Über die scheinbare Masse der Ionen

Textdaten
Autor: Hendrik Antoon Lorentz
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Über die scheinbare Masse der Ionen
Untertitel:
aus: Physikalische Zeitschrift. 2, 1900/1, S. 78–80
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1900
Verlag: S. Hirzel
Drucker: August Pries
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Google-USA*, Commons
Kurzbeschreibung:
Diskussionsteilnehmer: Wilhelm Wien, Woldemar Voigt und Emil Warburg.
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
H. A. Lorentz (Leiden), Über die scheinbare Masse der Ionen.


Aus den Beobachtungen über Kathodenstrahlen hat man bekanntlich das Verhältnis , das Verhältnis zwischen der Ladung eines Ions und seiner Masse , ableiten können. Es entsteht die Frage, was unter dieser Masse zu verstehen ist. Jedenfalls müssen wir dem Ion eine scheinbare Masse zuschreiben, da es vermöge seiner Bewegung eine gewisse Energie im Äther hervorbringt. Diese scheinbare Masse wollen wir mit bezeichnen. Es ist möglich, dass das Ion ausserdem noch eine wirkliche Masse in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes besitzt; in diesem Falle ist . Ist das nicht der Fall, so ist .

Wir haben also die Ungleichung

wenn eben noch eine wirkliche Masse neben der scheinbaren besteht; andernfalls ist

Wir wollen also schreiben

wobei ist.

Nun ist

wenn man das Ion als eine Kugel auffasst, den Radius dieser Kugel und die Flächendichte der Ladung bedeutet.

Diese Formel gestattet eine interessante Folgerung über den Radius der Ionen. Setzt man nämlich für den soeben angegebenen Wert in die Ungleichung ein, so bekommt man eine Ungleichheit für den Radius. Es ist ja

also

und also

mithin

und

Die Grösse ist unglücklicherweise nicht bekannt. Nimmt man die Ladung eines Ions in einem Kathodenstrahl als ebenso gross an, wie in einem elektrolytischen Wasserstoffion, und geht von der Grösse eines Wasserstoffmoleküls aus, so bekommt man für eine Grösse der Ordnung cm, also jedenfalls nicht eine beliebig kleine Grösse, sondern eine untere Grenze.

Die Frage, ob neben der scheinbaren Masse eines Ions auch noch eine wirkliche Masse desselben besteht, ist ausserordentlich wichtig; denn man berührt damit die Frage nach dem Zusammenhang der ponderablen Materie mit dem Äther und der Elektrizität. Ich bin weit entfernt, eine Entscheidung geben zu können; aber ich möchte hier doch einige Fragen anführen, deren Erledigung möglicherweise auch in jener Frage weiter führen kann.

Die erste Frage ist die, ob ein Ion in einem Magnetfelde rotiert. Eigentlich sollte man das erwarten. Denn ist ein Ion vorhanden, und es wird ein magnetisches Feld hervorgerufen, so wird, wie sich leicht aus der Entstehung von Induktionsströmen ableiten lässt, eine Rotation entstehen. Natürlich wird das ebenso der Fall sein, wenn das Ion in ein schon bestehendes magnetisches Feld hineinfliegt. Die Geschwindigkeit dieser Rotation wird von der Grösse der Masse abhängen; wenn nur scheinbare Masse vorhanden ist, und auch nur ein dieser entsprechendes Trägheitsmoment, so wird die Rotationsgeschwindigkeit einen bestimmten Wert haben. Kommt aber ein wirkliches Trägheitsmoment hinzu, so wird die Rotation langsamer werden. Leider habe ich keine Erscheinung finden können, aus der man irgend etwas über diese Rotation schliessen könnte.

