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Autor: W. Belka
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Titel: Auf dunklem Pfade
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Erscheinungsdatum: 1919
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Ein utopischer Abenteuerromanzyklus, welcher die Bändchen 105–110 umfaßt.
Band 108 der Romanreihe Erlebnisse einsamer Menschen.
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[I]
Band 108 Erlebnisse einsamer Menschen Preis 20 Pf.
Band 105 Erlebnisse einsamer Menschen Preis 20 Pf.


Auf dunklem Pfade.
Sie fanden hier ein kleines Grabkreuz.


[1]
Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, (1919.)


Auf dunklem Pfade.
W. Belka.


1. Kapitel.
Krieg im Frieden.

Eine Juninacht, drückend schwül. Am Himmel dichtes Gewölk, über das zuweilen ein heller Schein hinlief von einem Wetterleuchten, das am westlichen Horizont aufzuckte, verschwand, abermals erschien, wieder erlosch – in immer kürzeren Zwischenräumen.

„Das Gewitter wird bald über dem Kanal stehen,“ sagte ein in einen dunklen Leinenanzug gekleideter Mann zu einem Knaben, der dicht vor ihm auf dem etwa ein Meter hohen Turm eines kleinen Unterseebootes saß, während er selbst in der geöffneten Turmluke stand und das Steuer bediente.

Heinrich Wend, ein schlanker Bursche mit dunkelgebräuntem Gesicht, schob den breitkrempigen weichen Ölhut noch mehr ins Genick und erwiderte: „Mag’s doch, Herr Seiffert. Was kann es uns anhaben?!“ Und nach kurzer Pause fügte er sehr lebhaft hinzu: „Ah – da vor uns taucht eine Menge weißer Punkte auf. Das muß die Stadt Suez sein.“

„Freilich, mein Junge. Sie ist’s. Ich werde jetzt mehr die Mitte der Fahrrinne halten. Sehr bald dürften die ersten ankernden Schiffe in Sicht kommen. Es ist nicht gerade nötig, daß man uns bemerkt. Nach dem kleinen Abenteuer im Mittelmeer wollen wir doch etwas vorsichtiger sein.“

Die elektrischen Uferlampen des Kanals spiegelten sich in dem unbewegten Wasser in langen Reflexen wider. Ihr Licht hätte genügt, vom Lande her das [2] U-Boot trotz seiner geringen Bordhöhe erkennen zu lassen. Aber niemand von den Kanalbeamten, die um diese Stunde vor Mitternacht noch tätig waren, achtete auf den schwarzen Schatten, der lautlos mit einer überraschenden Schnelligkeit dahinglitt, hinter sich einen Schwalg nachziehend, der zuweilen sogar die Rückseite des runden Turmes umplätscherte.

Das Lichtmeer der Hafenanlagen von Suez löste sich in einzelne Reihen von leuchtenden Punkten auf, deutete an, wo die Lagerschuppen der großen Handelsfirmen und die Baulichkeiten der Kanalverwaltung sich befanden. Dann tauchten vor dem kleinen U-Boote halb rechts mehrere niedrige riesige Schiffskolosse auf, denen der Kundige schon von weitem die Kriegsfahrzeuge ansah. Es waren fünf große Kreuzer der englischen Auslandsflotte, die nach mehrjährigem Dienst im Indischen Ozean auf der Heimreise begriffen waren.

Seit gestern abend hatte man die Zahl der Wachen auf den Kreuzern verdoppelt und besonders für die Nacht Leute bestimmt, die vorzügliche Augen besaßen. Die Veranlassung zu dieser im Frieden recht ungewöhnlichen Maßnahme war ein Funkspruch gewesen, den ein im Mittelmeer stationierter Torpedojäger, der „Lord Wawerley“, auch den fünf Kreuzern übermittelt hatte: „Vor einer Stunde wurde etwa 100 Seemeilen nördlich von Alexandria ein etwa 12 Meter langes U-Boot gesichtet und angerufen, das, als es keine Flagge zeigte, durch einen vor den Bug gefeuerten scharfen Schuß zum Stoppen aufgefordert wurde, diesem Befehl jedoch nicht nachkam, sondern mit verblüffender Geschwindigkeit über Wasser nach Osten jagte. Die Verfolgung mußte sehr bald aufgegeben werden. Das auf das Boot abgegebene Artilleriefeuer hatte lediglich den Erfolg, daß die Besatzung vom Turm aus zum Hohn offenbar eine rote Flagge schwenkte. Da wir angewiesen sind, die Entwicklung der U-Bootwaffe bei den fremden Marinen auf das sorgfältigste im Auge zu behalten und kein Mittel zu scheuen, uns über Fortschritte auf diesem Gebiet zu [3] informieren, gebe ich diesen Funkspruch aus. – Kapitän Weatcoll.“

Auf dem Kreuzer Medusa, der der Fahrrinne des Kanals am nächsten ankerte, meldete ein Matrose plötzlich dem Wachthabenden ein eigentümlich geformtes Fahrzeug, das soeben in Höhe des Geschwaders vorüberglitt. – Wie durch einen Zauberspruch flammten da auf den fünf Kriegsschiffen gleichzeitig die Scheinwerfer auf. Blendend weiße Strahlenkegel huschten über die Wasseroberfläche hin, vereinigten sich dann auf einem Punkt und ließen das kleine U-Boot nicht mehr los.

„Verd…,“ fluchte der Chemiker Werner Seiffert leise, als diese unerwünschte Lichtflut sein Fahrzeug umspielte. „Junge, das ist die Folge unserer Begegnung mit dem englischen Torpedojäger, glaub’ mir! – Eine nette Überraschung! Da heißt’s auskneifen, sonst –

Ein scharfer Knall zerriß die Luft. Und dicht vor dem dahinschießenden „Delphin“, – so hatte Seiffert sein Boot getauft, das seine ureigenste Erfindung war, schlug ein Geschoß ins Wasser und warf eine haushohe Fontäne auf.

Der Chemiker trat auf der eisernen Treppe, die in den Turm hinabführte, zwei Stufen niedriger, beugte sich über das Schaltbrett mit all seinen Hebeln, Schrauben und Rädern und schob den Zeiger der Maschinensteuerung auf die Höchstgeschwindigkeit. Sofort begannen auch die beiden Seitenschrauben des U-Bootes, die in Vertiefungen des Bodens am Heck lagen, zu arbeiten. Es schien, als mache das kleine Fahrzeug jetzt einen förmlichen Satz nach vorwärts. Gleichzeitig gab Seiffert dem kleinen Steuerrade, das hoch genug im Turm angebracht war, um es auch mit halbem Oberkörper über der Luke bedienen zu können, eine Drehung nach links, so daß der Delphin seinen Kurs änderte und in kurzem Bogen auf das jenseitige Kanalufer zulief, wo ein paar hochbordige Frachtdampfer regungslos ankerten. Hinter dem vordersten dieser Schiffe verschwand der Delphin, bevor die [4] Scheinwerfer das durch ein so einfaches Manöver ihnen entschlüpfte Boot wieder gefunden hatten.

Im Schutze des Frachtdampfers wurden dann die Wasserballasttanks des Delphins so weit vollgeflutet, daß der Turm nur noch halb über die Oberfläche hinausragte. So schlich das U-Boot nun vorsichtig näher an das Ufer heran und folgte diesem mit halber Fahrt, um nicht etwa auf Grund zu geraten, obwohl für ein Fahrzeug von so geringem Tiefgang etwas derartiges kaum zu befürchten war.

Die Scheinwerfer der Kreuzer suchten indessen weiter die eigentliche Rinne des Kanals ab, die durch stetes Ausbaggern vor dem Versanden geschützt wird, eine ebenso kostspielige wie notwendige Maßregel, die durch den sandigen Grund der berühmten Wasserstraße bedingt ist.

Bereits zehn Minuten später ließ der Chemiker den Delphin wieder bis zu der früheren Bordhöhe auftauchen und gestattete auch seinem jungen Gefährten, abermals den Platz auf dem Turm einzunehmen.

Ohne weitere Zwischenfälle gelangte das kleine Boot gegen ein Uhr nachts in das offene Meer und ging dann in einer von Sanddünen eingeschlossenen, engen Bucht vor Anker. Da zu dieser Jahreszeit die Hitze im Roten Meere selbst nachts sehr groß ist, bereiteten die beiden Gefährten sich auf dem Deck des bis zu seiner Höchstgrenze aufgetauchten Delphins ihre Lagerstätten, während noch in der Ferne das über Suez niedergegangene Gewitter mit dumpfem Grollen sich bemerkbar machte.

Während der Chemiker und Heinrich Wend sich der wohlverdienten Ruhe hingeben, wollen wir unseren jungen Lesern in wenigen Worten über deren Person und deren Reiseziel das Nötigste mitteilen.

