Textdaten
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Autor: Anton Pawlowitsch Tschechow
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Titel: Die Hexe
Untertitel:
aus: Von Frauen und Kindern, S. 77–97
Herausgeber: Alexander Eliasberg
Auflage: 1. – 5. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1920
Verlag: Musarion
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Erscheinungsort: München
Übersetzer: Korfiz Holm
Originaltitel: Ведьма
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
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[77]
Die Hexe

[79] Die Nacht war hereingebrochen. Der Küster Ssawelij Gykin lag in seiner Wächterhütte bei der Kirche in dem riesigen Bett und konnte nicht schlafen, wenn er auch gewöhnt war, immer mit den Hühnern einzuschlafen. Unter dem einen Rande der schmierigen, aus verschiedenfarbigen Kattunflicken zusammengestoppelten Bettdecke schauten seine fuchsigen, struppigen Haare hervor, unter dem anderen seine großen, lange nicht mehr gewaschenen Füße. Er horchte… Sein Wächterhäuschen war direkt in die Friedhofmauer eingebaut, und sein einziges Fenster ging aufs freie Feld hinaus. Draußen tobte ein richtiger Krieg. Schwer war’s zu verstehen, wer dort einem andern das Lebenslicht ausblasen wollte, und zu wessen Untergang der Wirrwarr in der Natur sich zusammenballte. Aber nach dem unerbittlichen, bösartigen Geheul schien es einem ans Leben zu gehen. Irgendeine sieghafte Kraft verfolgte einen und jagte ihn übers Feld, toste im Walde und ratterte mit dem Kirchendach, schlug mit harten Fäusten ans Fenster, fegte dahin und heulte, und irgend etwas Besiegtes winselte und weinte… Das klägliche Weinen ertönte bald vor dem Fenster, bald über dem Dach, dann wieder im Ofen. Es war kein Ruf nach Hilfe darin, nur Trauer und die Erkenntnis, daß es schon zu spät, daß keine Rettung mehr möglich war. Die Schneewehen überzogen sich mit einer dünnen Eisrinde; auf ihnen und an den Bäumen zitterten Tränen, auf den Wegen und Pfaden floß eine Brühe aus Schmutz und geschmolzenem Schnee. Mit [80] einem Wort, auf der Erde war Tauwetter, aber der Himmel sah es nicht durch die Finsternis und schüttelte aus aller Kraft Klumpen von Neuschnee auf die tauende Erde… Und der Wind jagte taumelnd daher, wie ein Betrunkener. Er erlaubte diesem Schnee nicht, sich auf die Erde zu legen, und drehte ihn in der dunkeln Luft in tollen Kreisen herum, wie er wollte.

Gykin horchte auf diese Musik und zog die Stirn kraus. Die Sache war die, daß er wußte oder wenigstens erriet, was dieser ganze Spektakel für einen Zweck hatte und wessen Hände dieses Werk zusammengebraut hatten.

„Ich wei–eiß!“ murmelte er und drohte unter der Bettdecke jemandem mit dem Finger. „Ich weiß alles!“

Am Fenster saß auf einem Hocker die Küsterin Raissa Nilowna. Die blecherne Lampe goß, gleichsam schüchtern und ihrer eigenen Kraft nicht recht trauend, ein mageres und zuckendes Licht auf ihre breiten Schultern, die hübschen, appetitlichen Rundungen ihres Körpers und die dicke Flechte, die den Fußboden erreichte. Die Küsterin nähte Säcke aus grobem Leinen. Ihre Hände rührten sich flink, ihr ganzer Körper, der Blick ihrer Augen, die Brauen, die vollen Lippen, der weiße Hals waren wie erstorben, versunken in die eintönige, mechanische Arbeit, und schienen zu schlafen. Hin und wieder nur hob sie den Kopf, um ihren ermüdeten Hals auszuruhen, schaute flüchtig nach dem Fenster, hinter dem das Unwetter toste, und beugte sich wieder über das Leinen. Keine Wünsche, nicht Trauer, nicht Freude – nichts drückte ihr hübsches Gesicht mit der Stutznase und den Grübchen in den Wangen aus. So drückt ein hübscher Springbrunnen nichts aus, wenn er nicht springt.

Jetzt aber hat sie einen Sack fertig. Sie wirft ihn beiseite, [81] dehnt sich behaglich und läßt ihren trüben, unbeweglichen Blick auf dem Fenster haften… Auf den Scheiben flossen Tränen und schimmerten kurzlebige Schneeflocken. Eine Flocke fällt aufs Glas, sieht die Küsterin an und zerrinnt.