Ein zweites Mittel, wodurch man die Frage nach dem Verhältnis zwischen der scheinbaren und wirklichen Masse vielleicht entscheiden könnte, ist folgendes:

Der Wert für die scheinbare Masse steht oben nur in erster Annäherung. Falls die Geschwindigkeit eine solche ist, dass sie mit der Lichtgeschwindigkeit vergleichbar ist, so kommen noch weitere Glieder hinzu. Bei geradliniger Bahn des Ions kann man die Intensität des Feldes und die Grösse der Energie berechnen und daraus auf den Massenfaktor schliessen. Im allgemeinen wird die Bahn durch den Einfluss des Magnetfeldes krummlinig, z. B. kreisförmig werden; es wird dann die Berechnung des Massenfaktors komplizierter, doch lässt sie sich durchführen. Wenn man mit obigen Ausdruck bezeichnet und für das Verhältnis der Geschwindigkeit des Ions zu der des Lichtes setzt, so ergiebt sich in zweiter Annäherung für die scheinbare Masse des Ions bei geradliniger Bewegung:

während bei kreisförmiger Bewegung das Glied mit einen anderen Koeffizienten erhält.

Diese Glieder zweiter Ordnung, könnten nun vielleicht merklich werden, denn die Geschwindigkeit der Kathodenstrahlen steigt bis auf ein Dritteil derjenigen des Lichtes; es wird dann also und . Um zur Entscheidung zu kommen, könnte man an Versuche denken, wie sie Lenard gemacht hat, um den Einfluss elektrischer Kräfte auf die Geschwindigkeit der Kathodenstrahlen zu untersuchen. Er hat gezeigt, dass die magnetische Ablenkbarkeit der Kathodenstrahlen, die ja um so kleiner ist, je grösser die Geschwindigkeit ist, sich ändert, wenn man die Strahlen den Raum zwischen zwei geladenen Kondensatorplatten in Richtung der elektrischen Kraftlinien durchlaufen lässt.

Man könnte nun die magnetische Ablenkbarkeit messen für den Fall des ungeladenen Kondensators, dann für den Fall der Ladung in der einen Richtung und dann für den in der anderen Richtung. Man würde so drei verschiedene Werte der Ablenkbarkeit bekommen, zwischen denen eine einfache Relation bestehen müsste, wenn die Glieder zweiter Ordnung vernachlässigt werden dürften. Misst man jedesmal die für eine bestimmte Ablenkung erforderliche magnetische Feldstärke, so sollten die Quadrate dieser drei Feldstärken eine arithmetische Reihe bilden. Eine Abweichung von dieser Beziehung würde zeigen, dass die Glieder mit nicht vernachlässigt werden dürfen, und dass also jedenfalls die scheinbare Masse sich bemerklich macht. Genaue Bestimmungen könnten über das Verhältnis zwischen der wirklichen und der scheinbaren Masse, resp. über die Frage, ob eine wirkliche Masse vorhanden ist, entscheiden. Es zeigt sich, dass man bei den Lenardschen Versuchen nahe daran war, über die Existenz der Glieder zweiter Ordnung entscheiden zu können.

(Selbstreferat des Vortragenden.)


Diskussion. (Von den Beteiligten durchgesehen.)

W. Wien. Ich habe mich in der letzten Zeit mit ähnlichen Fragen beschäftigt und möchte hervorheben, dass Lenard Kathodenstrahlen mit kleiner Geschwindigkeit beobachtet hat, die unter dem Einfluss ultravioletten Lichtes ausgelöst waren. Er hat da einen kleineren Zahlenwert für das Verhältnis von Masse zu Ladung gefunden, und zwar liegt die Verringerung in demjenigen Sinne, welchen die Theorie verlangt.