Werner Seiffert hatte in der ostdeutschen Hafenstadt Heilmünde nach langen Versuchen seinen Delphin ganz im geheimen vollendet und fand sofort Gelegenheit, die Seetüchtigkeit seines Bootes durch eine längere Fahrt zu erproben. Sein kleiner Freund, der als Waise bei einem Onkel, einem früheren Seemann, [5] lebte, hatte diesem auf Betreiben des Chemikers aus besonderen Gründen für kurze Zeit ein Tagebuch entwendet, aus dessen Eintragungen hervorging, daß der Steuermann August Wend durch ein schändliches Verbrechen den Dampfer Najade in seine Gewalt gebracht hatte, um sich dessen Goldladung anzueignen. Aus demselben Grunde hatte der Steuermann aber auch Heinrichs Bruder Karl, der sich auf der Najade als Schiffsjunge befunden hatte, sowie zwei Matrosen namens Jakobsen und Schulk auf einer Insel im südlichsten Teile des Indischen Ozeans ausgesetzt, war dann nach Deutschland zurückgekehrt und hatte in seiner Heimatstadt mehrere Jahre als harmloser Rentner gelebt, um erst einmal über die Geschichte der angeblich untergegangenen Najade Gras wachsen zu lassen, bevor er die von ihm verborgenen Goldschätze von der Kergueleninsel abholte. – All dies ist in einem früheren Bande dieser Sammlung unter dem Titel: „Das Tagebuch des Steuermanns“ ganz ausführlich geschildert worden, während die Bände „Das Gold der Najade“ und „Peter Strupp, der Sträfling“ weitere Einzelheiten über die Schicksale Karl Wends und seiner beiden Leidensgefährten gebracht haben. – Nach diesem kurzen Rückblick können wir den Delphin wieder aufsuchen und zusehen, ob es ihm gelingen wird, die drei Opfer der ruchlosen Habgier des Steuermanns zu retten.




2. Kapitel.
Die Diamanteninsel.

Die sengenden Strahlen der Sonne weckten den Knaben bereits gegen sieben Uhr morgens auf. Leise erhob er sich, um den Chemiker nicht zu stören, der noch tief und gleichmäßig atmete, nahm ein Bad in dem klaren Wasser der Bucht und stieg dann ins Innere des U-Bootes hinab, dessen Räume infolge seiner geringen Abmessungen ebenso niedrig wie eng waren. Nachdem er in der winzigen Kajüte, die gleichzeitig [6] auch Kombüse (Küche) und Schlafraum für beide Insassen des Delphins war, den Morgenimbiß zubereitet hatte, weckte er den Chemiker, der sofort dem Beispiele Heinrichs folgte, sich entkleidete und fünf Minuten um den Delphin herumschwamm. Erfrischt und bester Laune setzte er hierauf ohne Zögern die beiden Motoren des Bootes in Gang und steuerte in das offene Meer hinaus, wo er, sich stets am rechten Ufer, also an der afrikanischen Küste, haltend, mit voller Maschinenkraft gen Süden fuhr.

Der Tag verging, ohne daß man irgend ein größeres Fahrzeug in Sicht bekam. Nur schwerfällige Küstenfahrer, zumeist mit Negern oder Arabern bemannt, kreuzten den Kurs des pfeilschnell dahinjagenden kleinen Tauchbootes. Gegen Abend befand sich der Delphin bereits mitten unter den zahlreichen Dahlak-Inseln, zwischen denen er sich mit unverminderter Geschwindigkeit hindurchwand, um keinen Umweg zu machen. Dem Chemiker lag daran, so schnell wie möglich nach den unwirtlichen Gestaden der Heard-Insel zu gelangen, wo die unglücklichen Opfer des verbrecherischen Steuermanns vielleicht noch immer schmachteten, falls eben nicht der Erlöser Tod sie bereits hinweggerafft hatte.

Auch nach Passieren der Dahlak-Gruppe tauchten immer wieder hie und da im Lichte des früh erschienenen Vollmondes einzelne Eilande auf, die meisten davon nichts als kahle Sandmassen, unfruchtbar und unbewohnt. Erst gegen Mitternacht erklärte der Chemiker dann, man könne mit dieser Tagesleistung zufrieden sein und irgendwo an geschützter Stelle vor Anker gehen.

Da gerade jetzt abermals eine vereinzelte Insel gesichtet wurde, ließ Seiffert den Delphin mit halber Kraft dicht unter Land gehen und sodann in die Ausbuchtung einer schmalen Halbinsel einlaufen, vor der sich eine Sandbank hinzog, so daß Schiffe mit größerem Tiefgang diesen Ort nicht aufsuchen konnten. Man war hier also vor einer Überraschung vom Meere aus ganz sicher, nicht minder auch von der Landseite, [7] da das Eiland ohne Zweifel ganz unbewohnt war. Wiederum schliefen die Gefährten an Deck. Der Mond hatte sich soeben hinter einer dunklen Wolkenwand versteckt, als das stille Wasser des Ankerplatzes des Delphins in jene eigentümliche Bewegung geriet, die ein schnell, aber lautlos schwimmender Mensch durch die Ruderarbeit seiner Gliedmaßen hervorruft. Gleich darauf schob sich ein Arm über die gewölbte Bordwand des Bootes hinweg, und eine Hand tastete nach dem niedrigen, umklappbaren Eisengeländer, welches das Deck abgrenzte. Eine zweite Hand folgte, und nun schwang sich ein völlig unbekleideter Mann, dem um das Gesicht ein verwitterter, langer Bart wuchs, auf den Delphin hinauf und huschte geräuschlos dem Turme zu, dessen Luke offen stand.

In diesem Augenblick erwachte Heinrich, da ihn irgend ein Insekt in die Wange gestochen hatte. Noch halb schlaftrunken richtete er sich ein wenig auf und wurde so gewahr, wie der ungebetene Besucher im Turme verschwand. Erst glaubte er an eine Sinnestäuschung. Dann aber bemerkte er beim Scheine des von der Wolke wieder freigegebenen Nachtgestirns die frischen, nassen Fußtapsen auf dem dunkelgrau gestrichenen Deck, wußte dadurch, daß tatsächlich ein Fremder an Bord sei, rüttelte vorsichtig den Chemiker wach und teilte ihm das Beobachtete mit.

Seiffert sprang sogleich auf die Füße, nahm den stets neben ihm liegenden Revolver in die Rechte und schlich dem Eindringling nach – besser, er wollte hinter dem Unbekannten drein. Dieser hatte jedoch infolge der im Innern des Bootes herrschenden Dunkelheit seinen Plan, sich heimlich mit Lebensmitteln und anderen Dingen zu versorgen, schon wieder aufgegeben und tauchte mit dem Kopf in demselben Moment in der runden Turmluke auf, als der Chemiker ihm folgen wollte.

Dieser rief den Mann in englischer Sprache sehr energisch an:

„Halt – oder ich schieße! – Bleibt stehen – keine Bewegung, sofern Ihr nicht wollt, daß –“

[8] Es muß hier eingeschaltet werden, daß Seifferts englische Sprachkenntnisse gerade nur genügten, um sich leidlich verständlich zu machen. Mithin mußte jemand, der selbst das Englische fließend beherrschte, schon an der Aussprache ungefähr merken, welcher Nationalität der mit der Schußwaffe Drohende war.

Der Chemiker hatte fortfahren wollen: „– daß ich Euch eine Kugel in die Rippen jage!“ Aber der Satz sollte nicht mehr zu Ende geführt werden, denn der Fremde stieß plötzlich ein: „Wetter noch mal – sollte ich mich so täuschen?!“ in reinstem, dialektfreiem Deutsch aus und fügte hinzu:

„Herr – Sie müssen ein Landsmann von mir sein! So wie Sie die englischen Brocken über die Lippen bringen, tut’s nur –“

Seiffert wieder hatte beim Klange dieser Stimme überrascht den Kopf noch mehr gehoben. Diese Stimme kannte er. – Mein Gott – sollte es möglich sein?! Sollte er wirklich hier mitten im Roten Meer einem längst Totgeglaubten begegnen?!

Und so kam’s denn, daß er dem Manne mit dem verwilderten Bart ins Wort fiel: „Richard Kräwel – bist Du’s wirklich?!“ Gleichzeitig schritt er schnell auf den Turm zu.

Der, den er so vertraulich angeredet hatte, tat geradezu einen Satz ihm entgegen, breitete die Arme aus und rief:

„Werner – Du – Du –?!“

Wir wollen die überaus herzliche Begrüßungszene zwischen den beiden Freunden hier übergehen. Bald darauf befand man sich zu dritt unten in der winzigen Kajüte an dem schmalen Klapptisch, und Heinrich Wend baute vor Richard Kräwel alles auf, was der Delphin an leckeren Dingen in seiner Vorratskammer verstaut hatte.

Hören wir, was Kräwel über seine Abenteuer, die keineswegs alltäglicher Natur waren, berichtete. Vorher kurz einiges über seine Person und seine Beziehungen zu Werner Seiffert, dem genialen Erfinder.

