatur und der natürlichen Redeweise derer bestand, die sich nicht in die modische Altertümelei mühselig hineingezwängt hatten. Da die Alltagssprache natürlich seit den Zeiten des Plautus auch ihre Veränderungen und zwar vollkommen unabhängig von der Schriftsprache durchgemacht hatte, so läßt sich denken, daß die Divergenz der beiden, die wir zuerst um 200 v. Chr. hervortreten sahen, jetzt ein Maximum erreicht haben muß. Am einfachsten läßt sich das an den Flexionsformen greifen. Wer auf seinen Stil hielt, schrieb natürlich im 4. Jahrhundert den Akkusativ von amor noch amorem wie Cicero und wird sich wohl auch noch so zu sprechen gemüht haben. Die einfach-natürliche Sprache aber war damals schon längst zu jener Form übergegangen, die dem italienischen Wort für „Liebe“ zugrunde liegt: amore.

Einfluß des Christentums.Eins muß damals noch besonders dazu beigetragen haben, den Stil von der Sprache zu entfernen: der Einfluß, den bei der allmählichen Christianisierung der Literatur die lateinischen Bibelübersetzungen gewannen. Man bemühte sich natürlich, das heilige Wort des griechischen Originals möglichst genau wiederzugeben, und so sehen wir hier Erscheinungen sich in verstärktem Maße wiederholen, wie sie uns vorhin bei Apuleius und Tertullian begegnet sind: teils werden griechische Worte einfach herübergenommen, teils in engem Anschluß an die griechischen Formen lateinische Ausdrücke geneuert. Dem letzteren Verfahren verdanken Worte wie salvator ’Heiland‘ = griechisch σωτήρ ihre Entstehung.

Dabei soll nicht geleugnet werden, daß anderseits gerade das Christentum seinen Tendenzen gemäß manches zur Popularisierung der Schriftsprache beigetragen hat. Um ganz davon abzusehen, daß es auf dem eben geschilderten Wege manchen griechichen Ausdruck auch dem Volke geläufig machen mußte (z. B. baptizare ’taufen‘, ecclesia ’Kirche‘, was in ital. chiesa, französ. église weiterlebt), – das Christentum hatte weit mehr Veranlassung, die Sprache jedermanns zu reden, als die heidnische Literatur, die sich auch inhaltlich mehr und mehr vom Volke abgekehrt hatte. Dann aber griffen in christlichen Dingen auch solche zur Feder, denen es an literarischen Prätensionen jedenfalls sehr viel mehr gebrach als ihren heidnischen Kollegen. Ein rührendes Beispiel hierfür ist aus der ersten [549] Hälfte des 6. Jahrhunderts der Bericht einer frommen Dame, die von Südgallien nach dem Heiligen Lande wallfahrtete und, was sie gesehen und erlebt hat, schlicht und naiv niederschreibt, nicht ohne Schulbildung zwar und nicht ohne Einfluß literarischer Vorbilder wie namentlich der Bibel, aber doch so, daß allenthalben im Wortbrauch und in der Syntax, ja gelegentlich auch in der Formenlehre der von den Geübteren erfolgreich unterdrückte Brauch der eigenen Zeit hindurchbricht. Und doch passieren auch diesen sogar nicht wenig Schnitzer solcher Art, wie es unvermeidlich ist, wo die Gewohnheit des täglichen Lebens durch Konventionalitäten unterdrückt werden soll.

Poesie der Spätzeit.Gegenüber dem Hin- und Herlavieren des Prosastils zwischen der Fülle älterer Muster bleibt die Poesie verhältnismäßig beständig. Geschmacksschwankungen, wie sie dort etwa durch die Namen Cicero-Apuleius bezeichnet werden, haben hier nicht stattgefunden. Die Dichter der augusteischen Zeit bleiben im ganzen die Norm, der freilich auch hier dadurch mehr und mehr Abbruch geschieht, daß das lebende Idiom gegen seine Vergewaltigung immer stärker revoltiert und im Verse sich manchmal auf eine sehr unklassische Art Luft macht. Es zeigt sich dies insbesondere im Verfall der Quantität. Die scharfe Scheidung zwischen lang und kurz ist im wesentlichen durch die Wirkung des starken Akzents, wie wir ihn früher geschildert haben, ins Schwanken geraten, und was wir in vulgärer Versemacherei schon viel früher beobachten können, wird jetzt auch in der Kunstpoesie merklich. Meist freilich nur in gelegentlichen Irrungen, denen heidnische Dichter im allgemeinen ebenso unterliegen wie christliche. Aber es mag doch kein Zufall sein, wenn gerade das Christentum im 5. Jahrhundert in Commodian einen Mann stellt, dem es beim Bau seiner frommen Hexameter auf die Quantität so wenig mehr ankommt wie den deutschen Verfertigern solcher Verse.

Das unverkünstelte Latein.VII. Die gesprochene Sprache. Wir haben das Latein, wie es in jedermanns Munde war, mit einem lebendigen Strom verglichen, der frühzeitig unter der Eisdecke des Kunststils der Literatur unserem Blicke entschwindet. Wir haben aber eben auch schon gesehen, wie die Eisdecke im Laufe der Jahrhunderte mürber und mürber wird und der Strom von unten immer stärker dagegen schlägt und sie hier und da bereits überflutet. Können wir uns wohl trotz seiner langen Verborgenheit ein Bild davon machen, wie er ausgesehen, wie das Alltagslatein sich im Laufe der Zeiten gestaltet hat? Es fehlt uns dazu nicht ganz an Mitteln. Plautus haben wir ja schon als eins der wichtigsten kennen gelernt, und daß das dritte nachchristliche Jahrhundert und die folgenden in dem, was vom Standpunkt unserer Schulgrammatik als grober Fehler erscheint, vielfach nur der natürlichen, von keiner Schriftsprache normierten Redeweise ihren Zoll entrichten, haben wir auch schon gelernt. Aber auch zwischendurch und nebenher findet sich mancherlei, was uns über Einzelheiten der [550] familiären Sprache aufklärt. Wir besitzen z. B. unter den Hunderttausenden lateinischer Inschriften auch solche, die von Leuten ohne jede literarische Aspiration gefertigt sind. Auf den Mauern des 79 n. Chr. durch den Vesuvausbruch verschütteten Pompeji lesen wir heute noch allerlei Kritzeleien, die sich wie an Sittlichkeit so an sprachlicher Kunst vielfach nicht über das Niveau dessen erheben, womit bei uns heute unnnütze Hände die Wände zieren. Wer bei den Wagenrennen im Zirkus einem Wettfahrer den Sieg mißgönnte – meist war es wohl ein Konkurrent –, schrieb dessen Namen mit einigen Flüchen auf eine Bleitafel und warf sie dann in ein Grab; dergleichen Tafeln sind in ziemlicher Zahl wieder aufgefunden worden – und dem Grammatiker, der das Volk reden zu hören wünscht, ward der Fluch zum Segen. Auch Grabschriften, heidnische wie christliche, zeigen oft genug statt der schulmäßig durch die Jahrhunderte überlieferten klassischen Formen den Widerklang der wirklich im Volke geläufigen. Neben den Inschriften findet, wer sucht, auch in den handschriftlich überlieferten Sprachdenkmälern manches Gleichartige. Von der realistischen Einführung der Volkssprache bei Petron war schon die Rede. Weiteres geben z. B. die grammatischen Lehrbücher der Römer aus. Nicht als ob auch nur einem von ihnen die Umgangssprache als würdiger Gegenstand gälte. Im Gegenteil – wo deren Formen erwähnt werden, geschieht es im Gegensatz zu den schriftsprachlichen, um letztere als die allein gebrauchswürdigen zu bezeichnen. So verfährt besonders ein Schriftchen des 3. Jahrhunderts, das in zwei Kolumnen nebeneinander links die korrekte d. h. schriftsprachliche Form, rechts mit einem non eingeführt die familiäre gibt. Was uns hier wichtig ist, das ist natürlich gerade das, was der alte Grammatiker verwarf. Wenn wir z. B. lesen vetulus (’alt‘), non veclus, so ist uns die letztere Form außerordentlich interessant als diejenige, aus der sich italienisch vecchio, französisch vieil entwickelt haben, die auf das schriftlateinische vetulus nach den Lautgesetzen nicht zurückgehen können.