„Komm schlafen!“ knurrte der Küster.

Die Küsterin schwieg. Aber auf einmal bewegten sich ihre Wimpern, und in ihren Augen blitzte Aufmerksamkeit. Ssawelij, der die ganze Zeit unter der Decke hervor den Ausdruck ihres Gesichts beobachtet hatte, steckte den Kopf heraus und fragte:

„Na?“

„Nichts… Ich glaub’, da kommt einer gefahren…“ antwortet die Küsterin ganz leise.

Der Küster stieß die Decke mit Händen und Füßen von sich, kniete sich im Bett auf und starrte auf seine Frau. Das schüchterne Licht des Lämpchens beleuchtete sein haariges, pockennarbiges Gesicht und fiel auf seinen verfilzten, zotteligen Kopf.

„Hörst du?“ fragte die Frau.

Durch das eintönige Geheul des Unwetters vernahm er einen dünnen, metallischen Klageton, den das Ohr kaum einfangen konnte. Es klang wie das Summen einer Mücke, die sich einem auf die Backe setzen will und böse ist, weil sie verscheucht wird.

„Das ist die Post,“ knurrte Ssawelij und hockte sich auf die Fersen.

Drei Werst von der Kirche führte die Poststraße vorbei. Wenn Wind ging und er von der großen Straße her nach der Kirche stand, konnten die Bewohner des Wächterhäuschens die Glocken hören.

[82] „Herrgott, auch ein Vergnügen, bei dem Wetter zu fahren!“ seufzte die Küsterin.

„Das ist der Dienst. Da heißt’s: ob du willst oder nicht, fahr’ los!“

Der Ton schwebte in der Luft. Dann erstarb er.

„Vorbei!“ sagte Ssawelij und legte sich nieder.

Aber noch hatte er den Kopf nicht unter die Decke gesteckt, da drang der Ton der Glocke deutlich an sein Ohr. Der Küster blickte erregt auf seine Frau, sprang aus dem Bett und ging mit wiegenden Schritten am Ofen vorbei. Die Glocke tönte einen Augenblick, dann erstarb der Ton wieder, wie abgerissen.

„Nichts zu hören…“ brummte der Küster, blieb stehen und blinzelte zu seiner Frau hinüber.

Aber gerade da klopfte der Wind ans Fenster und trug den dünnen, metallischen Klageton… Ssawelij wurde bleich, räusperte sich und schlorrte wieder mit den bloßen Füßen über den Boden.

„Die Post hat sich verirrt!“ knirschte er, boshaft auf seine Frau schielend, „hörst du’s? Die Post hat sich verirrt! … Ich … weiß schon! Glaubst du, ich … ich begreif’ es nicht?“ knurrte er, „ich weiß alles, hol’ dich die Pest!“

„Was weißt du?“ fragte leise die Küsterin, ohne den Blick vom Fenster zu wenden.

„Das weiß ich, daß das alles dein Werk ist, du Teufelsmensch! Dein Werk, hol’ dich die Pest! Dies Unwetter, und daß die Post sich verirrt hat, das hast du angerührt! Du!“

„Du bist ja übergeschnappt, Dummkopf…“ bemerkte die Küsterin ruhig.

„Ich merke das schon lange an dir! Als wir geheiratet hatten, [83] hab’ ich’s am ersten Tag gemerkt, daß du Hündinnenblut im Leibe hast!“

„Pfui!“ sagte Raissa verwundert und schlug ein Kreuz. „Willst du wohl ein Kreuz schlagen, Trottel!“

„Hexe bleibt Hexe,“ fuhr Ssawelij mit dumpfer, schluchzender Stimme fort und schnäuzte sich hastig in einen Hemdzipfel. „Wenn du auch meine Frau bist, wenn du auch geistlichen Standes bist, ich sag’ es dir ins Gesicht, was du für eine bist… Du lieber Gott! Sieh darein, Herr im Himmel, und erbarme dich meiner. Voriges Jahr am Tage des Propheten Daniel war ein Unwetter und – nicht wahr? Der Werkmeister kam, sich zu erwärmen. Und dann am Tage des heiligen Alexius, des Mannes Gottes, fing der Eisgang an, und der Böse brachte den Unteroffizier her… Die ganze Nacht hat der Verfluchte mit dir geschwätzt, und wie er am Morgen herauskam und ich ihn anguckte, da hatte er Ringe unter den Augen und ganz hohle Backen! He? Um Ostern gab es zwei Gewitter, und beide Male kam der Jäger zum Uebernachten her. Ich hab’ alles gesehen, hol’ ihn die Pest! Alles! Oh, du bist rot geworden, wie ein Krebs! Aha!“