Beide waren Studienfreunde. Kräwel hatte [9] gleichzeitig mit Seiffert in Karlsruhe und Charlottenburg Maschinenbaukunde studiert, war dann als Ingenieur ins Ausland nach Marokko gegangen und seit etwa drei Jahren plötzlich spurlos verschwunden. Die Briefe, die der Chemiker dem Freunde geschrieben hatte, waren mit dem Vermerk „Unbekannt, wohin verzogen“ zurückgekommen, und nachher blieben dann auch die Nachforschungen des deutschen Konsulats in Marokko ganz ergebnislos.

Dies alles sollte nun eine merkwürdige Aufklärung finden. Kräwel erzählte in seiner trotz all der überstandenen Leiden recht burschikosen Weise folgendes:

„Ich bin leider stets ein recht leichtsinniges Huhn gewesen. Das weißt Du ja, alter Freund und Zechgenosse. Eines Abends verspielte ich in einem Klub in Marokko mein Hab und Gut bis auf das letzte Hemd sozusagen. Da ich am nächsten Tage eine neue Stellung bei einer anderen Firma in Tunis antreten oder genauer dahin abreisen sollte, da mir ferner das Reisegeld fehlte und mein Kredit überall längst erschöpft war, unterschrieb ich noch in derselben Unglücksnacht angeheitert wie ich war in einer Kneipe einen Wisch, der angeblich nur die Verpflichtung enthielt, bis Tunis Schiffsingenieur auf einem Küstendampfer zu spielen, wofür ich freie Überfahrt haben sollte. Der Mann, der mir dieses Angebot gemacht hatte, war jedoch ein Werber für die Fremdenlegion in Algier. Der Dampfer, ein französisches Schiff, hatte mich kaum an Bord, als ich auch schon merkte, was die Glocke geschlagen hatte. Doch – da war’s eben zu spät. Alle Proteste halfen nichts. Ich wurde in die Legion in Algier eingereiht, spielte dort aus Schlauheit dann den in sein Schicksal völlig Ergebenen, wurde nach einem halben Jahre für einen Ersatztransport nach der französischen Kolonie Cochinchina bestimmt, sprang aber während eines Sturmes hier im Roten Meer, der das Transportschiff bis dicht an diese Insel trieb, über Bord und erreichte auch glücklich den Strand. Meine tollkühne Flucht war bemerkt worden. Die Wachen hatten hinter mir drein geschossen. Das Pulver [10] hätten sie nicht so zwecklos verschwenden sollen! Die See ging haushoch. Da bringt es nicht mal ein Kunstschütze fertig, einen Menschen in den rollenden Wogen zu treffen. Jedenfalls war ich darauf gefaßt, daß der Dampfer, sobald der Sturm ausgetobt hatte, zurückkehren und nach mir suchen würde.

Diese Insel nun ist umfangreicher, als es scheint. Dieser Teil hier ist nur der Kopf ihrer spinnenförmigen Gestalt. Der dicke Leib – der Hauptteil, hat einen Durchmesser von fast einer Meile, ist im Innern stellenweise mit Dickicht bedeckt, besitzt einen durch eine Quelle gespeisten Teich und außer verschiedenen Vogelarten als weitere Bewohner eine Hasenart, die ich bei einer Reise durch Arabien bereits kennen gelernt hatte. – Nun – die Franzosen kamen wirklich und krempelten die ganze Insel um, wollten mich Wertstück durchaus wiederhaben und benutzten sogar zwei einem Offizier gehörige Schweißhunde zu dieser Menschenjagd. Daß ich mitten in dem flachen Teiche hockte und mir um den Kopf eine hübsche, unauffällige Sumpfpflanze geschlungen hatte, ahnten sie nicht. Nachdem sie zwei volle Tage in der Hitze hier geschmort und die Insel immer wieder durchstreift hatten, nahmen sie wohl an, ich sei in den Wellen umgekommen und – zogen Leine! Es war auch höchste Zeit, denn mein Magen glich bereits einem leeren Wasserschlauch! – Gelegentlich will ich Dir, mein Freund und Retter, genauer schildern, wie ich dann hier als Robinson gehaust habe. – Ich sehe Deinem fragenden Gesicht deutlich an, daß Du nicht recht begreifst, weshalb ich denn so lange auf diesem Eiland geblieben bin. Gewiß – ich hätte von hier wieder in kultivierte Gegenden zurück können. Aber – diese Insel hat nämlich – na sagen wir – einen Haken, der mich festhielt und mich geduldig auf ein deutsches Schiff warten ließ. Freilich – zu dieser Geduld gehörte eben eine Natur wie die meinige, die in allem Absonderlichen und Abenteuerlichen die einzige Befriedigung findet. – Und der „Haken“, willst Du fragen? – Höre und staune: Diamanten – Edelsteine, große und kleine, die in einem [11] langen Tale der Insel im Sande vorkommen und die ich ganz zufällig etwa einen Monat nach meiner Landung hier bemerkte. Ich wurde also Diamantensucher! Noch mehr – in meiner in einem Dickicht in der Nähe des Teiches versteckten Hütte richtete ich mir eine Diamantenschleiferei ein. Je zahlreicher meine wertvolle Sammlung an Edelsteinen wurde, desto – ehrgeiziger wurde ich! Ich betone: ehrgeizig, nicht habgierig. In meiner Einsamkeit hier und trotz all der Entbehrungen schwebte mir stets ein großer Gedanke vor: Ich wollte nach Deutschland als Krösus zurückkehren und dann dort mit Hilfe meiner Schätze den allgemeinen Wohltäter in einem Maßstabe spielen, gegen den selbst die gemeinnützigen Stiftungen amerikanischer Nabobs klägliche Kollektenzeichnungen sein sollten. – In diesen Jahren wuchs mein Reichtum tatsächlich ins märchenhafte. Seit zwei Monaten aber warte ich nun doch voller Sehnsucht auf ein Schiff, das mich mitnehmen sollte, mich und meine Schätze, deren Wert in die Milliarden geht – ohne Übertreibung! Es sind Steine in meiner Sammlung vorhanden, die nur ein Liebhaber bezahlen könnte. Steine von der Größe eines Taubeneis und darüber! – Das Schiff mußte ein deutsches sein. Keinem von fremder Nationalität hätte ich mich anvertraut. Die Habgier ist leicht geweckt. Und es sind schon Leute wegen Diamanten von geringerem Wert ermordet worden. Es hieß also für mich weiter geduldig hier ausharren, obwohl ich seit Wochen mich nur noch aufs kümmerlichste ernährt habe, nachdem die Hasen von mir nach und nach fast ganz ausgerottet, besser – verspeist waren. Auch mit meiner Kleidung haperte es zuletzt sehr. Wenn ich hier an Bord im Naturgewand erschien, so brauchst Du Dich deswegen nicht zu wundern, mein alter Werner! Ich trage jetzt nämlich Alltags und Sonntags nur denselben – Lendenschurz, geflochten aus Baumfasern.“

Diese Schilderung hatte Richard Kräwel sehr oft unterbrochen, da er dabei mit wahrem Heißhunger all den Leckereien zusprach, die er nur noch dem Namen [12] nach kannte. Jetzt war er satt, rauchte sich mit Behagen eine Zigarre an und schaute ganz stolz an sich herunter, denn er trug ja nun einen der Leinenanzüge des Chemikers und sogar dazu ein feines Hemd aus weicher Bastseide.

Inzwischen war der neue Tag angebrochen. Seiffert erklärte, nachdem er nun auch selbst den Freund über Zweck und Ziel dieser ersten Fahrt des Tauchbootes unterrichtet hatte, man solle jetzt sofort die Diamanten an Bord holen und dann die Reise fortsetzen.

Das Hüttchen, das der Ingenieur sich errichtet hatte, war für einen Unkundigen kaum auffindbar. Dicht dabei hatte Kräwel im Sande in zehn Lederbeuteln auf Hasenfellen seine Diamanten verborgen. Seiffert war sprachlos, als er diese Unmenge von kostbaren, tadellos geschliffenen Steinen sah. Milliardenwerte enthielten diese Beutel – das mußte er jetzt selbst zugestehen. – Heinrich Wend wieder, der zum ersten Mal Edelsteine aus nächster Nähe bewundern konnte, stieß einen Ruf hellsten Entzückens aus, denn das prachtvolle Gleißen und Schillern dieser Diamanten, die Kräwel lachend aus einem Beutel auf die Erde schüttete, bot einen zauberhaften Anblick dar.

Der Ingenieur nahm dann Abschied von der Stätte, wo er zwei lange Jahre allein und halb freiwillig den Diamantengräber gespielt und den Sand des reichen Tales Meter für Meter mit unendlicher Ausdauer durchgesiebt hatte, damit ihm auch kleinere Steine nicht entgingen.