Rekonstruktion der Alltagssprache aus den romanischen Sprachen.Mit dem letzten Beispiel aber haben wir schon eine neue und neben Plautus die umfangreichste Reihe von Zeugnissen berührt, die wir für die Einzelheiten der römischen Alltagssprache besitzen. Angenommen auch, daß alles verloren wäre, was direkt von ihr Kunde gibt, so wären wir doch in der Lage, sie zu rekonstruieren. Gerade wie wir etwa das Uritalische in seinen wesentlichen Zügen aus dem Lateinischen, Oskischen, Umbrischen rekonstruiert haben, so gewähren uns die sog. Tochtersprachen des Lateins, Italienisch, Spanisch, Französisch und die anderen, die Möglichkeit, ein Bild der Sprache zu entwerfen, der sie entstammen. Diese Sprache aber ist natürlich nicht das Buchlatein, die „Schreibe“, sondern eben das Latein, das von der Masse gesprochen worden ist, die Spanien, Gallien usw. latinisierte. Aus den romanischen Sprachen würden wir für das Umgangslatein die Form veclus (statt des schriftsprachlichen vetulus) auch dann erschließen, wenn sie uns von keinem antiken Zeugen verbürgt wäre. [551] So kommt unsere Rekonstruktion des Ur-Romanischen in einer großen Menge von Fällen mit der antiken Überlieferung über die Umgangssprache überein, in vielen sogar schon mit ihrem ältesten Zeugen, mit Plautus. Ein eigentümlicher Zug der romanischen Sprachen ist es z. B., daß sie das Neutrum eingebüßt und in vielen Fällen durch das Femininum auf -a ersetzt haben. Italienisch la gioja, französisch la joie die ’Freude‘ spiegeln nicht lateinisch gaudium wider, sondern ein Feminin gaudia (Genetiv gaudiae). Wie es sich nun nicht bezweifeln läßt, daß jene romanische Femininform auf -a vielfach aus dem im Lateinischen auf -a endigenden Plural der Neutra (gaudia, Genetiv gaudiorum) herausgebildet worden ist, so zeigt Plautus zwar noch nicht jenes Femininum gaudia, gaudiae, wohl aber in häufigerer Verwendung den Plural gaudia, gaudiorum, wo der Singular nicht nur ausgereicht haben würde, sondern nach dem Gebrauch der ciceronischen Latinität wohl allein korrekt ist. Eine ähnliche Übereinstimmung zwischen dem Romanischen und Plautus besteht in Dingen des Artikels und des Pronomens der dritten Person „er“, „sie“, „es“. Wir haben eingangs gesagt, daß diese dem Uritalischen völlig fehlten; die romanischen Sprachen aber kennen alle den bestimmten Artikel (französisch le la, italienisch il lo la), den unbestimmten (französisch un une, italienisch uno una) und das „er“ und „sie“ (französisch il elle, italienisch egli ella). Die erste und dritte Formenreihe ist offenbar aus lateinisch ille illa ’jener‘ usw. entwickelt, der unbestimmte Artikel aus lateinisch unus ’einer‘. Nun treffen wir bei Plautus nicht nur ille illa und unus una schon in abgeschwächter Bedeutung, die ganz lebhaft an die des romanischen Artikels und Pronomens erinnert, sondern wir finden bei ihm auch häufig ille illa usw. auf der Endsilbe betont (illé illá), und es ist ja wohl klar, daß z. B. la nur dann aus illa entstehen konnte, wenn dieses nicht seine erste, sondern seine zweite Silbe betonte.

Aber wir können über solche Einzelheiten hinaus nachweisen, daß auch der wesentlichste Zug in der Struktur der romanischen Sprachen schon der Umgangssprache zur Zeit des Plautus nicht ganz fremd war – der sog. analytische Charakter. Die romanischen Sprachen (wie viele jüngere Sprachphasen) neigen dazu, durch Umschreibungen auszudrücken, was ältere Perioden mit einer einheitlichen Form bezeichnet hatten. Wenn wir im Uritalischen noch die Möglichkeit fanden, „in dem Garten“ durch ein Wort wiederzugeben, so muß schon das Latein der ältesten historischen Zeit zwei Worte daran wenden in horto. Auf diesem Wege ist das Romanische außerordentlich weit vorgedrungen; man vergleiche nur französisch à la mère mit lateinisch matri, de la mère mit matris, il a écrit mit scripsit, plus long mit longior; ja manches, was uns jetzt im Französischen schon wieder einheitlich anmutet, ist eigentlich auch eine solche Umschreibung, z. B. il écrira d. i. eigentlich écrire a ’er hat zu schreiben‘ gegenüber lateinisch scribet. Nun finden wir schon bei Plautus dare ’geben‘ gelegentlich in auffälliger Weise mit ad ’zu‘ = französisch à konstruiert, [552] wo unsere Schulgrammatiken den Dativ erwarten lassen. Die Steigerungsformen werden von Plautus öfters mit magis ’mehr‘ umschrieben, ja es findet sich in seiner Zeit auch schon die Umschreibung mit plus, die der französischen (plus long ’länger‘) genau entspricht. Auch de ’von‘ kann man damals schon so gesetzt finden, daß es dem de des französischen Teilungsartikels (de l’eau) lebhaft ähnelt.

Verschiedenes Alter der charakteristisch romanischen Erscheinungen.Anderes wieder läßt sich nicht so weit zurückverfolgen. Wenn sich gewisse lateinische Entsprechungen des Typus il a écrit schon vor Christi Geburt einstellen, so begegnet uns ein dem ecrira ’er wird schreiben‘ genau zu vergleichendes scribere habet erst im 4. Jahrhundert danach. Die eigentümlichen romanischen Adverbialbildungen auf mente (italienisch sinceramente ’aufrichtig‘, prossimamente ’nächstens‘, französisch sincèrement, prochainement) lassen sich aus lateinischen Verbindungen wie sincerā mente ’aufrichtigen Sinnes‘ herleiten, die in auffälliger Weise zuerst im 2. Jahrhundert n. Chr. hervortreten. Eine andere so charakteristische Erscheinung wie die Verwandlung des c vor hellen Vokalen in einen Zischlaut (lateinisch Cicero gesprochen Kikero, aber französisch Cicéron gesprochen sziszeron, italienisch Cicerone gesprochen tschitscherone) ist schlecht gerechnet ein Jahrhundert, wahrscheinlich sogar mehrere jünger als die Entstehung der Adverbien auf mente.

Durchgreifend werden all diese Erscheinungen natürlich oft erst lange, nachdem sie sich in ihren ersten Ansätzen angekündigt haben. Aber auch ohne dieser Differenz weiter Beachtung zu schenken, darf man aussprechen, daß die verschiedenen Eigentümlichkeiten des Romanischen zu sehr verschiedenen Zeiten in der lateinischen Umgangssprache hervorgetreten sind, daß also diese Umgangssprache eine noch weit veränderungsreichere Geschichte gehabt haben muß als die Schriftsprache. Tinte ist eine konservierende Flüssigkeit.