„Nichts hast du gesehen…“

„Na ja! Und diesen Winter, vor Weihnachten, am Tage der zehn Märtyrer auf Kreta, als das Unwetter Tag und Nacht anhielt… weißt du noch? – verirrte sich der Schreiber des Adelsmarschalls und kam hierher, der Hund… Und du hast dir noch was eingebildet! Pfui, auf einen Schreiber! Das verlohnte sich, seinetwegen das himmlische Wetter aufzurühren! Der Teufel, die Rotznase, so hoch von der Erde, die ganze Fresse voll Finnen, und mit so einem schiefen Hals… [84] Wär’ er ein hübscher Kerl gewesen, meinetwegen, aber so – pfui! Satan!“

Der Küster holte Atem, rieb sich die Lippen und horchte. Die Glocke war nicht zu hören, aber der Wind rappelte unter dem Dache, und im Dunkel, das durchs Fenster hereinsah, stöhnte es.

„Und jetzt wieder!“ fuhr Ssawelij fort, „ich weiß, warum sich die Post verirrt hat. Du darfst mir in die Augen spucken, wenn die Post nicht dich sucht! Oh, der Teufel kennt sein Geschäft, er ist ein guter Spießgeselle. Er führt sie um, führt sie um und führt sie hierher. Ich wei–eiß! Ich se–eh’s! Mich betrügst du nicht, Teufelsschelle, Satanswollust! Wie das Unwetter losging, hab’ ich gleich deine Gedanken gewußt!“

„So ein Dummkopf!“ lachte die Küsterin. „Was? Du meinst in deinem dummen Verstand, ich mach’ das Unwetter?“

„Hm… Lach’ nur! Ob du’s bist oder nicht; das weiß ich: wie das Blut in dir zu spielen anfängt, ist auch das Unwetter da, und wie das Unwetter da ist, trägt’s auch irgendeinen dummen Kerl hierher. Jedesmal geht es so! Also wirst du’s wohl sein!“

Der Küster legte einen Finger auf die Stirn, um überzeugender zu wirken, drückte das linke Auge zu und sagte in singendem Tonfall:

„O Unverstand! O verfluchte Judasbrut! Bist du wirklich ein Mensch, und keine Hexe, hättest du dir’s doch in deinem Stande überlegt und dir gesagt: und was dann, wenn das gar kein Werkmeister war, und kein Jäger, und kein Schreiber, sondern der Teufel in ihrer Gestalt? He? Hättest du dir das nur überlegt!“

„Ach, du bist ja dumm, Ssawelij,“ seufzte die Küsterin und sah ihren Mann mitleidig an, „als der Vater noch lebte [85] und hier wohnte, da kam allerlei Volk zu ihm, um sich vom Zitterkrampf kurieren zu lassen: Leute aus dem Dorf und den Vorwerken und Armenier aus ihrem Lager. Denk’ mal, jeden Tag kamen Leute, und keiner hat sie für Teufel angeredet. Aber wenn jetzt alle Jahre einmal beim Unwetter einer kommt, sich zu wärmen, denkst du dir schon gleich allerlei in deinem dummen Kopf.“

Die Logik seiner Frau machte Eindruck auf Ssawelij. Er spreizte die nackten Beine, senkte den Kopf und dachte nach. Er war von seinen Vermutungen noch nicht fest überzeugt, und der offene, gleichmütige Ton der Küsterin hatte ihn ganz aus dem Konzept gebracht, aber nichtsdestoweniger schüttelte er nach einigem Nachdenken den Kopf und sagte:

„Es sind ja keine alten, krummbeinigen Männer, die hier übernachten wollen; nur junge Kerle… Warum das? Und wenn sie sich nur wärmen wollten! Aber sie machen dem Teufel ein Vergnügen. Nein, du Luder, listiger als ihr Weibervolk ist kein Geschöpf auf dieser Welt! Wirklichen Verstand – du lieber Gott! – habt ihr weniger wie ein Star, aber dafür teuflische List – oh, oh, oh! – hilf mir, heilige Mutter Gottes! Hörst du? Da läutet die Post! Das Unwetter hatte kaum angefangen, da wußte ich schon alle deine Gedanken! Behext hast du sie, du Spinne!“