Es war mittlerweile doch neun Uhr vormittags geworden, bis der Delphin die Insel verlassen und Kurs auf die Straße von Aden nehmen konnte, die den Südteil der arabischen Halbinsel von Afrika trennt.




3. Kapitel.
Auf den Spuren der Vermißten.

Eine Woche später. – Der Delphin hatte jetzt den Indischen Ozean nach Süden zu durchkreuzt und [13] näherte sich den Kerguelen-Inseln, die bereits hart an der Grenze des Südpolarmeeres liegen und aus einer größeren Insel, dem Kerguelenland und vielen kleineren Eilanden und Klippen bestehen.

Seit zwei Tagen hatte man die bis dahin recht drückende Hitze nicht mehr so erschlaffend gefühlt. Man merkte an Bord des Tauchbootes, daß man anderen, kälteren Regionen sich nahte. Häufige recht kalte Nebel hatten oft die Aussicht versperrt, und als am Morgen des 2. Juli 1899 die dem eigentlichen Kerguelenland vorgelagerten Inseln in Sicht kamen, waren unsere drei Insassen des Delphins sogar gezwungen, die leichten Anzüge gegen wärmere zu vertauschen.

Der Chemiker hatte absichtlich sein U-Boot zunächst nach den Kerguelen gesteuert, da er hier erst den Trinkwasservorrat ergänzen wollte. Wußte er doch nicht, ob er solches auf der Heard-Insel vorfinden würde. Außerdem war es auch nötig, die Motoren des kleinen Fahrzeugs gründlich nachzusehen, da diese in den letzten Tagen wiederholt für kurze Zeit versagt hatten, woran wohl ihre Überanstrengung infolge der schnellen Reise die Schuld trug. Gleichzeitig konnte man dann ja auch feststellen, ob der Dampfer Najade noch in dem Verstecke lag, in das der verbrecherische Steuermann August Wend ihn mit Hilfe der beiden Matrosen, die von ihm nachher zusammen mit seinem Neffen auf der Heard-Insel ausgesetzt waren, hineinbugsiert hatte.

Diese Suche nach den drei unglücklichen Opfern eines gewissenlosen Scheusals war so recht nach dem Herzen Richard Kräwels, der sich inzwischen auch mit Heinrich herzlich angefreundet hatte. Der Ingenieur erwies sich überhaupt als prächtiger Kamerad, dessen Humor den beiden anderen manch frohes Lachen entlockte.

Es gelang dem Chemiker dann auch wirklich, nach den Angaben des Tagebuches des Steuermanns, die er sich gut eingeprägt hatte, jene Riesengrotte zu finden, die von einer schmalen Bucht aus zugänglich war [14] und in der die Najade im Hintergrunde, eingehüllt in tiefes Dunkel, vor Anker lag.

Wir wollen uns hier nicht lange mit der Schilderung der vier Tage aufhalten, während derer der Delphin neben dem Golddampfer festgemacht war und seine Maschinen gründlich in Ordnung gebracht wurden, wobei der Ingenieur wertvolle Hilfe leistete.

Am 7. Juli verließ das U-Boot die Kerguelen wieder und steuerte der noch südlicher gelegenen Heard-Insel zu.

Kein Wunder, daß Heinrich jetzt von nichts anderem sprach als von seinem Bruder Karl und daß er bald den Chemiker, bald wieder den Ingenieur mit Fragen bestürmte, ob sie es für wahrscheinlich hielten, daß die drei Unglücklichen dort auf der unter Eismassen begrabenen Insel noch lebten. Hierauf war schwer etwas zu antworten. Seiffert betonte jedoch stets, daß eine innere Stimme ihm sage, man werde die Gesuchten finden und alles einen guten Ausgang haben.

Als zunächst dann die weißschimmernde, von ewigem Schnee und Gletschereis bedeckte Spitze des höchsten Berges des entlegenen Eilandes in Sicht kam, als man sich dem Ziele der Fahrt mehr und mehr näherte und durch das Fernglas nun erkannte, wie trostlos diese Gestade waren, bis zu denen herab sich die riesigen Gletscher abwärtszogen, als immer häufiger Eisberge und Treibeis den Delphin zu weiten Umwegen zwangen, da verstummte Heinrich ganz und starrte nur mit tieftrauriger Miene auf die weiße Insel, wo es sich entscheiden sollte, ob diese Fahrt vielleicht ganz zwecklos unternommen war.

Der Chemiker ließ den Delphin jetzt nur noch mit halber Kraft vorwärtsstreben. Das Fahrwasser war zu gefährlich. Außerdem war gerade um Mittag ein steifer Südwest aufgekommen, der das Eis immer enger zusammendrückte und die Kanäle zwischen den oft sehr ausgedehnten Schollen schnell verschloß. Etwa ein Kilometer von der Küste entfernt mußte das Boot dann sogar tauchen, um sich der drohenden Umklammerung [15] zu entziehen. Die Lage war recht ungemütlich geworden. Wenn auch die Seekarten für die Heard-Insel an dieser Stelle eine große Tiefe der Küstengewässer angeben, so mußte man doch stets mit Untiefen rechnen, auf denen sich der Delphin leicht hätte beschädigen können. Dank der Umsicht des Führers kam das Boot schließlich in eisfreiem Wasser in einer weit in das Land einschneidenden Bucht an die Oberfläche und wurde dann an einem geeigneten Platze, wo ein Gletscher flach in das Meer sich hineinzog, sicher vertäut.

Vier Uhr nachmittags war’s, als Heinrich als erster auf das weißliche Eis sprang. Es dunkelte bereits stark, und Seiffert erklärte deshalb auch, man könne heute nichts mehr unternehmen, müsse vielmehr den Beginn der Nachsuche auf morgen verschieben.

Der elektrische Ofen erwärmte die kleine Kajüte behaglich, und der Chemiker und Kräwel saßen denn auch gemütlich sich unterhaltend auf ihren Schemeln, ohne zu ahnen, daß Heinrich, der in der Vorratskammer alles Nötige für die Abendmahlzeit hatte herausholen wollen, zum ersten Mal auf eigene Faust und ohne Wissen seiner beiden Freunde sich zu einem Vorhaben[1] entschlossen hatte, das seinem zärtlichen Bruderherzen zwar das beste Zeugnis ausstellte, sonst aber ein unverantwortlicher Leichtsinn war.

Die Vorratskammer lag im Hinterschiff. Als Heinrich dort eine der großen Acetylenlaternen stehen sah, die Seiffert vorsorglicherweise mitgenommen hatte, kam dem vor Ungeduld nach einem schnellen Wiedersehen mit dem Bruder sich sehnenden Jungen plötzlich der Gedanke, sich heimlich an Land zu schleichen und mit der Laterne von einem erhöhten Punkt aus Lichtsignale zu geben, die, wie er hoffte, vielleicht von den drei Bewohnern der Heard Insel, falls sie eben noch am Leben waren, bemerkt werden könnten. Er malte es sich so schön aus, auf diese Weise die armen Unglücklichen herbeizulocken und Seiffert und Kräwel durch deren Erscheinen zu überraschen.

Nachdem er also die Laterne angezündet und sich [16] einen der Pelzröcke, die gleichfalls in der Vorratskammer hingen, angezogen, auch eine Pelzmütze übergestreift hatte, verließ er lautlos den Delphin und wandte sich einem verschneiten Tale zu, das allmählich zu den Abhängen des Bergmassivs des Kaiser Wilhelm-Berges, wie die höchste Erhebung dieser Insel benannt ist, in vielfachen Windungen anstieg. Der Schnee hatte zum Glück eine dicke, hartgefrorene Kruste. Sonst hätte Heinrich wohl schon früher unliebsame Bekanntschaft mit tiefen Spalten und Löchern gemacht, die nur durch den Schnee überbrückt worden waren.

Der Lichtschein der Laterne reichte sehr weit. Der leichtsinnige Junge empfand hohe Freude über die wunderbaren Beleuchtungseffekte[2], die der helle Strahlenkegel auf den weißen Eis- und Schneegebilden hervorrief. Als er dann eine Stelle an der rechten Talseite fand, wo er bequem eine nahe Anhöhe erklimmen zu können hoffte, bog er rechts ab und sah nun dicht vor sich ein sanft abwärts geneigtes Schneefeld, auf dem hie und da das blanke Eis der tieferen Schichten zum Vorschein kam.