Dabei sind wir nur einen Teil dieser Veränderungen in der Umgangssprache wirklich zu belegen imstande; die anderen kann man nur aus den romanischen Idiomen erschließen. Wenn z. B. im Französischen très als das steigernde „sehr“ erscheint, so setzt das voraus, daß irgendwann das lateinische trans ’jenseits‘, dessen lautlicher Abkömmling zweifellos très ist, die Bedeutung „sehr“ angenommen habe; sie ist aber bis jetzt in keinem lateinischen Sprachdenkmal nachzuweisen. Das gleiche gilt bei der Bildung des Imperfektums; eine Anzahl der romanischen Sprachen setzt eine Form monéam sentíam statt des schriftsprachlichen monebam sentibam voraus, aber auch hier fehlt uns bis jetzt jeder schriftliche Beleg.

Indes nicht nur für einzelne durch das Romanische vorausgesetzte Formen fehlt es bis jetzt an jedem Beleg im lateinischen Schrifttum, sondern für den ganzen Prozeß der Herausbildung lokal begrenzter Sprachen auf dem weiten einst vom Lateinischen beherrschten Gebiete. Daß das Latein, über einen großen Teil Europas und einen Teil Afrikas ausgebreitet, in Dialekte zerfallen mußte, ist natürlich, zumal es ja in Frankreich, [553] Spanien, Rumänien auf ganz verschiedene einheimische Bevölkerungen übertragen wurde. Aber obwohl diese Dialekte sich schließlich so weit differenziert haben, wie wir es sehen, wenn wir heute Französisch, Italienisch, Spanisch, Rumänisch nebeneinander halten, so hat sich doch von solch lokalen Verschiedenheiten im Latein selbst bisher nichts von irgendwelcher Erheblichkeit nachweisen lassen – denn daß das „afrikanische“ Latein keine örtliche Erscheinung war, haben wir ja vorhin gesehen. Es wird das wohl hauptsächlich damit zusammenhängen, daß aus den letzten Jahrhunderten vor dem Auftreten der einzelnen romanischen Sprachen, deren älteste Urkunden nicht über das 9. Jahrhundert zurückgehen, umfänglichere Denkmäler unverfälschter Volkssprache nicht erhalten sind.

Latinisierung in den romanischen Ländern.VIII. Einfluß des Lateinischen auf andere Sprachen. Wir haben es in nicht wenigen Ländern des römischen Macht- und Kulturkreises zu einer völligen Latinisierung kommen sehen; die Iberer in Spanien, die Kelten in Gallien haben diesen Prozeß durchgemacht, ebenso die Bevölkerung der Alpen und der Länder an der unteren Donau, wie die engadinische und die rumänische Sprache zeigen. Aber selbst bei solchen Völkern, die jenem Kreis nur vorübergehend angehörten oder sich Entlehnungen nur mit ihm berührten,Entlehnung aus dem Latein im Altertum und frühen Mittelalter. hat im Altertum eine starke Infiltration lateinischen Sprachguts stattgefunden. Am stärksten vielleicht bei den Albanesen, die nicht aus dem eigenen Sprachschatz, sondern mit Entlehnungen aus dem Lateinischen selbst die einfachsten Anforderungen an das Lexikon bestreiten: sogar die Ausdrücke für ’oder‘ und ’und‘, für ’Eltern‘ und ’Kinder‘ z. B., ja ganze Teile des Formensystems sind hier aus dem Latein herübergenommen. Andere Sprachen schränken die Entlehnungen meist auf bestimmte Sphären des Wortschatzes ein; sie holen von den Römern die Benennungen für gewisse Errungenschaften, die sie erst durch die Römer kennen lernten oder bei ihnen besonders ausgebildet fanden. Selbst die Griechen hatten mancherlei der Art zu lernen. Wohl bewahrte seine Ausbreitung, sein innerer Wert, die mit ihm verwachsene Kultur und Literatur das Griechische davor, auch von der Sprache der Sieger aufgesogen zu werden wie die Idiome des Westens. Aber eine etwa seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. ständig steigende Zahl lateinischer Lehnworte legt redendes Zeugnis davon ab, daß die Römer nun auch im griechischen Orient die Ordnung der Dinge in die Hand genommen haben. Wie einst die unteritalischen Griechen von den Italern das Wort für Pfund entlehnt haben (s. S. 525), so dringen auch jetzt römische Maß- und Münzbezeichnungen in die griechische Handelssprache ein (denarius, milion ’Meile‘ Singular zu milia passuum u. ä.), die z. T. noch heute im Neugriechischen und in andern Balkansprachen fortleben (dinar, mili). Auch Heer und Beamtenschaft der Römer haben viele sprachliche Spuren im Griechischen hinterlassen. Wenn uns durch das Neue Testament Wendungen geläufig [554] sind wie „ihre Zahl ist Legion“, so übernehmen wir das lateinische Wort aus dem griechischen Texte. Das oströmische Reich behielt nach der Trennung vom Westen die lateinische Nomenklatur seines Beamtenheeres; das Recht wurde in Byzanz aus lateinischen Quellen zusammengestellt. Kein Wunder, daß auch römische Wortbildungsmittel (z. B. -arius und -atus) und Konstruktionen noch heute im Griechischen dauern.

Lateinische Lehnwörter im Deutschen.Am interessantesten aber sind für uns zweifellos die lateinischen Wörter, die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung ins Deutsche aufgenommen worden sind. Wir dürfen uns rühmen, daß es nicht ein einseitiges Nehmen gewesen ist; das Lateinische hat sich seinerseits damals auch an deutschem Gute bereichert. Um ganz von Namen speziell germanischer Tiere abzusehen: wir können seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. in Rom melca, unser ’Milch‘, als Namen einer mit Milch bereiteten Speise nachweisen. Aber vorzugsweise fiel die Rolle der Gebenden doch naturgemäß den Römern mit ihrer überlegenen, späterhin noch durch das Christentum verstärkten Kultur zu. Haus und Garten, Küche und Keller, deren römische Einrichtung die Germanen an Rhein und Mosel ausgiebig bewundern konnten, zeigen in ihren einzelnen Erfordernissen noch heute deutlich die altübemommene lateinische Terminologie: Mauer Pfeiler Pfosten Ziegel, Birne Kirsche Pflaume Pfirsich Kohl Rettich Kümmel Senf Pfeffer, Tisch Schüssel Kessel Becher Kelch und wieviel andere unserer geläufigsten Worte aus den gleichen Sphären danken wir den Römern. Aber der berühmte Handelsmann aus dem Süden brachte auch Münze Pfund und das Wort kaufen selbst neben vielen ähnlichen, gerade wie sein Nachkomme unsere Kaufmannssprache mit Conto Brutto Netto Bankrott Giro (s. o. S. 532) u. dgl. verwelschte. Nicht alle Entlehnungen sind so friedlicher Art gewesen. Kriegerische Zusammenstöße, nicht minder wohl der Dienst der Germanen im römischen Heere haben ihnen z. B. auch ein Wort wie Pfeil zugeführt. Dafür kann man ein andermal wieder den eigenartigen Prozeß beobachten, daß der Name der Kriegsmaschine manganum, den die Römer von den Griechen entlehnt hatten, in unserem ’Mange‘ oder ’Mangel‘ zur Bezeichnung eines häuslichen Instruments wird, das mit jener nur die Walzen gemeinsam hat. Eine neue Schicht Lehnwörter drang dann, zum Teil nachweislich später als die genannten, jedenfalls aber noch im frühen Mittelalter, mit dem römischen Christentum in Deutschland ein, so Propst Messe Kreuz predigen u. a., darunter wieder nicht wenige, die die Römer selbst erst von den Griechen überkommen hatten, wie Priester Mönch Orgel.