„Warum läßt du mich nicht in Ruhe, du Verfluchter?“ Die Küsterin verlor die Geduld. „Warum klebst du an mir wie ein Stück Pech?“

„Nein, ich laß dich nicht in Ruhe, und wenn heute noch, Gott soll uns bewahren, was passiert… paß mal auf! … Wenn was passiert, dann geh’ ich morgen ganz früh nach Djakowo zu Hochwürden Vater Nikodemus und sag’ ihm alles. ‚So und so,‘ sag’ ich, ‚Hochwürden, verzeihen Sie mir [86] großmütig, aber sie ist eine Hexe.‘ – ‚Warum?‘ – ‚Hm, wollen Sie wissen warum? Erlauben Sie… So und so.‘ Und wehe dir, Weib! Nicht allein am jüngsten Gericht, nein, schon in diesem irdischen Leben sollst du gestraft werden! Nicht umsonst sind im Ritual Gebete wider deinesgleichen vorgesehen!“

Plötzlich ertönte am Fenster ein Klopfen, so laut und fremdartig, daß Ssawelij bleich wurde und vor Schreck auf einen Stuhl sank. Die Küsterin sprang auf und wurde auch ganz bleich.

„Um Gottes willen, laßt uns ein, wir müssen uns wärmen!“ ertönte ein zitternder, tiefer Baß. „Wer ist da drin? Habt Mitleid! Wir sind verirrt!“

„Wer da?“ fragte die Küsterin, die Angst hatte, zum Fenster hinauszusehen.

„Die Post!“ antwortete eine andere Stimme.

„Nicht umsonst hast du gehext!“ gestikulierte Ssawelij, „es ist schon so! Ich habe recht… Aber jetzt paß’ mir mal auf!“

Der Küster machte vor dem Bette zwei Luftsprünge, warf sich auf das Pfühl und drehte sich mit wütendem Geschnarche zur Wand. Bald darauf fühlte er die Kälte in seinem Rücken. Die Tür kreischte, und auf der Schwelle erschien eine hohe Männergestalt, vom Kopf bis zu den Füßen beschneit. Und dahinter sah man noch eine ebenso weiße Gestalt…

„Soll ich die Säcke hereinbringen?“ fragte der zweite mit einer heiseren Baßstimme.

„Draußen können sie nicht bleiben!“

Als er das gesagt hatte, begann der erste seine Kapuze aufzuknoten, und als sie nicht gleich aufging, riß er sie sich mit der Mütze zusammen vom Kopf und schleuderte sie ärgerlich an den Ofen. Dann zog er den Mantel aus und begann, ohne [87] Guten Abend zu sagen, im Wächterhäuschen auf- und abzugehen.

Es war ein junger, hellblonder Postschaffner in einem abgetragenen Uniformrock und schmutzigen, roten Schaftstiefeln. Als das Gehen ihn etwas erwärmt hatte, setzte er sich an den Tisch, streckte die Füße von sich, daß sie auf die Säcke der Küsterin zu stehen kamen, und stützte den Kopf auf die Faust. Sein blasses Gesicht mit den roten Flecken darin trug noch die Spuren des soeben durchlebten Schmerzes und der Furcht. Verzerrt vom Aerger, mit den frischen Spuren der kaum überwundenen physischen und seelischen Leiden, mit dem schmelzenden Schnee in den Brauen, dem Schnurrbart und dem rundgeschnittenen Vollbart, war dieses Gesicht doch hübsch.

„Ein Hundeleben!“ knurrte der Schaffner und ließ die Augen über die Wände schweifen, als könnte er noch nicht glauben, daß er im warmen Zimmer war. „Viel hat nicht gefehlt, daß uns der Kuckuck geholt hätte! Wenn euer Licht nicht gewesen wäre, dann würde ich für nichts stehen… Und weiß die Pest, wann das alles mal ein Ende hat! Kein Ziel und kein Ende hat dieses Hundeleben! Wo sind wir denn hingeraten?“ fragte er, den Kopf senkend und die Augen auf die Küsterin heftend.

„Auf den Guljajewhügel, aufs Gut des Generals Kalinowskij,“ antwortete die Küsterin, zusammenfahrend und errötend.