Ich habe versucht, über den Lorentzschen Standpunkt insofern noch hinauszugehen, dass ich mir die Frage vorlegte, ob man nicht überhaupt mit der scheinbaren Masse auskäme und die träge Masse weglassen und durch die elektromagnetisch definierte scheinbare Masse ersetzen könnte, um die mechanischen und elektromagnetischen Erscheinungen einheitlich darzustellen. Denn die magnetischen und mechanischen Erscheinungen sind ja bisher nur durch das Energieprinzip verbunden. Ich habe versucht, die Frage so zu stellen, ob man nicht von der Maxwellschen Theorie aus versuchen könnte, auch die Mechanik zu umspannen. Es wäre so die Möglichkeit gegeben, die Mechanik elektromagnetisch zu begründen, nachdem Lorentz eine Auffassung des Gravitationsgesetzes entwickelt hat, nach welcher dasselbe den elektrostatischen Kräften nahe verwandt wäre. Man hätte dann die Materie anzunehmen als lediglich aus positiven und negativen sehr kleinen Ladungen zusammengesetzt, die in einem gewissen Abstände voneinander liegen. Unter dieser Voraussetzung ist die ponderable Masse nicht konstant, sondern von der Geschwindigkeit abhängig, und zwar bekommt man noch Glieder, welche von geraden Potenzen des Verhältnisses der Geschwindigkeit zur Lichtgeschwindigkeit abhängen. Der Zahlenfaktor, mit welchem das zweite Glied multipliziert ist, hängt von der Krümmung der Bahn ab, ausserdem aber auch von der Gestalt der elektrischen Ladung. Je nachdem man die Form der elektrisierten Molekeln etwas anders wählt, kommt man zu anderen Zahlenfaktoren. Bei den gewöhnlichen irdischen Bewegungen fällt das heraus, weil die Geschwindigkeit sehr klein ist. Bei den planetarischen Bewegungen aber kann man vielleicht etwas herausbekommen; denn da kommt man zu Geschwindigkeiten, bei denen die Glieder zweiter Ordnung zu berücksichtigen sind. Bei der Annahme einer bestimmten Form der Ladung, die zu dem einfachsten elektromagnetischen Felde führt, machen sich diese Glieder in der Weise geltend, dass die Beschleunigungen zweier Körper durch die Gravitation bis auf einen um ein geringes verschiedenen Zahlenfaktor dieselben sind, als ob sich die Körper bei konstanter Masse nach dem Weberschen Gesetze anziehen. Die elektromagnetisch definierte Masse kommt so ins Spiel, als ob nicht das Newtonsche, sondern das Webersche Gesetz gilt.

Lorentz. Im wesentlichen sind wir einverstanden; nur will Wien schon jetzt weiter gehen als ich. Jedenfalls schien es mir von Interesse, dass man sich nach Mitteln umsieht, wodurch man zur Entscheidung über die angeregte Frage kommen kann. Noch eines möchte ich hinzufügen: Ich habe die Annahme gemacht, dass die Kugel, welche ein Ion bildet, starr sei. Aber man könnte vielleicht vermuten, dass bei der Bewegung die Kugel sich in ein Ellipsoid transformieren würde. Das hat einige Ähnlichkeit mit der Verschiedenheit, auf die Wien hinwies.

Voigt. Ich möchte die Frage an den Vortragenden richten, wie es sich mit der Reflektion von Kathodenstrahlen verhält; sollte da nicht ein rotierendes Ion anders reflektirt werden, wie ein nichtrotierendes?

Lorentz. Gewiss, wenn man sich die Reflektion vorstellt als vorsichgehend an einer Fläche. Aber wenn man sich die Reflektion vorstellt, wie es mir näher liegt, als veranlasst durch Kräfte, die bei einiger Entfernung des Ions von der Fläche auftreten, so wirken diese doch wohl auf den Mittelpunkt, und dann fallt der Einfluss der Rotation fort.

Warburg. Was lehrt denn die Theorie über die Geschwindigkeit der Ionen bei der Reflektion? Bleibt sie dieselbe?

Lorentz. Soviel ich weiss, ja. Ich habe nicht darüber gearbeitet.

Warburg. Merritt hat gefunden, dass die Geschwindigkeit bei der Reflektion nicht geändert wird. Aber die Experimente von Cady über die Energie der Kathodenstrahlen stehen hierzu in Widerspruch, so dass ich schon daran gedacht habe, dass die Versuche von Merritt nicht ganz richtig sein könnten, und man vielleicht doch eine Geschwindigkeitsänderung bekommen könnte. Ich wollte fragen, ob die Theorie in dieser Beziehung etwas aussagt.

Lorentz. Das kann ich im Augenblick nicht sagen.

(Eingegangen 30. September 1900.)