Wie wir übrigens im Lateinischen den Einfluß des griechischen Lexikons nicht bloß an den in ihrer ursprünglichen Form entlehnten Worten aufzeigen konnten, sondern auch an solchen, die genaue Übersetzungen griechischer sind, so beschränkt sich der lateinische Einschlag im Germanischen nicht auf unmittelbar herübergenommene Worte: wir können auch hier an einem interessanten und wichtigen Falle die gliedweise Nachbildung [555] fremder Zusammensetzungen mit einheimischem Material nachweisen. Unsere Namen der Wochentage Sonntag Montag Dienstag Donnerstag Freitag sind den lateinischen Solis dies, Lunae dies, Martis dies, Iovis dies, Veneris dies nachgebildet, indem bei den letzten drei die römische Gottheit (Mars Juppiter Venus) durch die entsprechende germanische (Thingsus Donner Freia) ersetzt ist.

Entlehnungen aus dem toten Latein.Die Entlehnungen aus dem Lateinischen, die bisher aufgezählt sind, fallen in die Zeit, da es noch selbst eine lebende Sprache war, da es noch gewissermaßen durch eine Lateinisch redende Volksmasse verkörpert wurde. Aber während andere Sprachen mit ihren Trägern dahinsterben, ist dem Latein das wenigstens in dieser Ausdehnung ganz einzige Los gefallen, solchen Tod zu überleben. Es behielt seine Wichtigkeit als Ausdrucksmittel einer großen Kultur, von der man sich noch immer abhängig, die man der eigenen mannigfach überlegen fühlte; es war die Sprache einer vielbewunderten Literatur, die ihr Bestes gerade in der Kunst des Stiles geleistet hatte. So gehen denn sprachliche Beeinflussungen in Fülle von ihm aus, auch viele Jahrhunderte noch, nachdem die letzten den Mund geschlossen haben, die Latein als Muttersprache redeten.

Dem einzelnen gerecht zu werden, brauchte es einen Kenner des ganzen Kreises der modernen zivilisierten Sprachen und ihrer Geschichte; ich kann nur auf ganz weniges hinweisen. Die romanischen Sprachen, nicht zufrieden mit dem reichen Erbteil, das sie von der lateinischen Mutter überkommen hatten, haben oftmals späterhin noch bei ihr Anleihen gemacht. Im Französischen kann man vielfach sog. Doublets oder Doppelwörter, verschieden geformte Abkömmlinge desselben lateinischen Wortes beobachten, wie raide (roide) und rigide, die beide ’steif‘ ’starr‘ bedeuten und auf lateinisch rigidus zurückgehen. Erstere Form weist die Spuren des Lautwandels auf, den rigidus im Alltagslatein und in dessen Entwicklung zum Romanischen durchmachen mußte (vgl. froid ’kalt‘ aus frigidus); es ist das lateinische Wort, wie es direkt von Mund zu Mund und von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Rigide dagegen entspricht dem lateinischen rigidus anscheinend viel genauer in den Lauten; aber das ist nur darum möglich, weil es nicht historisch daraus entwickelt, sondern erst in neuerer Zeit aus dem lateinischen Schrifttum entlehnt ist: auch hier hat die Tinte konservierend gewirkt.

In diesem Falle hat der Habitus von Schuldner und Gläubiger so viel Ähnlichkeit, daß für das nicht wissenschaftlich geschärfte Auge sich solche lateinische Eindringlinge von der romanischen Masse kaum kenntlich abheben. Anders liegt die Sache bei den lateinischen Lehnworten, Latinische Lehnworte im neueren Deutschen.die das Deutsche seit dem Mittelalter in sich aufgenommen hat. Da sie fast sämtlich sich für den Blick jedes Gebildeten von dem deutschen Sprachstoffe ohne weiteres unterscheiden, hat jeder auch die Möglichkeit in der Hand, die Menge unserer jüngeren Entlehnungen aus dem Lateinischen [556] zu prüfen; er braucht nur bei beliebiger deutscher Lektüre einmal seine Aufmerksamkeit für kurze Zeit nach dieser Seite zu kehren. Das meiste betrifft natürlich die gelehrte Schule und den wissenschaftlichen Betrieb. Mit der Organisation unserer höheren und hohen Schulen sind Ausdrücke wie Rektor, Professor, Privatdozent, Doktor, Student, Kolleg, Kollege, Auditorium, Honorar, Direktor, Ordinarius, Klasse, Sexta bis Prima, Primus und viele andere so eng verknüpft, daß es scheint, man könne nicht an den Worten ändern, ohne die Sache umzugestalten. Von den Wissenschaften zeigt die, die das Altertum zum ersten Gegenstand hatte und durchaus auf antiken Grundlagen fußt, besonders viel antike Fachausdrücke, die Philologie mit der Grammatik. Der Ruhm der Erfindung kommt dabei fast durchweg den Griechen zu, aber nicht die griechischen Ausdrücke leben fort und sind heute jedem Schulknaben und jedem Gebildeten geläufig, sondern ihre (bisweilen recht ungeschickten) Übertragungen durch die lateinischen Grammatiker. Das gilt von all jenen Bezeichnungen wie Verbum und Substantiv, Kasus und Person, Imperativ und Konjunktiv usw. (vgl. Wackernagel oben S. 394 f.), und auch wiederholte Bemühungen, diese lateinischen Ausdrücke zu verdeutschen, haben mehr die Schwierigkeiten als den Nutzen solchen Unternehmens klargestellt. Die Rechtswissenschaft hat hier größere Erfolge zu verzeichnen. Selbst im Namen hat sich die Jurisprudenz verdeutscht, und doch zeugen Prozeß und Testament, Assessor und Referendar (um nur weniges aus vielem herauszugreifen) davon, wie mit den römischen Rechtsformen auch die römische Rechtssprache unzerstörbar bei uns weiterlebt. In anderen Wissenschaften, wie in der Medizin und Mathematik, ist dem Latein vor allem wieder eine vermittelnde Rolle zugefallen; die griechischen Fachausdrücke gebrauchen wir im ganzen in der Lautgestalt und mit dem Akzent, die ihnen die Römer gegeben haben (vgl. Wackernagel S. 392). Aber längst nicht immer borgt das Latein hier nur Erborgtes weiter; man erinnere sich an Radius, Grad, Minute, Sekunde usw.