Daß er sich auf einem der zahllosen Gletscher der Insel befand, ahnte er nicht. Dann wieder fiel der Schein der Laterne auf einen großen, fast kreisrunden Fleck. Was dieser zu bedeuten hatte, war nur aus nächster Nähe zu erkennen. Heinrich steuerte also unbekümmert darauf zu. Nur ein Eisbuckel trennte ihn noch von dem merkwürdigen, schwarzen Kreise, der sich so scharf von der hellen Umgebung abhob. Der Knabe wollte die Spitze des niedrigen Hügels nun mit einem Satz gewinnen, nahm einen Anlauf, stand auch eine Sekunde oben auf dem schillernden Eisbuckel, suchte das Gleichgewicht wiederzufinden, kam plötzlich ins Gleiten und – schoß in die Tiefe hinab. –

„Wo nur der Junge steckt?!“ meinte der Chemiker zu Kräwel. „Es ist auch so merkwürdig still im Schiff. Sonst, wenn Heinrich in der Vorratskammer herumhantierte, ging’s doch nie ohne Lärm ab.“

[17] „Er ist nun bereits eine Stunde im Hinterschiff, “ nickte der Ingenieur mit einem Blick auf die an der Wand angeschraubte Uhr.

„Eine Stunde?! – Wahrhaftig! – Da muß ich doch –“ und schon war der Chemiker draußen in dem schmalen Gange, der nach der Vorratskammer führte und der auch einige kleinere Maschinen enthielt.

Kräwel stand gleichfalls auf. Auch er war unruhig geworden.

Dann suchten die beiden alten Freunde gemeinsam nach dem Verschwundenen, nachdem Seifert festgestellt hatte, daß eine Laterne, ein Pelzrock und eine Pelzmütze fehlten, was ja mit aller Bestimmtheit auf einen Aufenthalt des Knaben im Freien hindeutete.

Zwei Stunden lang war alles Rufen, alles Umherirren in dem Tale und auf den nächsten Gletschern umsonst. Aus Vorsicht hatten Seiffert und Kräwel sich untereinander durch eine starke Leine verbunden. Jeder trug eine Laterne und einen eisenbeschlagenen Bergstock. Dann entdeckte der Ingenieur, der mit vieler Geduld jetzt die wenigen Spuren verfolgt hatte, die von den Stiefeln des Knaben zurückgelassen waren, jenes runde Eisloch, das auf einige Entfernung wie ein dunkler Fleck aussah.

„Ich kenne doch viele Gletscher in allen Weltteilen, – so etwas wie diese Öffnung hier von so genau trichterförmiger Gestalt habe ich noch nirgends gesehen,“ meinte der Ingenieur kopfschüttelnd.

Die Freunde standen dicht am Rande des Trichters, fest auf die Bergstöcke sich stützend. Seiffert ließ den Lichtschein seiner Laterne über die glatte, feuchtschimmernde Wandung des Loches hingleiten.

„In der Tat eine ganz ungewöhnliche Erscheinung auf einem Gletscher,“ sagte er. „Du meinst also, Heinrich –“

Ein Ruf aus der Tiefe des Trichters machte ihn verstummen.

„Herr Seiffert – Herr Seiffert!“

Und jetzt flammte da unten in der Tiefe ein blendender Strahlenkegel auf.

[18] Wieder des Knaben Stimme: „Herr Seiffert – Sie dürfen nicht auf mich schelten! Ich wußte, daß Sie mich hier suchen würden. Ich habe mich bei dem Sturze gar nicht beschädigt. Sogar meine Laterne blieb heil. Und die Hauptsache: Ich habe hier etwas entdeckt – etwas sehr, sehr Wichtiges. Können Sie sich nicht zu mir hinablassen?“

Die beiden Männer oben packte nun gleichfalls eine nicht geringe Erregung. In aller Eile holten sie nach kurzer Verständigung mit Heinrich von dem Delphin einen eisernen, langen Bolzen, trieben ihn neben dem Loche in das Eis, befestigten eine Strickleiter an dem Bolzen und kletterten dann abwärts, der Chemiker voran.

Der Eistrichter war etwa sechs Meter tief und ging dann in ein Felsenloch über, das wieder der Zugang zu einem natürlichen, engen Tunnel war, der nach etwa fünfzehn Meter in eine Riesenhöhle mündete.

Hier nun hatte Heinrich, der keck in diese unterirdische Welt eingedrungen war, sehr bald deutliche Anzeichen dafür gefunden, daß der dem Tunnel zunächst liegende Teil der Höhle früher einmal bewohnt gewesen sein mußte. Weiter hatte er dann aber auch eine aus Brettern zusammengenagelte Tafel mit einer langen Inschrift bemerkt. Fiebernd vor Spannung hatte er die hingemalten Worte gelesen, hatte schon nach wenigen Zeilen gesehen, daß diese Tafel nichts anderes als ein Lebenszeichen der drei Opfer des schurkischen Steuermanns war.

Nicht nur der drei Opfer! Noch ein vierter Name stand unter der Inschrift. Als auch der Ingenieur Kräwel ihn nun las, rief er voll ungläubigen Staunens aus:

„Peter Strupp – Peter Strupp! Das ist ja mein Kamerad vom[3] 1. Fremdenregiment in Algier, der zur Verschickung nach Neu-Kaledonien schuldlos verurteilt, unterwegs auf höchst raffinierte Weise entfloh! Alle Zeitungen waren voll davon, und in der Fremdenlegion [19] wurde tagelang von nichts anderem gesprochen.“

Der Chemiker legte jetzt seine Rechte herzlich dem Knaben auf die Schulter und sagte, auf die Tafel weisend:

„Eine gütig und weise waltende Vorsehung hat Dein leichtsinniges Unterfangen für uns sehr glücklich gestaltet, mein lieber Junge. Wir wissen nun, daß die vier Unglücklichen, die hier monatelang in den Tiefen der Erde gehaust haben, durch einen Felssturz, der den Trichter und das Felsenloch verstopfte, gezwungen wurden, einen anderen Ausweg aus dieser Höhle zu suchen Sie sind nach dieser Inschrift hier in einen breiteren, scheinbar endlosen Tunnel eingedrungen, der dort hinten im Süden dieser Riesengrotte beginnen muß. Sie taten’s in der Hoffnung, daß sie wieder irgendwo ans Tageslicht gelangen würden. Diese Hoffnung erscheint mir durchaus gerechtfertigt. Hier herrscht eine geringe, immerhin aber bemerkbare Zugluft. Mithin muß diese unterirdische Welt noch einen zweiten, wenn auch noch so fernen Ausgang haben.“ Er schwieg ein paar Sekunden nachdenklich und fuhr dann fort: „Die Entstehung des Trichters dort oben im Gletschereis ist nun auch erklärt. Die warme Luft hier unten hat das Eis allmählich weggetaut und dann auch weiter dafür gesorgt, daß die Öffnung trotz der Bewegung des Gletschers talabwärts, derzufolge das Loch wieder hätte durch die Eismassen verschlossen werden müssen, und trotz der Kälte in ihrer Trichterform erhalten blieb. Fürwahr ein seltsames Spiel der Natur! – Was nun die Bemerkung auf dieser Tafel anbetrifft, daß der Zugang plötzlich verschüttet wurde, so ist die Freilegung des Loches lediglich auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Gletscher eben talabwärts wandern und auf diesem Wege alle Hindernisse forträumen, die sich ihnen in Gestalt von Felsstücken oder Geröllmassen entgegenstellen. Der Gletscher selbst ist es also gewesen, der den Trichter wieder geöffnet, das heißt die Felsmassen mit fortgenommen hat. Dieser Vorgang beweist, wie schnell die [20] Vorwärtsbewegung der Eisströme der Heard-Insel ist. Während zum Beispiel der berühmte Pasterze-Gletscher in Tirol jährlich nur etwa sechs Meter sich vorwärtsschiebt, muß man hier eine weit größere Strecke zurückgelegten Weges annehmen. – Die Hauptsache ist: Wir wissen nun, wo wir die vier einstigen Bewohner der Grotte zu suchen haben. Ohne Säumen werden wir ihnen auf demselben Wege folgen, nachdem wir die nötigen Vorbereitungen getroffen und den Delphin an sicherer Stelle geborgen haben.“ (Die Erlebnisse des Schiffsjungen Karl Wend und seiner drei Gefährten auf der Heard-Insel sind, wie schon erwähnt, im vorigen Bändchen unter dem Titel „Peter Strupp, der Sträfling“ geschildert worden).




4. Kapitel.
Dem Hungertode nahe.

Eine ganze Woche dauerte es noch, bevor die drei Insassen des kleinen U-Bootes zu der abenteuerlichen Wanderung durch den langen Felsentunnel aufbrechen konnten.

Für den Delphin einen sicheren und versteckten Ankerplatz zu finden, war nicht ganz einfach gewesen, da die Gestade der Heard-Insel zunächst überall völlig vereist zu sein schienen, bis man dann eines Tages doch im Westteil eine kleine Bucht entdeckte, wo das Steilufer der Küste frei von Eismassen und an einer Stelle auch grottenartig vertieft war, sodaß das Boot hier durch Ketten vertäut werden konnte, nachdem es bis an den Unterrand des Turmes zum Tauchen gebracht war.