„Du, Stepan,“ wandte sich der Schaffner an den Kutscher, der, einen großen Ledersack auf dem Rücken, zur Tür hereinkam, „wir sind auf den Guljajewhügel geraten!“

„Ja… Hübsch weit!“

Das sagte er so, daß es klang wie ein heiserer, zerrissener [88] Seufzer, dann ging er hinaus und brachte gleich darauf einen kleinen Sack, dann ging er noch einmal hinaus, und diesmal brachte er einen Schaffnersäbel, der an einem breiten Lederbandelier hing und in seiner Form an das lange, flache Schwert erinnerte, mit dem man auf billigen Oeldrucken Judith am Lager des Holofernes stehen sieht. Er legte die Kolli längs der Wand nebeneinander, dann ging er auf den Flur hinaus, setzte sich dort hin und zündete seine Pfeife an.

„Vielleicht trinkt ihr ein bißchen Tee auf die Fahrt?“ fragte die Küsterin.

„Wir haben keine Zeit, lange Tee zu trinken,“ sagte der Schaffner und runzelte die Brauen, „wir müssen uns schnell erwärmen und losfahren, sonst versäumen wir den Postzug. Zehn Minuten wollen wir sitzen, und dann fahren wir. Aber ihr müßt uns, aus christlicher Barmherzigkeit, den Weg zeigen…“

„Die reine Strafe Gottes, so ein Wetter!“ seufzte die Küsterin.

„M–ja… Und ihr selbst? Was tut ihr denn hier?“

„Wir? Wir gehören hierher, zur Kirche… Wir sind von geistlichem Stande… Da liegt mein Mann! Ssawelij, steh’ auf und sag’ Guten Abend! Früher war hier eine Pfarrei, aber vor anderthalb Jahren ist sie aufgehoben worden. Selbstverständlich, als die Herrschaft hier noch lebte, gab’s auch Leute, da lohnte es sich, eine Pfarrei zu haben, aber jetzt, wo die Herrschaft fort ist, sagen Sie selbst, wovon sollte die Geistlichkeit leben, wenn das nächste Dorf Markowka ist, und dahin sind’s fünf Werst! Jetzt ist Ssawelij außeretatsmäßig und… spielt den Wächter. Er muß die Kirche bewachen…“

Und der Postschaffner erfuhr des weiteren, daß Ssawelij [89] sicher eine gute Stelle bekommen hätte, wäre er nur zur Generalin gefahren und hätte sie um ein paar Zeilen an den Bischof gebeten; er wäre nur so faul und ängstlich vor den Leuten, deswegen wäre er nicht zur Generalin gegangen.

„Aber ganz gleichviel, wir gehören doch zur Geistlichkeit…“ fügte die Küsterin hinzu.

„Wovon lebt ihr denn?“ fragte der Schaffner.

„Zur Kirche gehört ein Heuschlag und ein Gemüsegarten. Nur kriegen wir wenig davon…“ seufzte die Küsterin, „der Djadkinsche Pfarrer Nikodemus hat gute Augen, er liest hier zweimal im Jahr, an den beiden Nikolaustagen im Sommer und im Winter, die Messe und nimmt dafür fast alles für sich. Und wer sollte ihm das wehren?“

„Schwindel!“ knirschte Ssawelij. „Vater Nikodemus ist ein heiliger Mann, eine Leuchte der Kirche, und wenn er’s nimmt, ist’s so im Kirchenstatut vorgeschrieben!“

„Hast du einen wütenden Mann!“ lachte der Schaffner spöttisch. „Bist du schon lange verheiratet?“

„Am Fastnachtssonntag waren’s vier Jahre. Früher war mein Vater hier Küster, und nachher, als es mit ihm zu Ende ging, wollte er, daß ich die Stelle erben sollte, und fuhr ins Konsistorium und bat, sie möchten mir irgendeinen unverheirateten Küster als Bräutigam schicken. Und ich hab’ ihn geheiratet.“

„Aha, du hast also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen!“ sagte der Schaffner und sah auf Ssawelijs Rücken. „Die Stelle hast du gekriegt, und die Frau hast du genommen.“

Ssawelij schlug ungeduldig mit dem Fuße aus und drückte sich noch dichter an die Wand. Der Schaffner kam hinter dem Tisch hervor und setzte sich auf den Postsack. Er überlegte [90] einen Augenblick, dann strich er mit den Händen glättend über die Kolli, nahm den Säbel fort und streckte sich aus, einen Fuß ließ er auf den Boden herunterhängen.