Es hieße sich zu sehr ins Weite verlieren, wollte man die Menge lateinischen Lehnguts auch noch in den Künsten und auf anderen Gebieten menschlicher Tätigkeit selbst bloß andeutend aufweisen; bleibt doch zudem eine andere tiefgehende Beeinflussung der modernen Sprachen durch das Latein noch zu erwähnen.Syntaktisch-stilistischer Einfluss des Lateins auf die neueren Sprachen. Wo immer es zur Herübernahme aus einer Sprache in die andere kommt, pflegt sich der Vorgang nicht aufs Lexikon ein zuschränken. Das Latein hat wohl bei allen neueren Kulturnationen auch auf Syntax und Stil zeitweilig sehr starke Einwirkungen geübt. Das begreift sich ja ohne weiteres. Die modernen Sprachen, die romanischen wie die germanischen, haben sich ihr Recht zu literarischer Verwendung wenigstens neben der lateinischen erst mühselig erstreiten müssen, und bis ins 19. Jahrhundert hinein hat die Fähigkeit, Lateinisch zu reden und zu schreiben, als ein wichtiges Erfordernis allgemeiner Bildung namentlich in Deutschland gegolten; bei wie vielen aber war diese Fähigkeit [557] sogar weit über die des muttersprachlichen Ausdrucks gesteigert. So klagt im 16. Jahrhundert ein französischer Grammatiker über die „Gelüstigkeit, im Französischen den lateinischen Stil anzunehmen und den eigenen aufzugeben“; die großen Schriftsteller dieses und des folgenden Jahrhunderts haben unzählige Latinismen in Konstruktionen und Satzbau. Von den englischen Klassikern sei hier wenigstens Milton genannt, der wie in Wortschatz und Wortformen so in Syntax und Stil besonders häufig lateinischen (freilich auch griechischen) Mustern folgt. Deutsch.Im Deutschen darf die künstlich aufgetürmte Periodisierung, die wir erst neuerdings energisch zu beseitigen beginnen, als lateinisches Erbe gelten, wie im Kanzleistil besonders deutlich wird. Aber auch vieles, das uns im einzelnen bei unseren größten Schriftstellern befremdet, ist denselben Weg gekommen. Haben wir in Lessing einen der Väter unserer modernen Prosa und jedenfalls einen unserer hervorragendsten Stilisten zu verehren, so wird sein Beispiel ja hier besonders beweiskräftig sein. Er wagt gelegentlich Konstruktionen, die uns geradezu schmerzlich berühren: „Seien Sie, wer Sie wollen, wenn Sie nur nicht der sind, der ich nicht will, daß Sie sein sollen“, „ein Band alter Fabeln, die sie ungefähr aus den nämlichen Jahren zu sein urteilten“ usf. Der Latinismus hierin ist auch für den Anfänger im Lateinischen mit Händen zu greifen. Besonders merkwürdig ist der zweite Fall. Denn der „Akkusativ mit dem Infinitiv“ ist gewissermaßen zum Gradmesser des lateinischen Einflusses auf den deutschen Stil geworden. Vor Lessing haben ihn z. B. Notker, der um das Jahr 1000 viel Lateinisches übersetzte, und im 16. Jahrhundert Fischart, der auch unter den ersten war, die deutsche Hexameter bauten. Will man aber erkennen, wie weit die Neigung gehen konnte, das Deutsche in lateinische Fesseln zu schlagen, so muß man des Niklas von Wyle Übersetzungen, „Translatzen“ genannt, ansehen, in deren Vorrede (1478) sich der Verfasser zu der Ansicht bekennt, daz ain yetklich tütsch, daz usz gutem zierlichen und wohl gesatzten latine gezogen und recht und wol getransferyeret wer, ouch gut zierlich tütsche und lobes wirdig haissen und sin müste und nit wol verbessert werden möcht. Darum hat er denn auch dise translaciones uf das genewest dem latin nach gesetzet und nit geachtet, ob dem schlechten gemainen und unernieten man das unverstentlich sin werd oder nit. So wird nicht nur der Akkusativ mit dem Infinitiv, sondern auch der Ablativus absolutus, die geschlechtliche Abwandlung des prädikativen Adjektivs und Partizipiums u. dgl. nachgeahmt, und das Ergebnis ist dann wirklich stellenweise Unverständlichkeit.

Der Lateinunterricht.Es mag nicht an Hoffnungsfreudigen fehlen, die in der Winschränkung des lateinischen Unterrichts, insbesondere dem Wegfall des lateinischen Aufsatzes, eine Gewähr für eine Besserung des deutschen Stiles erblicken, der nun, von einem lästigen Muster befreit und nur nach eigensten Gesetzen sich richtend, fortan größere Leichtigkeit und dabei mehr Eigenart [558] gewinnen werde. Hätten nur nicht die letzten Jahre gezeigt, daß unser Stil für das kalte Fieber der Latinomanie das hitzige der Gallo- und Anglomanie einzutauschen in Gefahr steht! Indes zugegeben auch, daß das, was bisher dem Lateinunterricht genommen worden ist, unserer eigenen Sprache zugute kommen wird – so viel dürften doch die vorstehenden Betrachtungen in all ihrer Dürftigkeit klarstellen, daß eine weitere Beschneidung unserer Lateinkenntnisse auch für das Verständnis unserer nationalen Sprachgeschichte, wie es jeder Gebildete besitzen sollte, einen nicht unerheblichen Verlust bedeuten würde.

IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Altertums. Latein lernen heißt nicht nur für das Verständnis des Altertums einen der beiden Schlüssel gewinnen. Wir haben eben schon gesehen, wie es auch einer der Schlüssel zum Verständnis unserer eigenen Sprache ist. Aber wir dürfen mehr sagen: es ist auch ein unentbehrlicher Schlüssel zum Verständnis der modernen Kultur, nicht bloß darum, weil diese sich auf der antiken aufgebaut hat, sondern auch darum, weil eine große Anzahl der erlesensten Geister des Mittelalters und der Neuzeit ihren Gedanken lateinische Form gegeben hat.

Das Latein vor und nach der Renaissance.Dies Nachleben des Lateins scheidet sich, wie die ganze Geschichte menschlicher Bildung seit dem Ausgang des Altertums, durch die Renaissance in zwei Hälften. Wenn man es recht verstehen will, kann man sagen: in der ersten ist die Handhabung der lateinischen Sprache freier, origineller, freilich auch viel fehlerhafter und wilder; in der zweiten sieht man ängstlich auf die klassischen Muster. Nicht als ob man nicht auch in der ersten zuzeiten unter Anlehnung an antike Autoren recht gut Latein zu schreiben wüßte. Aber im ganzen heißt es hier mehr, sich überhaupt ausdrücken, und das tut man Lateinisch, da die germanischen und romanischen Sprachen erst sehr allmählich zu schriftlichen Ausdrucksmitteln herangebildet werden. In der zweiten Periode dagegen kommt es im ganzen darauf an, sich, wenn man sich Lateinisch ausdrückt, auch korrekt und schön auszudrücken. Dante und in vielem auch noch Petrarca schreiben ein Latein, das für Cicero teils unverständlich, teils unerträglich fehlerhaft gewesen wäre. Aber Petrarca selbst hat die Quellen des besten lateinischen Stiles wieder aufgegraben; und wer aus diesen Quellen nicht einen tiefen Trunk getan hat, darf sich sehr bald nicht mehr Lateinisch zu äußern wagen, wenn er nicht seines Stiles wegen verlacht werden will wie die Dunkelmänner. Jetzt schwindet die Masse der barbarischen Wörter, mit denen mittelalterliche Schriftsteller teils selbst neubildend, teils aus den Landessprachen entlehnend ihr Latein durchsetzt haben; es schwinden die barbarischen Konstruktionen, die auch entweder aus willkürlicher Verunstaltung oder aus dem Einfluß der Nationalität hervorgegangen sind. Und wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach seit anderthalb Jahrtausenden [559] nichts mehr in lateinischer Sprache geschrieben worden ist, woran nicht Cicero oder Vergil grammatisch und stilistisch sehr beträchtliche Ausstellungen zu machen haben würden, so darf man doch anderseits der neulateinischen Stilkunst das Zeugnis geben, daß es ihr an Leistungen von außerordentlicher Eleganz und Feinheit nicht mangelt.