Alles das, was die drei Wanderer mitnehmen mußten, und es war nicht wenig, hatte man auf zwei Tragbahren verstaut, die auf die Weise fortgeschafft werden sollten, daß der mittelste Träger, der häufiger abgelöst werden mußte, stets an beiden Lasten mitzuschleppen hatte.

Inzwischen hatte der Chemiker, um auch diese [21] Möglichkeit nachzuprüfen, bereits durch ein stundenlanges Vordringen in dem Tunnel festgestellt, daß dieser nicht etwa noch auf der Heard-Insel irgendwo mündete, vielmehr durch diesen Probemarsch einwandfrei nachgewiesen, daß der breite, unterirdische Felsengang ohne Zweifel über die Gestade der Insel hinaus unter dem Meere immer weiter gen Süden, also auf die Südpolargebiete zu, verlief. Es war mithin ausgeschlossen, die Gesuchten etwa noch hier auf der Heard-Insel anzutreffen. Man mußte ihnen auf gut Glück folgen, wenn man sie finden wollte.

Daß dieser Plan nicht ganz ungefährlich war, hatten sich Seiffert und der Ingenieur sehr wohl klar gemacht. Sie waren aber Männer, die nicht so leicht vor einem Unternehmen zurückschreckten, weil es ihnen bis zu einem gewissen Grade tollkühn erschien. Nicht leichtsinnig[4] stürzten sie sich in dieses neue Abenteuer, bei dem die größte Gefahr darin bestand, daß der auf den Tragbahren mitgeführte Proviant vielleicht verzehrt war, bevor man den anderen Ausgang erreichte. Dann drohte den Wanderern der furchtbare Tod des Verhungerns, denn an eine Umkehr war ja nicht zu denken, wenn man erst so weit in die Tiefen der Erde eingedrungen war.

Die Lebensmittel, die man mitnahm, reichten bei größter Sparsamkeit für sechs Wochen, mußten also menschlicher Berechnung nach vollauf genügen, da kaum anzunehmen war, daß der Tunnel eine so gewaltige Länge haben sollte, die größer wäre, als die Wegstrecke eines täglich etwa 5 bis 6 Meilen zurücklegenden Menschen.

Als Heinrich kurz vor dem Aufbruch den Chemiker gefragt hatte, wo der Tunnel denn wohl sein Ende haben könnte, hatte Seiffert geantwortet:

„Mein Junge, nimm eine Karte der Südpolargebiete zur Hand, suche Dir die Heard-Insel heraus und schau’ Dir die Inseln an, die als Mündungsorte des Tunnels in Betracht kommen können. Die Auswahl ist nicht allzu groß, obwohl man damit rechnen muß, daß der Tunnel in einer Biegung später nach einer [22] anderen Himmelsrichtung und nicht stets nach Süden verläuft. In erster Linie müssen wir an die der Heard-Insel benachbarte Macdonald-Insel denken. Bis dahin wären wir etwa ein bis zwei Wochen unterwegs – im schlimmsten Falle. Vielleicht – vielleicht stoßen wir dort auf die vier Verschollenen. Meine Ahnungen trügen selten –“

Daß sie diesmal aber trügten, werden unsere lieben jungen Leser sehr bald sehen. Wir wollen im folgenden die unterirdische Wanderung der drei Gefährten nicht allzu genau schildern, sondern nur die Hauptsachen hervorheben, insbesondere auf die Tage näher eingehen, an denen das Leben der kühnen, opferfreudigen Retter schwer bedroht war. –

Am sechsten Marschtage stellte der Chemiker fest, daß man sich jetzt bereits etwa 4500 Meter unter dem Spiegel des Indischen Ozeans befinde, wovon rund 4000 Meter auf die Wassertiefe und 500 Meter auf die über dem Tunnel lagernde Erdschicht kämen. Ferner machte er die Gefährten auf das stete Steigen der Temperatur in dem Felsengange, der eine sehr ungleiche Ausdehnung hatte, aufmerksam und notierte in seinem Tagebuche: Heute um 12 Uhr mittags 8 Grad Wärme.

Am nächsten Tage wieder stieß man auf die ersten Anzeichen dafür, daß die vier Höhlenbewohner vor Jahren denselben Weg genommen hatten: An einer breiten Ausbuchtung sah man drei Konservenbüchsen liegen.

Eine weitere Woche verging ohne bedeutsamere Ereignisse oder Beobachtungen. Dann kam man in eine neue höhlenartige Erweiterung, die sechste bisher, und hier fand man ein kleines Kreuz aus dünnen Kistenbrettern auf einem grabförmigen Steinhügel mit folgender Inschrift:

Georg Schulk, gest. an Entkräftung infolge der Anstrengung dieses Marsches am 21. Dezember 1897.
Ruhe in Frieden!

Daß Seiffert und seine Freunde nach der Auffindung [23] des einsamen, tief im Erdinnern liegenden Grabes in ernster Stimmung ihren Weg fortsetzten, wird nicht weiter wunderbar erscheinen.

Vier Tage darauf traf man auf das erste, schwierigere Hindernis in Gestalt eines Wasserbeckens, das eine mächtige Grotte fast ganz ausfüllte. Das Wasser war süß, d. h trinkbar, wenn auch recht lau. Diesen See zu umgehen kostete infolge der damit verbundenen Kletterpartien manchen Tropfen Schweiß.

Und wieder neun Tage später in einer Tropfsteinhöhle von geradezu zauberhafter Schönheit das zweite Grab, das des Matrosen Jakob Jakobsen, der infolge eines Sturzes von einer der zahlreichen Steinsäulen, die er im Übermut erklettert hatte, gestorben war, wie die Aufschrift des Kreuzes besagte.

Am Ende des ersten Monats der Wanderung waren die drei Gefährten bereits so von Kräften gekommen, daß sie täglich nur noch drei Meilen schafften. Der Tunnel aber zog sich trotz mancher starker Abweichungen von der Hauptrichtung noch immer nach Süden hin. Dies und der Umstand, daß die Wärme bis auf 11 Grad gestiegen war, veranlaßte Seiffert zu der Bemerkung: „Ich begreife dies nicht! Wenn unser Weg diese Richtung beibehält, kommen wir ja in die Gebiete des ewigen Eises des Südpols!“

Worauf Heinrich wißbegierig fragte: „Und wo mögen wir uns jetzt befinden, Herr Seiffert?“

„Jedenfalls bereits jenseits des Südpolarkreises. Könnten wir von dem Punkte hier senkrecht an die Oberwelt steigen, so würden wir meiner Berechnung nach in der Nähe der Kemp-Insel sein, die der Seefahrer gleichen Namens 1833 entdeckte oder besser nur von Bord seines Schiffes aus als hohe, bergige, unter Schnee und Eis begrabene Küste sichtete.“

Abermals verging eine Woche. Die tägliche Marschleistung hatte sich wieder gebessert, da Seiffert seine und seiner Gefährten Widerstandsfähigkeit gegen die Mühsale der Wanderung durch künstliche Mittel, hauptsächlich durch eine bestimmte Art Tabletten, die ebenfalls seine Erfindung waren, gekräftigt hatte.

[24] Die Lebensmittel reichten jetzt bei äußerster Streckung gerade noch für zehn Tage. Dann –

Und dieses „Dann!“, dieses Verhängnis, das stündlich näher rückte, besprachen Seiffert und der Ingenieur eines Nachts, während Heinrich bereits den festen, sorglosen Schlaf der Jugend schlief.

„Wir müssen elend umkommen, müssen!“ meinte der Chemiker dumpf. „Selbst wenn der Tunnel jetzt an die Oberwelt führen sollte, würde uns das nichts nützen. Wir würden uns dann im ewigen Schnee und Eis der antarktischen Zone befinden, würden nichts haben, den Hunger zu stillen, würden bei der für das Klima dort ganz ungenügenden Pelzkleidung auch sehr bald erfrieren.“

„Leider – Du hast nur zu sehr recht,“ erwiderte Kräwel ernst. „Verschweigen wir dies aber dem Jungen, der mir längst ebenso ans Herz gewachsen ist wie Dir! Und – wie wär’s, wenn wir ohne sein Wissen unsere Ration knapper bemessen würden, damit er länger bei Kräften bleibt und vielleicht – vielleicht sich doch noch retten kann, obwohl die Aussicht dazu ja mehr als gering ist.“ Er schwieg und fuhr dann trübe fort: „Aus meinen Plänen, auf meinem Wohltätertraum, den ich mit Hilfe meiner Diamantenschätze verwirklichen wollte, wird nun nichts werden – nichts! Wer weiß, wem der Milliardensegen, der im Vorschiff des Delphins aufgespeichert liegt, nun in den Schoß fällt!“

Und weiter unterhielten sie sich in leisem Flüsterton, ganz ergeben in ihr Schicksal und nur von Trauer darüber erfüllt, daß ihr junger Freund dieses Schicksal mit ihnen teilen sollte.