„Ein Hundeleben…“ knurrte er, während er die Arme unter seinem Kopf kreuzte und die Augen schloß, „einem schäbigen Tataren wünsch’ ich so ein Leben nicht.“

Bald wurde es still, man hörte nur, wie Ssawelij schnarchte und wie der schlafende Schaffner, ruhig und langsam atmend, bei jedem Atemzug ein dumpfes und gedehntes: K–ch–ch–ch hören ließ… Hie und da knarrte in seinem Halse irgendein Rädchen, oder sein Fuß rührte sich und raschelte am Sack.

Ssawelij kehrte sich auf die andere Seite und schaute sich langsam um. Die Küsterin saß auf dem Hocker, die Wangen in die Hände gestützt und sah dem Schaffner ins Gesicht. Ihr Blick war unbeweglich, wie der eines Menschen, der erstaunt, erschrocken ist.

„Na, was glotzt du?“ zischte Ssawelij wütend.

„Was geht’s dich an? Schlaf!“ antwortete die Küsterin, ohne den Blick von dem lichtblonden Kopf loszureißen.

Ssawelij blies wütend alle Luft aus seiner Brust und drehte sich brüsk zur Wand. Drei Minuten später drehte er sich wieder unruhig um, kniete sich im Bette auf, stützte sich mit den Händen auf das Kissen und sah seine Frau scheel an. Die rührte sich immer noch nicht und schaute auf den Fremden. Ihre Wangen waren bleich geworden, und ihr Blick war in einem seltsamen Feuer entbrannt. Der Küster räusperte sich, rutschte auf dem Bauche aus dem Bett, ging zu dem Schaffner hin und bedeckte sein Gesicht mit dem Sacktuch.

„Warum tust du das?“ fragte die Küsterin.

„Daß ihn das Licht nicht blendet.“

[91] „Dann lösch das Licht doch einfach aus!“

Ssawelij sah seine Frau mißtrauisch an und näherte seine Lippen der Lampe, aber im selben Augenblick fuhr er zurück und schlug die Hände zusammen.

„Na, wenn das keine teuflische List ist!“ rief er. „He! Sag’ mal, gibt’s ein Geschöpf, das schlauer ist, als das Weibergezücht?“

„O du Satan, du langröckiger!“ zischte die Küsterin, die Stirn in Falten gezogen vor Aerger. „Wart’ du nur!“

Und sie setzte sich bequemer und starrte wieder den Schaffner an.

Das machte nichts, daß sein Gesicht zugedeckt war. Sie interessierte weniger das Gesicht, als der ganze Mann, die Neuheit dieses Menschen. Er hatte eine breite, mächtige Brust, hübsche, schmale Hände, und seine muskulösen, geraden Beine waren viel hübscher und männlicher, als Ssawelijs Schwefelhölzer. Die konnte man nicht mal miteinander vergleichen.

„Und wenn ich ein langröckiger, unreiner Geist bin,“ sagte Ssawelij, der einen Augenblick so dagestanden hatte, „aber sie dürfen hier nicht schlafen… Ja… Es ist eine dienstliche Sache, und wir werden zur Verantwortung gezogen, wenn wir sie hier festhalten. Wenn man die Post fährt, muß man sie fahren, schlafen gibt’s da nicht… He, du!“ schrie Ssawelij in den Flur hinaus, „du, Kutscher… wie heißt du? Soll ich euch den Weg zeigen, was? Steh’ auf, wenn man die Post bei sich hat, darf man nicht schlafen!“

Und der wild gewordene Ssawelij lief zum Schaffner und riß ihn am Aermel.

„He, verehrter Herr! Mußt du fahren, so fahre, mußt [92] du nicht fahren, darfst du aber auch nicht… schlafen, das geht nicht.“

Der Schaffner fuhr auf, setzte sich, ließ seinen trüben Blick durch das Wächterhäuschen wandern und legte sich wieder hin.

„Wann willst du denn fahren?“ schlug Ssawelij mit der Zunge Alarm und zog ihn am Aermel. „Deshalb ist es doch eine Post, daß sie zur rechten Zeit ankommt, verstanden? Ich zeig’ euch den Weg.“

Der Schaffner machte die Augen auf. Warm und matt von der Süßigkeit des ersten Schlafes, noch nicht ganz wach, sah er wie in einem Nebel den weißen Hals und den regungslosen, weichen Blick der Küsterin und schloß die Augen und lächelte, als träumte ihm das alles nur.