Die klassizistische Imitation und ihr Einfluß.Man hat es oft schon ausgesprochen, daß gerade diese vielfach so kunstvolle Nachahmung des klassischen Stiles, wie sie durch die Renaissance üblich wurde, dem Latein den Lebensrest genommen hat, der ihm auch nach dem Altertum verblieben war. Die Möglichkeit, neu auftauchende Begriffe durch kühne Neubildungen zu bezeichnen, den Gedanken nicht in die Schablone der ciceronischen Periode hineinzupressen, kurz die Möglichkeit einer lebendigen Fortentwicklung, soweit solche bei einer literarischen Sprache überhaupt denkbar ist, hätte dem Latein bleiben müssen, wenn es sich auf die Dauer auch nur als internationale Sprache der Wissenschaft behaupten sollte. Das kann am besten die Wissenschaft zeigen,Latein als Sprache der Wissenschaft. in der das Latein wirklich diese Stellung bis zum heutigen Tage behalten hat, die systematische Botanik. Kühne, sich beständig aus griechischem und lateinischem Sprachmaterial vermehrende Neubildungen, Verzicht auf alle stilistische Kunst sind die Zeichen ihres Lateins, aber es ermöglicht dem Deutschen, sich ohne weiteres mit dem Russen und Japaner zu verständigen.

Wenn die Botanik den positiven Beweis liefert, daß nur eigenmächtige Behandlung das Latein befähigen kann, die Sprache der Wissenschaft zu bleiben, so gibt die klassische Philologie den negativen. Zweifellos ist – freilich neben dem wachsenden Bestreben, den wissenschaftlichen Stoff in der eigenen Sprache künstlerisch zu gestalten – die Forderung, „ciceronisch“ zu schreiben, die Ursache davon, daß selbst unter den Philologen die Neigung, sich Lateinisch auszudrücken, fast verschwunden ist. Der Philologe empfindet heute mehr als je zuvor das Bedürfnis, neben den sog. klassischen Perioden des Altertums auch die früheren und späteren wie sachlich so sprachlich aufs genaueste zu durchforschen. Es liegt auf der Hand, daß die Belastung des Gedächtnisses mit dem Sprachmaterial so verschiedener Perioden eine „klassizistische“ Nachahmung des Lateins sehr erschwert.

Nun haben zudem gerade die letzten Jahre gezeigt, wie undankbar das Bestreben, „klassisch“ schreiben zu wollen, selbst bei energischer Ausschaltung solch störender Nebeneinflüsse bleibt. Daß Cicero durchaus rhythmisch schreibt, wie wir oben dargelegt haben, ist erst vor etwa 15 Jahren wieder entdeckt worden. Und also ist alles, was seit der Renaissance an „ciceronischem“ Latein geschrieben und als solches bewundert worden ist, durchaus unciceronisch.

Hier haben wir eine anscheinend vernichtende Kritik der „klassizistischen“ Imitation. Und doch kann gerade die klassische Philologie nicht aufhören, sie zu fordern, es müßte ihr denn alles Stilgefühl verloren gehen. [560] Stellt diese ideale Forderung sich als unerfüllbar heraus, so bleibt dem Philologen nur die Möglichkeit, auf das Latein als Darstellungsmittel überhaupt zu verzichten.

Latein als Sprache der Politik.Wie das Latein seine Rolle als Sprache der Wissenschaft selbst auf dem Gebiet der Philologie nahezu ausgespielt hat, so ist es vom politischen Felde heute gänzlich verschwunden. Einst war es hier Herrscherin, bis das Französische an seine Stelle trat. Dann blieb ihm Ungarn bis in unsere Zeit hinein als letzter Zufluchtsort, nun ist es mit der Nationalisierung des Landes auch dort verdrängt. So ist es nur ein Gebiet noch, auf dem die Macht des Lateins unverändert fortbesteht, freilich ein großes und sicheres – das der katholischen Kirche.Latein als Sprache der Kirche.

Neulateinische Literatur.Wenn wir bei dieser Übersicht über die Geschichte des Lateins in Mittelalter und Neuzeit bisher die Form in den Vordergrund gestellt haben, so empfiehlt sich jetzt ein Blick auch auf den Inhalt dieser neulateinischen Literatur, um die Behauptung zu erhärten, daß in ihr unverlierbares Gut der Menschheit niedergelegt ist. Hierbei ist der zeitlichen Anordnung die nach Literaturgattungen durchaus vorzuziehen. Bei solcher Einteilung stellt sich nämlich sofort heraus, daß die Prosa weitaus bedeutsamere Leistungen aufzuweisen hat als die Poesie.

Denn, um mit dieser letzteren zu beginnen, die neulateinische Poesie Poesie.hat nur auf zwei verhältnismäßig beschränkten Feldern Ertrag geliefert, der, nach Form und Inhalt eigenwüchsig, neue Spielarten der Dichtung darstellt: auf dem des kirchlichen Hymnus und dem der Vagantenlieder. Unter dem übrigen ist zwar vieles, was an sich oder als Glied der gesamten neueren Literaturentwicklung, d. h. meist gerade als Stück der einzelnen nationalen Literatur, höchst interessant ist, aber wohl nicht eine Leistung, die sich unter die wirklichen Großtaten der Poesie stellen dürfte. Gern gäben wir die lateinische Dichtung der Karolingerzeit, so manches im Mittelalter.formgewandte und inhaltlich interessante Stück sie enthält, für gleichzeitige deutsche Poesien dahin; lieber läsen wir den Waltharius manu fortis, der heute durch Scheffels Umdichtung allgemein bekannt ist, in der alten nationalen, dem Sagenstoff entsprechenden Form als in den vergilischen Hexametern des Ekkehard. Aber wir müssen dem Schicksal dankbar sein, daß seine Launen diesen frühen Urkunden unseres Volkes zur lateinischen Form verholfen haben, ohne die vielleicht auch sie wie so vieles andere Gleichzeitige uns verloren wären. Fügen wir nur noch die Komödien der Nonne Hrotsvith von Gandersheim hinzu, die zwar in Prosa, aber doch in ausgesprochener Anlehnung an Terenz christliche Legendenstoffe formt, so sehen wir auch an diesem Beispiel dieselbe Erscheinung: eine an sich nichts weniger als klassische Leistung in lateinischer Sprache wird für uns von höchstem Interesse, weil sie nichts Ähnliches in nationaler Form neben sich hat. Die Geschichte unserer ältesten Dichtung hat es zum großen Teil mit Lateinischem zu tun.

[561] in der Neuzeit.Man kann in der lateinischen Poesie anderer Zeiten und anderer Völker dasselbe sich wiederholen sehen: nichts von erstem Range, aber vieles, dessen Verlust uns das Verständnis der Entwicklung sehr erschweren müßte. Petrarca würden seine lateinischen Dichtungen nicht seinen Ehrenplatz verschafft haben, aber mit den lateinischen Prosabriefen zusammen machen sie seine Persönlichkeit, seine Bestrebungen wohl deutlicher als die Sonette und Trionfi. Auch ein Mann wie unser Andreas Gryphius etwa wird verständlicher für den, der seine lateinischen Jugendepen kennt. Sie zeigen, wie tief man sich im 17. Jahrhundert in die alte lateinische Poesie hineinlesen und bis zu welcher Fertigkeit trotz vieler Fehler man die Imitation treiben lernte.

Wenn diese lateinischen Erzeugnisse als Dokumente für die Entwicklung ihrer Verfasser und ihrer Epoche interessieren, so mag anderes an sich, ohne als Rad in dem literarischen Gangwerk wichtig zu sein, dem Kenner einen gewissen Genuß verschaffen. So z. B. manche Dichtung der Humanisten oder des Jesuiten Sarbiewski († 1640) fromme Oden, die wegen ihrer Annäherung an das römische Vorbild ihm von seiner Zeit den Ehrennamen des polnischen Horaz eintrugen, oder des Holländers Johannes Secundus († 1536) zärtliche Kußgedichte, die sich Goethe „wie ein warmes Kissen heilender Kräuter unters Herz legten“ (an Frau v. Stein 2. Nov. 1776). Noch jetzt fördert ein holländisches Preisausschreiben alljährlich lateinische Gedichte zutage, deren Verfasser bisweilen mit erstaunlicher Eleganz selbst so moderne Gegenstände wie das Zweirad zu behandeln verstehen.