Sie führten ihr Vorhaben auch wirklich aus und legten insbesondere Dauerzwiebacke, Fleischkonserven und anderes, was sie sich nur am Munde absparen konnten, heimlich in eine leere Kiste. Heinrich merkte nichts von diesem frommen Betrug, da er mit seinen Gedanken stets anderswo war – bei dem Bruder, den er bestimmt bald wiederzusehen hoffte. Seine Lieblingsbeschäftigung war jetzt, sobald man für die [25] Nacht Rast machte, still dazusitzen und vor sich hin zu träumen, wobei er sich mit stets anderen Einzelheiten ausmalte, wie und wo er den Bruder finden und wie sich die Begrüßungsszene abspielen würde.

So vergingen dann auch die letzten Tage vor jenem schicksalsschweren Mittwoch, an dem für die drei Wanderer nur noch (scheinbar – denn die heimliche Proviantkiste enthielt noch allerlei gute Dinge) je zwei große Zwiebacke, eine Büchse Fleisch und eine Büchse Gemüsekonserven vorhanden waren.

Wie immer hatten die Gefährten die Nacht von Dienstag zu Mittwoch an einer geeigneten Stelle gelagert und so lange geschlafen, bis der Chemiker, der mit der Pünktlichkeit einer Weckuhr von selbst aufzuwachen pflegte, eine der Laternen anzündete und dadurch für diese in stete Dunkelheit gehüllte Unterwelt den neu heraufziehenden Tag andeutete.

Und wie immer ließ nun auch der Ingenieur sein gewohntes Kikeriki hören, das für Heinrich das Zeichen zum Aufstehen war. In den letzten Tagen hatte dieser zweibeinige Hahn den Morgen jedoch nur noch recht schwachen Tones begrüßt. Kräwel war jetzt nach derlei Scherzen, über die man im Anfang der Reise herzlich gelacht hatte, wahrlich nicht zu Mute. Dennoch behielt er dieses Morgensignal bei. Galt es doch, Heinrich über den furchtbaren Ernst der Lage hinwegzutäuschen. Man hatte ihm noch gestern mit scheinbar größter Zuversicht erklärt, diese unterirdische Reise würde nun sehr bald ein Ende haben; er solle sich nur keine Sorgen machen, weil der Proviant so gut wie aufgezehrt sei; morgen würde er erfahren, wie man den letzten Teil des Weges zurückzulegen gedenke.

Dieses „Morgen“ war nun da. Während der Chemiker den Spirituskocher anzündete, um den Rest Tee vom Abend vorher etwas zu erwärmen, richtete er an Heinrich das Wort und sagte:

„Mein lieber Junge, weder Freund Kräwel noch ich sind noch genügend bei Kräften, um den Ausgang dieses Tunnels da vor uns in Eilmärschen, zu denen uns der Mangel an Lebensmitteln zwingt, zu erreichen. [26] Daß dieser Ausgang kaum noch zwei bis drei Tagereisen vor uns liegt, dafür gibt es besondere Anhaltspunkte, hauptsächlich die Beschaffenheit der Luft hier. Da es sich hierbei um rein wissenschaftliche Einzelheiten handelt, will ich auf diese Anhaltspunkte nicht weiter eingehen. Jedenfalls haben nun Kräwel und ich beschlossen, daß Du als der kräftigste von uns von hier aus zunächst allein weiter vordringen und erst zu uns zurückkehren sollst, wenn Du die Gesuchten gefunden hast. Damit Du jedoch diese letzte Wegstrecke nicht ohne Proviant zu durchmessen brauchst, habe ich in jener Kiste dort noch einige Lebensmittel bereitgestellt, die Du sämtlich mitnehmen wirst[5]. Wir beide hier werden uns inzwischen mit meinen Nährtabletten begnügen, die für uns noch gut zwei Wochen ausreichen. Wenn wir den letzten gemeinsamen Morgenimbiß – ich meine vorläufig den letzten – eingenommen haben werden, mußt Du sofort aufbrechen. Freund Kräwel wird Dir helfen, alles Nötige in ein Bündel zu schnüren. Ich gebe Dir hier auch noch für alle Fälle ein Dutzend derselben Tabletten mit, die Du jedoch nur bei äußerster Not benutzen darfst.“

Heinrich ahnte nicht, daß seine beiden Gefährten sich für ihn opferten und ihm nur die Möglichkeit verschaffen wollten, vielleicht doch noch die Oberwelt zu erreichen und dem Hungertode zu entgehen. Erst als es ans Abschiednehmen ging und in Seifferts Augen dabei Tränen glänzten, kam ihm eine unsichere Vermutung des wahren Sachverhalts.

Mit der vor der Brust befestigten Laterne, einem schweren Rucksack auf dem Rücken und einem Bergstock in der Rechten machte er sich nun auf den Weg. Ihm war jetzt so merkwürdig bang und schwer zu Mute, als er sich zum letztenmal umdrehte und den Freunden mit der Hand zuwinkte. In Gedanken versunken eilte er den hier gerade recht ebenen Felsengang weiter, fest entschlossen, seine Kräfte bis zum äußersten anzuspannen, um das Ende des Tunnels recht bald zu erreichen und den beiden Zurückbleibenden schleunigst Hilfe zu bringen. Je länger er jedoch über das nachdachte, [27] was sein gütiger Beschützer und Freund ihm zur Begründung dieses Entschlusses, daß er allein den Marsch fortsetzen solle, mitgeteilt hatte, desto langsamer wurden seine Schritte. Was er bisher ohne weiteres als mit den tatsächlichen Verhältnissen in Einklang stehend hingenommen hatte, erschien ihm nun plötzlich voller unlöslicher Widersprüche. – Wo kam zum Beispiel der Proviant her, den man ihm mitgegeben? Und – waren denn Seiffert und der Ingenieur wirklich bereits[6] entkräftet, daß sie diese angebliche Reststrecke von 2 bis 3 Tagesmärschen nicht mehr hätten schaffen können?! Weiter – wenn sie hofften, durch die Nährtabletten sich so lange am Leben zu erhalten, bis er zu ihnen zurückkehrte, – warum waren sie dann überhaupt zurückgeblieben?! Richtiger wäre es doch gewesen, im Vertrauen auf die günstige Wirkung der Tabletten zu dritt der Oberwelt zuzustreben! Der Oberwelt, wo – angeblich! – die Rettung winken sollte! Die Rettung?! – Ja – hatte denn der Chemiker nicht früher nach den vier ersten Marschwochen etwa erklärt, wenn der Tunnel diese Richtung beibehalte, käme man zum Südpol, in das Polargebiet, wo es nichts gäbe als Eis, Schnee, und wieder Eismassen und – Kälte, grimme, ertötende Kälte?! – Und da sollte die Rettung winken?!

Heinrich blieb stehen. Er war wie gelähmt. Seine Gedanken suchten nach einem Ausweg aus diesem Irrgarten von Widersprüchen. Dann – dann dämmerte ihm langsam die Erkenntnis der Wahrheit auf: Seiffert und Kräwel hatten diese letzten Lebensmittel für ihn aufgespart, hatten gehungert, damit er noch ein paar Tage länger als sie sein Leben fristen könne.

Welche Seelengröße, welche Selbstlosigkeit und Opferfreudigkeit sprachen aus diesem Tun. Wo würde man so leicht wohl zwei Männer finden, die so zu handeln imstande waren.

Heinrich setzte sich auf einen flachen Felsblock. Ihm versagten plötzlich die Beine den Dienst, denn noch mehr erkannte er jetzt aus dieser seltenen Handlungsweise seiner Gefährten: daß sie selbst kaum noch [28] darauf rechneten, dem Tode des Verhungerns zu entgehen, daß sie ihn nur zum Weitermarsch bewogen hatten, weil sie dachten, die Vorsehung würde es vielleicht – vielleicht – mit dem Jüngsten von ihnen gnädig meinen.

Aber dieses „Vielleicht“ war eben nichts als ein Wahngebilde, das in nichts zerflatterte, wenn man alle hier mitsprechenden Umstände genau abwog.

Also die Wahrheit: Sicherer Untergang, Hungertod, ein klägliches Ende!

Heinrich schloß unwillkürlich die Augen bei dieser Vorstellung, daß in nicht allzu ferner Zeit seine und seiner Begleiter sterbliche Überreste in diesem endlosen Felsengang verwesen würden.




5. Kapitel.
Das unbekannte Land.

Regungslos saß er da. Wie lange, wußte er selbst nicht. Sein Hirn arbeitete inzwischen mit unheimlicher Schnelligkeit und Genauigkeit. Über die Schwelle seines Gedächtnisses drängten sich allerhand Gestalten, die ihm, soweit seine Erinnerung in seine Kindheit zurückreicht, einst begegnet waren. Zuerst die Eltern – dann der Bruder Karl und liebe Spielgefährten; weiter die Verwandten, darunter der Onkel Steuermann, der für ihn früher stets die interessanteste Persönlichkeit gewesen war. – Und so ging’s fort bis in die Gegenwart hinein – bis zu Werner Seiffert, dem Chemiker, bis zu dem Ingenieur Kräwel.