„Wo sollen sie bei dem Wetter denn hinfahren,“ so hörte er eine weiche Frauenstimme sprechen, „laß sie doch schlafen! Und mög’ es ihnen gut bekommen!“

„Und die Post?“ eiferte Ssawelij. „Wer bringt die Post hin? Bringst du sie vielleicht hin? Du?“

Der Schaffner öffnete wieder die Augen, sah die beweglichen Grübchen im Gesicht der Küsterin, erinnerte sich, wo er war, und verstand Ssawelij endlich. Der Gedanke an die bevorstehende Fahrt in der kalten Dunkelheit lief ihm in kalten Schauern vom Kopf durch den ganzen Körper, und er kroch in sich zusammen.

„Fünf Minuten können wir noch schlafen…“ gähnte er, „zu spät kommen wir sowieso.“

„Aber vielleicht kommen wir noch gerade zur Zeit!“ ertönte die Stimme des Kutschers vom Flur. „Weißt du, das Wetter ist schlecht, und wir können Glück haben, und der Zug hat auch Verspätung.“

[93] Der Schaffner stand auf, reckte sich behaglich und machte sich daran, seinen Mantel anzuziehen.

Als Ssawelij sah, daß die Gäste Anstalten zum Aufbruch machten, wieherte er förmlich vor Vergnügen.

„Hilf mir mal, du!“ rief ihm der Kutscher zu, und hob einen Sack vom Fußboden.

Der Küster sprang ihm bei und trug mit ihm zusammen die Post auf den Hof hinaus. Der Schaffner begann den Knoten in seiner Kapuze aufzubinden. Und die Küsterin sah ihm in die Augen und wollte ihn förmlich in die Seele hineinkriechen.

„Ein Glas Tee sollten Sie trinken…“ sagte sie.

„Ich hätte nichts dagegen… aber die wollen ja fort!“ pflichtete er ihr bei. „Zu spät kommen wir sowieso.“

„Aber bleiben Sie doch!“ flüsterte sie und schlug die Augen nieder und faßte ihn am Aermel.

Der Schaffner hatte seinen Knoten endlich entwirrt und hängte die Kapuze unentschlossen über seinen Arm. Es wurde ihm warm, wie er so neben der Küsterin stand.

„Was für einen… Hals du hast…“

Und er berührte ihren Hals mit zwei Fingern. Und als er sah, daß sie keinen Widerstand leistete, glitt er ihr mit der Hand über den Hals, die Schulter…

„Oh, du…“

„Bleiben Sie doch… Trinken Sie ein Glas Tee.“

„Was machst du da? Du verrücktes Gestell!“ ertönte vom Hof die Stimme des Kutschers. „In die Quere mußt du’s legen.“

„Bleiben Sie doch… Hören Sie, wie der Sturm heult!“

Und ob er schon noch nicht ganz aufgewacht war und die [94] Bezauberung des jungen quälenden Schlafes noch nicht hatte von sich abstreifen können, den Schaffner überwältigte plötzlich ein Sehnen, das einen alle Säcke, alle Postzüge vergessen läßt… alles in der Welt. Erschrocken, gleichsam mit dem Wunsch, zu fliehen, sich zu verstecken, schaute er nach der Tür, faßte die Küsterin um die Taille und beugte sich schon über die Lampe, um das Licht zu löschen, als im Flur Schritte erschollen und der Kutscher sich auf der Schwelle zeigte… Ueber seine Schulter schaute Ssawelij. Der Schaffner ließ schleunigst seine Hände sinken und stand da, als wäre er tief in Gedanken.

„Fertig!“ sagte der Kutscher.

Der Schaffner stand noch einen Augenblick so, dann hob er mit einem Ruck den Kopf, als wäre er jetzt erst richtig erwacht, und folgte dem Kutscher. Die Küsterin blieb allein.

„Na, flink, steig’ auf und zeig’ uns den Weg!“ hörte sie.

Träge begann die eine Glocke zu klingeln, dann die andere, und die metallischen Laute zogen sich in einer feinen, langen Kette dahin, fort vom Wächterhäuschen.