All diese nachgeborenen Kinder der lateinischen Muse haben nur ein sekundäres Interesse und werden im ganzen bloß den Philologen und literarischen Liebhaber locken. Prosa.Bei der Prosa aber braucht man solche Einschränkung nur zu machen, soweit es sich um rein belletristischeBelletristisches. Werke handelt. Freilich hat auch hier manches nicht unbeträchtliche Nachwirkungen geübt, z. B. die Schnurrenliteratur; den Einfluß der Facetiae des italienischen Humanisten Poggio († 1459) und seines deutschen Fachgenossen Bebel († etwa 1516) kann man noch bei Lessing und darüber hinaus verspüren. Doch das alles bleibt vereinzelt und unbedeutend im Verhältnis zu den Denkmälern, die lateinische Prosa auf dem Gebiet der Wissenschaften errichtet hat. Hier ist vieles, was auch Nicht-Philologen zu eingehender Betrachtung zwingt und sich solche Betrachtung in seiner Urform erzwingen wird, solange noch nicht der Köhlerglaube herrschend geworden ist, daß einem ernsten Beschauer die Übersetzung statt des Originals genügen könne. Aus der verwirrenden Fülle versuche ich wenigstens einiges herauszuheben. Lateinisch sind die ältesten uns erhaltenen RechtsbücherJurisprudenz. der Germanen, nicht nur die der Westgoten und der Burgunder, die im wesentlichen auf römischen Rechtsquellen beruhen, sondern auch solche, die vorzugsweise auf nationaler Grundlage stehen wie die lex Salica. Der [562] lateinischen Sprache bedient sich die umfangreiche und für die Fortbildung des römischen Rechtes wichtige Erklärertätigkeit, die sich im Mittelalter (etwa seit 1100) an das corpus juris Justinians angeschlossen hat. Geschichte.Auch die Geschichtsquellen, sowohl Urkunden wie Schriftsteller, voran Leute wie Gregor von Tours, der Geschichtschreiber der Franken, Beda, der Geschichtschreiber der Angeln, und Paulus Diaconus, der Geschichtschreiber der Langobarden, bedienen sich, je weiter sie zeitlich zurückliegen, um so ausschließlicher der lateinischen Sprache. Philosophie.Auf philosophischem Gebiet aber ist das Lateinische nicht nur die ausgesprochene Form der Scholastik geworden, sondern auch Größen der modernen Philosophie wie Spinoza († 1677) und Leibniz († 1714) haben ganz oder vorzugsweise Lateinisch geschrieben. Exakte Wissenschaften.Auf dem Gebiete der Mathematik und Naturwissenschaften genügt es, zwei Namen zu nennen: Newton († 1727) und Gauß († 1855). Die Möglichkeit soll hier nicht etwa bestritten werden, daß all die großen Gedanken der letzten vier sich ebensogut Holländisch, Englisch und Deutsch hätten ausdrücken lassen. Aber wir haben nicht mit dem zu rechnen, was da hätte sein können, sondern mit dem, was ist. Je größer und origineller ein Denker, um so mehr ist bei ihm die Sprache die Rinde des Gedankens, die sich nicht abstreifen läßt, ohne daß der Gedanke selber Schaden leidet, und so wird auch der Naturwissenschaftler und Mathematiker das Latein nicht entbehren können, solange Newton und Gauß ihren Platz in der Wissenschaft behaupten.

Wer sich so umsieht auf dem gewaltigen Gebiet geistiger Leistungen in lateinischer Sprache seit dem Ausgang des Altertums, dem mag es wohl den Kopf herumkehren, „wie er wollt’ Worte zu allem finden“. Nun gar auf wenig Seiten von dem Ungeheuren eine genügende Vorstellung geben – wer möchte sich des vermessen? So trifft es sich schön, daß auch wenige Beispiele, auf gut Glück herausgegriffen, ausreichend scheinen, um die Ehrfurcht vor dem Latein als einem altgeheiligten Gefäß menschlichen Denkens wieder zu wecken, wo sie im Schwinden ist. Und ich glaube, das wenige schon, was hier gesagt ist, wird genügen, um Schopenhauers Wort zu rechtfertigen, das zum Schlusse stehen mag (Parerga II § 299): „Der Mensch, welcher kein Latein versteht, gleicht einem, der sich in einer schönen Gegend bei nebligem Wetter befindet: sein Horizont ist äußerst beschränkt: nur das Nächste sieht er deutlich, wenige Schritte darüber hinaus verliert es sich ins Unbestimmte. Der Horizont des Lateiners hingegen geht sehr weit, durch die neueren Jahrhunderte, das Mittelalter, das Altertum.“

[563]
Literatur.

Ein Skizze wie die vorstehende, die Art und Entwicklungsgang einer Sprache für Laien zu schildern versucht, kämpft mit größeren Schwierigkeiten als eine literarhistorische Darstellung, die gleichen Zwecken dient. Ich habe geglaubt, bei denen, die überhaupt dergleichen lesen, einige Sprachkenntnis – mindestens die der lateinischen Formen – voraussetzen zu dürfen. Für solche wird, wie ich denke, mein Abriß nicht gerade eine leichte, aber doch eine verständliche Lektüre sein. Sonstige Literatur, die auf den gleichen Standpunkt berechnet wäre, ist mir nicht bekannt. Selbst das an der Oberfläche haftende Büchlein von Osk. Weise, Charakteristik der lateinischen Sprache, 4. Aufl. (Leipzig, 1909), setzt mehr voraus. Aber auch für den, der sich wirklich wissenschaftlich unterrichten will, fehlt es völlig an einer Geschichte der lateinischen Sprache. Wir besitzen nur Darstellungen größerer Teile der lateinischen Grammatik. Was davon jenseits von 1885 liegt, ist – mit Ausnahme von Büchelers klassischer, obwohl in nicht wenigem natürlich veralteter Monographie über die Deklination, 2. Aufl. (Bonn, 1879) – nicht mehr zu gebrauchen. Eine moderne Zusammenfassung gibt Iw. Müllers Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft 2. Bd. 2. Abteilg., 4. Aufl. (München, 1910), worin F. Stolz Laut- und Formenlehre, J. H. Schmalz Syntax und Stilistik behandelt hat. Für Laut- und Formenlehre sind mehr zu empfehlen F. Sommer, Lateinische Grammatik (Heidelberg, 1903) und namentlich W. M. Lindsay, The Latin Language (Oxford, 1894), deutsch unter dem Titel: Die lateinische Sprache (Leipzig, 1897), sowie der knappe, aber außerordentlich klare Überblick in Brugmanns Grundriß der vergleichenden Grammatik, Bd. I u. II (zum Teil in 2. Aufl. erschienen, Straßburg, 1892 ff.). Eine ganz elementare Einführung in die Probleme bietet meine Einleitung zu Stowassers Schul- und Handwörterbuch, 3. Aufl. (Wien, 1910). – Für einzelnes darf ich auf meinen Abschnitt „Lateinische Grammatik“ in W. Krolls „Altertumswissenschaft im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts“ (Leipzig 1905), S. 312–352, sowie auf meine Berichte über die Forschung der Jahre 1890–1908 in Vollmöllers Jahresbericht über die Fortschritte der romanischen Philologie I, II, IV, V, VI, VII, XI und in der Zeitschrift „Glotta“ Bd. I u. II verweisen. – Der Wortschatz wird dargestellt in dem Thesaurus Linguae Latinae, den die fünf deutschen Akademien herausgeben; davon sind jetzt vier Bände A–C (Leipzig, 1905ff.) nahezu abgeschlossen. Ein etymologisches Wörterbuch gab A. Walde, 2. Aufl. (Heidelberg, 1910).