Sein ganzes Leben durchlebte der Knabe auf diese Weise in kurzer Zeit nochmals mit allen jenen Einzelheiten, die sich seinem Gedächtnis besonders eingeprägt hatten.

Und nun – nun noch dieser Tag, wo er den beiden Gefährten lebewohl gesagt hatte – für immer!

Für immer?! – Nein – das sollte nicht sein. [29] Er wollte mit ihnen gemeinsam sterben, wollte sofort umkehren und sie wieder aufsuchen.

Er öffnet die Augen, steht auf, greift nach dem Bergstock, der seiner Hand entglitten und ein Stück zur Seite gerollt ist. Der suchende Lichtschein der Laterne huscht über den Boden hin. Ah – da ist der Stock. Er hebt ihn auf, stutzt sofort. Der Gewichtsunterschied ist zu groß. Dieser Stock hier ist bedeutend leichter. Er betrachtet ihn genauer. Es ist ein Bambusstock, nicht ganz so lang wie der andere, auch ohne eiserne Spitze.

Ein Bambusstock?! Wie kommt der hierher? – Heinrichs matte Lebensgeister erwachen. Er leuchtet mit der Laterne den gerade an dieser Stelle breiteren Tunnel ab. Vielleicht findet er noch etwas, das auf die frühere Anwesenheit von Menschen – und dies können doch nur Karl und Peter Strupp sein – hindeutet! – Zunächst liegt da rechts der Bergstock. Heinrich nimmt ihn nicht auf, so eifrig ist er, noch etwas anderes zu entdecken. Er geht ein paar Schritte weiter, stutzt, springt vor, bückt sich.

Eine Tafel steht da aus Holz gezimmert, dessen eine, sauber geglättete Seite offenbar mit einem Tintenstift beschrieben ist. – Heinrich nestelt die Laterne von der Brust los, nimmt sie in die Linke, liest – liest –

Der Ingenieur und der Chemiker haben während der drei Stunden, die ihr kleiner Freund nun bereits abwesend ist, schweigend, in Gedanken versunken, dagesessen. Was sollten sie auch sprechen?! Sie wußten, daß der Tod bereits mit seiner Sense zum Streiche ausgeholt hatte, um sie beide hier in dieser Einsamkeit der Erdtiefen niederzumähen. Das brauchten sie nicht noch zu erörtern, daß sie sterben mußten. Sie wußten es. Und genau wie bei Heinrich tauchte auch in ihrer Erinnerung ihr Leben vor ihnen in einer Reihe stets wechselnder Bilder auf.

So schwiegen sie und ließen nur ihr Gedächtnis zu ihnen reden; prüften wohl auch, ob dieses ihr Leben so gewesen, daß es diesen traurigen Abschluß [30] verdient hätte; haderten aber doch nicht mit dem Geschick, blieben ganze Männer auch in dieser Stunde, auch angesichts eines Todes, dessen Schrecken sie, wie sie schon vereinbart, durch eine Kugel selbst abkürzen wollten.

Da hob Kräwel lauschend den Kopf. Auch der Chemiker war aufmerksam geworden, schaute den Freund fragend an.

„Das klang doch wie ein Schrei,“ meinte der Ingenieur. „Der Tunnel führt den Schall ja sehr weit fort. Es kann nur Heinrich gewesen sein, der –“ Er verstummte.

Abermals warfen die Wände des Felsenganges deutlich einen lauten Ruf zurück, der fast wie ein freudiges Hallo! sich anhörte.

Die beiden Männer sprangen auf. In ihren Gesichtern prägte sich die Spannung aus, die sie jetzt beherrschte. Sie sagten sich sehr richtig, daß Heinrich da vorn irgend etwas gefunden haben müsse, das ihn zur Rückkehr veranlaßt hatte.

Dann nahm Seiffert die brennende Laterne. „Komm.“ forderte er Kräwel auf. „Gehen wir Heinrich entgegen. So töricht es vielleicht auch sein mag: Etwas wie Hoffnung ist in mir erwacht –“

Sie eilten vorwärts. Da – abermals ein Ruf, jetzt deutlich zu verstehen: „Hallo, Herr Seiffert, – ich bringe Rettung – Rettung!“

In der Ferne blitzte ein Licht auf – die Laterne des Knaben, der sich den Männern in hastigem Trab näherte. Dann gab’s ein wirres Fragen und Antworten, dann falteten die drei Einsamen, getrieben von demselben hehren Dankgefühl, die Hände, blieben eine Weile stumm.

Und eine Stunde darauf finden wir sie vor der glückverheißenden Tafel, deren Aufschrift lautete:

„In der Annahme, daß vielleicht noch andere denselben Weg gehen werden, den wir beide, zuletzt unter furchtbaren Hungerqualen, zurückgelegt haben, und daß ihnen genau wie uns infolge Mangels an Lebensmitteln [31] die letzte Strecke des Tunnels verderblich werden könnte, sind[7] wir vier Tagesmärsche weit von dem unbekannten Land, in das uns der Felsengang endlich geführt, wieder in diesen eingedrungen und haben in dem Steinhaufen hinter dieser Tafel als einzige Nahrungsmittel, die sich länger halten dürften, dreißig Kokosnüsse sowie stark gesalzenes Dörrfleisch niedergelegt. Sollten wirklich Leute nach uns diese lange Wanderung bis hierher überstanden haben, so werden sie nach vier Tagen dorthin gelangen, wo außer uns beiden bisher keines Menschen Fuß gewandert, wo wir nichts als Eis und Schnee und erstarrende Kälte der antarktischen Region zu finden fürchteten und doch etwas ganz anderes antrafen, – das unbekannte Land, das wir in diesem einen Jahre, seit wir dort leben, kaum zur Hälfte kennengelernt haben, ein Land, so wunderbar, so voller seltsamer Pflanzen, Tiere und Naturerscheinungen, daß wir es Giganten getauft haben. Um denen, die diese Tafel finden, auch den Weg anzugeben, der zu unserer kleinen Niederlassung führt, raten wir, dem Flusse zu folgen, der am Fuße der Berge entspringt, in deren tiefstem Tale dieser Tunnel wieder die Oberwelt berührt. Am rechten Ufer des Flusses, etwa achtzig Meilen von den Bergen entfernt, zieht sich eine Insel hin, die wir aus verschiedenen Gründen als Wohnsitz gewählt haben. Gleichzeitig warnen wir aber auch vor den in diesem Lande vorkommenden, anderswo längst ausgestorbenen Riesentieren, denen man zwar leicht ausweichen kann, die aber doch recht gefährlich werden können. Am sichersten ist es, auf einem Flosse sich der Strömung des Flusses anzuvertrauen. – Denen, die wir vielleicht im Lande Gigantea willkommen heißen dürfen, wird für all die Mühsale der Wanderung durch den Tunnel eine Entschädigung geboten werden, wie sie besser kaum sein kann. Noch vier Tage, müde Pilgerer, und – alle Reize des unbekannten Landes am Südpol liegen vor Euch!

Die beiden Bewohner dieses neuen Reiches:
Peter Strupp und Karl Wend.“

[32] Unseren jungen Freunden und Lesern können wir heute hier noch kurz mitteilen, daß der Chemiker und seine beiden Begleiter das unbekannte Land glücklich erreichten und auch Peter Strupp, den Sträfling, und den Schiffsjungen der Najade auffanden, mit denen vereint sie dann wohlbehalten, wenn auch nach mancherlei Fährnissen, in die deutsche Heimat zurückgelangten, wo ihre Schilderung von den tropischen Gebieten am Südpol wenig Glauben fand. Immerhin machte ein reicher Mann, der durch seine Tiefseeforschungen bereits berühmt geworden war, mit seiner Jacht ein Jahr darauf eine Reise nach der Heard-Insel, konnte hier jedoch von dem Tunnel keine Spur mehr entdecken und erklärte dann in einem in vielen Zeitungen abgedruckten Artikel, es sei jetzt erwiesen, daß die ganze Erzählung der angeblichen Bewohner des Landes Gigantea lediglich deren Phantasie entsprungen sei.

Seiffert und seine Freunde verzichteten auf eine Erwiderung. Wußten sie doch, daß niemand ihnen jetzt Glauben schenken würde, nachdem der einzige Weg nach Gigantea offenbar durch neue Felsstürze versperrt worden war.

Unseren jungen Lesern werden wir in den folgenden Bändchen einen Einblick in die wunderbaren Schönheiten und die seltsame Tier- und Pflanzenwelt dieses Landes geben und auch berichten, wie der verbrecherische Steuermann August Wend ein wohlverdientes Ende fand.


Der nächste Band enthält:



Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.



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