Als sie allmählich verstummten, riß sich die Küsterin von ihrem Platze los und ging nervös im Zimmer auf und ab. Anfangs war sie bleich, dann aber wurde sie feuerrot. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Haß, ihr Atem zitterte, ihre Augen blitzten in wilder, grimmiger Bosheit, und wie sie so wie in einem Käfig hin- und herging, glich sie einer Tigerin, die mit glühendem Eisen gescheucht wird. Einen Augenblick blieb sie stehen und ließ ihre Blicke durch ihr Heim schweifen. Fast das halbe Zimmer nahm das Bett ein. Es zog sich die ganze Wand entlang und bestand aus einem schmutzigen Pfühl, grauen, harten Kopfkissen, der Decke und allerlei [95] schmierigen Lumpen. Das Bett stellte einen formlosen, häßlichen Klumpen dar, beinahe so einen, wie ihn Ssawelij immer auf dem Kopfe hatte, wenn ihn mal die Lust anwandelte, sich die Haare zu ölen. Vom Bette erstreckte sich bis zur Tür, die auf den kalten Flur hinausführte, der dunkle Ofen mit den Töpfen darauf und den Lumpen, die daran hingen. Alles, den soeben fortgegangenen Küster nicht ausgeschlossen, war geradezu unglaublich schmutzig, fettfleckig, verräuchert, so daß der weiße Hals, die feine, zarte Haut der Frau in dieser Umgebung einen ganz seltsamen Eindruck machten. Die Küsterin lief an das Bett und streckte die Hände aus, als wollte sie alles umwerfen und zu Staub zertreten und zerreißen, aber dann, es war, als fürchtete sie sich, den Dreck anzufassen, fuhr sie zurück und begann wieder auf- und abzugehen.

Als Ssawelij nach zwei Stunden beschneit und ermattet heimkam, lag sie schon entkleidet im Bett. Ihre Augen waren geschlossen, aber an dem leisen Zittern, das über ihr Gesicht huschte, merkte er, daß sie noch nicht schlief. Auf dem Heimwege hatte er sich das Wort gegeben, bis morgen zu schweigen und sie nicht anzurühren, aber er hielt es nicht aus, er mußte ihr eins versetzen.

„Umsonst hast du gezaubert: er ist fort!“ sagte er mit schadenfrohem Lächeln.

Die Küsterin schwieg, nur ihr Kinn zitterte. Ssawelij zog sich langsam aus, stieg über seine Frau hinweg und legte sich an die Wand.

„Und morgen sag’ ich es Hochwürden, dem Vater Nikodemus, was du für eine Frau bist!“ sagte er und kroch in sich zusammen.

[96] Die Küsterin drehte sich schnell herum und funkelte ihn mit den Augen an.

„Ich finde schon ohne dich einen Platz,“ sagte sie, „und du kannst dir eine Frau im Wald suchen! Was bin ich denn bei dir für eine Frau? Wenn dir doch einer den Schädel einschlüge! Einen schönen Tölpel hab’ ich auf dem Halse, so ein Faultier, Gott verzeih mir die Sünde!“

„Na, na… Schlaf!“

„Oh, ich Unglückselige!“ heulte die Küsterin los. „Wärst du nicht gewesen, hätt’ ich vielleicht einen Kaufmann geheiratet, oder gar einen Edelmann. Wärst du nicht, könnte ich jetzt meinen Mann lieben! Wenn dich der Schnee doch verweht hätte! Wärst du doch da auf der Landstraße erfroren, du Mondkalb!“

Lange weinte die Küsterin so. Schließlich seufzte sie tief auf und wurde ruhig. Vor dem Fenster wütete noch immer der Schneesturm. Im Ofen, im Schornstein, hinter allen Wänden wehklagte es, aber Ssawelij war es, als wehklagte es in seinem Innern und in seinen Ohren. Heute abend hatte er die feste Ueberzeugung gewonnen, daß seine Vermutungen wegen seiner Frau stimmten. Daß seine Frau im Bunde mit unreinen Mächten Gewalt hatte über die Winde und die Postkutschen, daran zweifelte er nicht mehr im Entferntesten. Aber, und das verdoppelte seinen Kummer, dies Geheimnisvolle, diese übernatürliche, wilde Kraft verlieh dem Weibe, das da neben ihm lag, einen besonderen, unbegreiflichen Reiz, den er früher nie auch nur geahnt hatte. Dadurch, daß er sie in seiner Dummheit, ohne es selbst zu wissen, poetisch machte, wurde sie gleichsam weißer, glatter, unzugänglicher…

„Hexe!“ sagte er unwillig, „pfui, du Ekel!“

[97] Aber dabei wartete er ab, bis sie ruhig wurde und gleichmäßig zu atmen begann, und dann berührte er ihren Nacken mit einem Finger… nahm ihren dicken Zopf in die Hand… Sie merkte nichts… Da wurde er kühner und streichelte ihren Hals.

„Hör’ auf!” schrie sie und schlug ihm mit dem Ellenbogen auf das Nasenbein, daß ihm die Funken aus den Augen stoben.

Der Schmerz im Nasenbein legte sich bald, aber die Tortur dauerte an.