S. 524. Die Ligurer: Kretschmer, Kuhns Zeitschrift für vergleichende Sprachwissenschaft 37, 197ff.

S. 525 ff. Uritalischer Wortschatz: Bücheler, Lexicon Italicum (Programm der Universität Bonn 1881).

S. 527. Alliteration: z. B. O. Keller, Grammatische Aufsätze (Leipzig, 1895), S. 1ff.

S. 528. Über die besonderen Ähnlichkeiten des Lateinischen mit dem Germanischen: F. Kluge, Internationale Wochenschrift 10. Juli 1911. Deutsch und tuticus (genauer gesagt: oskisch tovtico-), die Kluge nicht erwähnt, sind beides Ableitungen von einem Worte teutā ’Gemeinde‘, ’Volk‘.

S. 528 f. Für die oskisch-umbrischen Dialekte sind grundlegend die Werke von Th. Mommsen, Unteritalische Dialekte (Leipzig, 1850) und von Th. Aufrecht und A. Kirchhoff [564] Die umbrischen Sprachdenkmäler (Leipzig, 1849 und 1851), sodann F. Bücheler, Umbrica (Bonn, 1883). Ausführliche moderne Darstellungen der Dialekte nebst Ausgabe der Inschriften von R. v. Planta, Grammatik der Oskisch-Umbrischen Dialekte, 2 Bände Straßburg, 1892 und 1897) und von R. S. Conway, The Italic Dialects (Cambridge, 1897). Zur Einführung ist zu empfehlen C. D. Buck, A Grammar of Oscan and Umbrian, Boston, 1904, namentlich in der deutschen Bearbeitung (Buck, Elementarbuch der oskisch-umbrischen Dialekte, deutsch von E. Prokosch, Heidelberg 1905). Vortreffliches gibt über die Schichtung der italischen Stämme vom Standpunkt des Historikers H. Nissen, Italische Landeskunde, Bd. I (Berlin, 1883), S. 468ff.

S. 531. Etruskische Bestandteile im lateinischen Namenschatz behandelt bahnbrechend W. Schulze, Zur Geschichte der lateinischen Eigennamen (Abhandlungen der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften V 2, Berlin, 1904). Eine Einführung in die etruskische Sprachfrage gibt Skutsch in Pauly-Wissowas Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft VI 770ff. (erweiterte und verbesserte Fassung in der italienischen Übersetzung von Pontrandolfi: Gli Etruschi e la loro lingua, Firenze, 1909).

S. 532. Die griechischen Wörter im Latein stellt zusammen O. Weise (Preisschriften der Jablonowskischen Gesellschaft, Bd. XXIII, Leipzig, 1882).

S. 533. Die älteste Inschrift ist abgebildet und erläutert von Ch. Hülsen, Das Forum Romanum 2. Aufl. (Rom, 1905), S. 92ff. Weiteres in Vollmöllers Jahresbericht VI, 1 (1905), S. 453ff.

S. 537. Grillparzer: Werke XV, 159 Cotta.

S. 540ff. Die Geschichte des lateinischen Prosastils hat mit weitem Blick E. Norden dargestellt, die antike Kunstprosa, 2 Bände (Zweiter Abdruck Leipzig, 1909); hier ist auch im zweiten Anhang die Rhythmisierung der Prosa behandelt.

S. 540. Über Ennius: Skutsch in Pauly-Wissowas Realenzyklopädie, Bd. V (Stuttgart, 1905), 2589ff.

S. 542. Vergils Stil: Skutsch, Aus Vergils Frühzeit (Leipzig, 1901), S. 65 und besonders E. Nordens Kommentar zu Aeneis Buch VI (Leipzig, 1903).

S. 544. Rhetorenschulen: L. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms (Leipzig, 1910), IV⁸ 15ff.

S. 545. Die schon in den früheren Auflagen gegebene Verknüpfung von Martial und Seneca ist neuerdings überraschend gerechtfertigt worden durch Friedrichs Nachweis, daß Martial Stoff und Pointen seiner Epigramme gar nicht selten aus Seneca entlehnt (Hermes Bd. 45 S. 583 ff.).

S. 546. Sog. „afrikanisches“ Latein: Norden, Kunstprosa S. 588ff.; Kroll, Rheinisches Museum 52, 569ff.

S. 547. Tertullian: Hoppe, Syntax und Stil des Tertullian (Leipzig, 1903).

S. 548. Sprache der Bibelübersetzungen: H. Rönsch, Itala und Vulgata (Marburg, 1869).

S. 549. Die Zeitbestimmung der Aetheria, der Verfasserin der Peregrinatio ad loca sancta, nach K. Meister, Rheinisches Museum 64, 337ff., die des Commodian nach Brewer, Kommodian v. Gaza (Paderborn, 1906) und Scheifler, Quaestiones Commodianeae (Breslau, 1908).

S. 550ff. Die gesprochene Sprache (auch Alltagssprache, Umgangssprache u. ä. genannt), besonders in ihren Beziehungen zum Romanischen: W. Meyer-Lübke in Gröbers Grundriß der Romanischen Philologie I² (Straßburg, 1905), S. 451ff.

S. 553. Albanesisch: Gust. Meyer, Etymologisches Wörterbuch der albanesischen Sprache (Straßburg, 1891).

S. 553f. Lateinische Worte im Griechischen: L. Hahn, Rom und Romanismus im griechisch-römischen Osten (Leipzig, 1906). Vgl. A. Thumb, Die griechische Sprache im Zeitalter des Hellenismus (Straßburg, 1901), S. 152ff. – Lateinische Worte im Deutschen: F. Kluge in Pauls Grundriß der Germanischen Philologie, I² (Straßburg, 1901), S. 327ff. und in der Einleitung zu seinem Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache⁷ (Straßburg, [565] 1910); populär F. Seiler, Die Entwicklung der deutschen Kultur im Spiegel des deutschen Lehnworts, 2 Teile (Halle, 1895 u. 1900). Über die Mangel: Reuleaux, Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, 1885, S. 24 (s. dagegen Meringer, Indogerm. Forschungen XXI 282).

S. 555 f. Die lateinischen Lehnworte in den modernen Sprachen hat zu sammeln versucht A. Hemme, Das lateinische Sprachmaterial im Wortschatze der deutschen, französischen und englischen Sprache (Leipzig, 1904).

S. 556f. Über den Einfluß des lateinischen Stils auf die modernen Sprachen gibt es nur ganz versprengte Literatur. Einiges bei Brenous, Etude sur les hellénismes dans la syntaxe Latine (Paris, 1895), S. 32ff., für das Deutsche bei F. Kluge, Von Luther bis Lessing, Sprachgeschichtliche Aufsätze⁴ (Straßburg, 1904). Die Translatzen des Niklas von Wyle sind abgedruckt in der Bibliothek des Literarischen Vereins zu Stuttgart Bd. 57; vgl. Palleske in der Festschrift des Realgymnasiums zu Landeshut (1910).

S. 558. L. Traube, Einleitung in die lateinische Philologie des Mittelalters, herausgegeben von P. Lehmann (Vorlesungen und Abhandlungen, zweiter Band), München, 1911.